Freiheit

E.L. Tankred

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„Du bist frei, Alex.“ Eva lacht kurz, ohne Humor. „Sie hatten nie eine echte Chance, dich legal dranzukriegen. Aber sie haben es trotzdem versucht.“ Die Rechtsanwältin beugt sich vor und mustert Alex erwartungsvoll. „Hast du gehört? Mit der Videoaufzeichnung der Demonstration konnte ich eindeutig belegen, dass du den Verkehr nicht behindert hast.“
Alex ist noch auf die Freiheitsstrafe fixiert, die ihm gedroht hat. Die Freiheit kann er noch nicht fühlen, nur das Adrenalin seiner Verhandlung. Doch es ebbt ab. Die Wärme der Entspannung breitet sich nur langsam in ihm aus, sein Puls beruhigt sich. Erst jetzt nimmt er den Gerichtsaal bewusst wahr. Die Wände wirken kahl, fast steril, als wäre hier nie über sein Leben entschieden worden.
Eva schaut Alex in die Augen, ihre Stimme senkt sich. „Denke immer daran: der Prozess war nur ein Vorwand, um deine Reportagen zu unterbinden. Die Mächtigen fürchten den Tag, an dem ihre verborgenen Namen ins Licht rücken.“ Ihr Blick ist eindringlich. „Du musst deine Unabhängigkeit maximieren.“ Sie hält inne, lässt die Worte wirken. Dann fährt sie fort: „Das hier war erst der Anfang. Das ist dir klar, oder? Die Institutionen der Macht vergessen nicht. Wer an ihren Grundfesten rüttelt, wird zum Problem. Und Probleme lösen sie effizient.“
Ein Kälteschauer läuft Alex über den Rücken. Die Warnung reißt ihn aus der Benommenheit. Sie bringt all die Erinnerungen zurück: Nächtliche Drohanrufe. Anonyme Nachrichten. Jene unauffälligen Männer in dunklen Anzügen, die ihn beobachteten, wenn er aus dem Büro trat.
Alex denkt an seine investigativen Berichte über die geheimen Machenschaften von Unternehmen und Superreichen. Die Bürger demonstrieren gegen die Ausdehnung ihrer Macht. Er war der Auslöser dieser Demonstrationen und die Mächtigen werden das nie vergessen. „Muss ich das Land verlassen?“, blitzt ihm eine Frage durch seine Gedanken.
Er ballt die Hände zu Fäusten. „Ich werde vorsichtiger sein“, sagt er schließlich. Seine Stimme ist ruhig, aber sein Herz hämmert.
Die Monate vergehen und Alex versinkt wieder in seine Arbeit. Im Trott seiner Recherchen verblassen seine Erinnerungen an den Prozess bis eine brisante Entdeckung seine ganze Aufmerksamkeit fesselt: Milliarden von Regierungsgeldern fließen an Nachrichtenagenturen. Die Spur des Geldes belegt, dass die freie Meinungsbildung der Bürger durch Politik und Wirtschaft unterbunden wird. Gerade als er kurz davor steht, seinen Artikel zu veröffentlichen, erhält er drei Briefe, die seine Freiheit betreffen. Mit zitternder Hand übergibt er sie an Eva. Dann heißt es warten, dass sie alles für ihn in Ordnung bringt.
„Ich kann nichts mehr gegen die Kündigungen machen“, sagt Eva. Ihre Stimme ist weniger fest als sonst. Alex spürt das Zittern seiner Hand durch das Smartphone am Ohr. „Sowohl die Kündigung deines Arbeitgebers als auch die deiner Bankkonten sind rechtswirksam. - Wir müssen unsere Taktik ändern.“
„Scheiße, Eva, was soll ich jetzt machen?“ Alex reibt sich mit der linken Hand die Stirn. Sein Körper bebt. Er verlässt sein Arbeitszimmer, streift durch Flur, Küche, Wohnzimmer und möchte weder seine Banksy Kunstdrucke noch seine Möbel missen. Der Gedanke an seinen bevorstehenden Verlust an Lebensqualität, schlägt ihm auf den Magen.
„Ich habe noch Nachschlag für dich.“ Eva wartet auf eine Reaktion. Doch bis auf intensives Atmen hört sie nichts von Alex. „Den Steuerbescheid können wir auch nicht anfechten. Deine Nachzahlung ist fällig.“ Insgeheim bedauert sie jedes Wort, doch sagen kann sie das nicht. Mitleid würde sie nur von ihrem Job abhalten.
Abrupt stoppt Alex neben dem laufenden Fernseher im Wohnzimmer. „Ich bin mittellos“, sagt er mit überschlagender Stimme. „Pleite, verschuldet, am Arsch. Ohne Bankkonto kann ich nicht einmal Spenden sammeln, um das Land zu verlassen.“ Ratlos begutachtet er den Wiederverkaufswert seiner Couch. Im Hintergrund berichten die Nachrichten professionell unbeteiligt über seinen Fall.
Dass seine Freiheit so wenig wert ist, konnte Eva bereits absehen. Alex wird die Freiheit zu teil, die bereits Nelson Mandela, Julian Assange, Alexander Navalny, die kanadischen Trucker während ihrer Proteste in der Corona Zeit und viele andere auf der ganzen Welt vor ihm erfahren mussten. Auch ihre Freiheit war von Sanktionen wie Kontosperrungen geprägt. „Wenigstens konnte ich Alex vor zwei mal lebenslänglich plus vierzig Jahre Gefängnis bewahren“, konzentriert sie sich in Gedanken auf ihren Erfolg. Mit solchen Strafen der Machtdemonstration müssen alle rechnen, die sich für wirklich freie Märkte einsetzen oder diese gar ermöglichen.
„Bargeld“, sagt Alex etwas ruhiger, aber immer noch stark erregt. „Ich könnte die Spenden per Post sammeln.“
„Nicht wirklich. Bargeld kann dir an der Grenze abgenommen werden“, sagt Eva. „Dasselbe gilt für Gold.“ Sie spürt ihr Unwohlsein, weil sie nicht länger nur schlechte Nachrichten überbringen möchte. Lieber würde sie mit überzeugenden Lösungen aufwarten. Doch weil sie keine hat, muss sie es sagen: „Sie warten nur auf dich.“
„Wir werden das Rätsel lösen“, fügt sie bestimmt hinzu. Dann wartet sie auf seine Reaktion. Aber das verstärkt nur ihr Gefühl, ihre Hoffnung begründen zu müssen: „Deine Leser stehen hinter dir. Die Demonstranten sind bereit zu spenden, weil sie die drohenden Sanktionen ebenso fürchten. Wir müssen nur einen Weg finden, das Geld über die Grenze zu bringen. Ich melde mich, sobald ich eine Lösung habe. Ich höre mich um, versprochen. Bis bald.“
Eva hat aufgelegt. Alex lauscht noch eine Weile der Stille des Verbindungsendes, ehe er das Handy beiseite legt und sich schwerfällig auf den Boden sinken lässt. Er erwartet keinen Ausweg mehr.
Einige Wochen verstreichen. Wochen, in denen Alex nichts von Eva hört und seine letzte Hoffnung schwindet. Seine angespannte Mimik gebärt ein unwillkürliches Augenzucken. Aussichtslos, handlungsunfähig und verloren fristet er seine Tage. Dann meldet sich Eva und bittet um ein Treffen.
„Du bist frei“, begrüßt Eva Alex im Park. In der Ferne sehen sie die Obdachlosen: ohne Wohnung, ohne gesundes Essen und ohne Krankenversicherung. Ein Schicksal, dem sich Alex erschreckend nahe wähnt. So hat er sich seine Freiheit nicht vorgestellt. Leere und ein mulmiges Gefühl erfüllen ihn.
„Ernsthaft, Alex“, wiederholt Eva mit einem erleichterten Lächeln. „Du bist frei. Du hast das Geld hinzugehen, wo Du möchtest. Zu Leben wie du möchtest. Du hast sogar die Freiheit, deinen Beruf weiter auszuüben.“ In ihrer Stimme schwingt die Gewissheit mit, dass er es bald versteht.
Sie guckt ihn an. Für einen flüchtigen Moment kräuselt sich seine Nase, begleitet von einem Zusammenziehen der Augenbrauen – als wolle er „Hä?“ fragen. Doch dafür fehlt ihm die Kraft der Zuversicht. Daher erklärt Eva ihm alles.
„Ich habe mir angeschaut, wie Assange, Navalny und die kanadischen Trucker ihre Freiheit verteidigten. Sie brachten mich zu Bitcoin, einem Wertspeicher im digitalen Raum, der keinem gehört und den uns niemand wegnehmen kann.“ Sie drückt ihm einen Zettel in die Hand. „Diese 12 Wörter sind dein Schlüssel zum Geld. Lerne sie auswendig, vernichte den Zettel und verlasse das Land.“ Sie überreicht ihm ein Flugticket nach El Salvador und ein wenig Bargeld für das Nötigste. „Richte dir deinen Bitcoin Zugang erst nach deiner Ankunft ein. Von den Spenden darauf, kannst du zwei Leben führen. So viel ist deinen Lesern deine Aufklärung wert.“
Eva hält alles in seiner Hand fest, bis er endlich zugreift. Alex versteht kein Wort. Er weiß aber, dass er sich auf Eva verlassen kann. Sein mulmiges Gefühl bekommt Flügel. Es erinnert ihn daran, dass ihm Evas Unterstützung stets von Nutzen war. „Danke“, sagt Alex, während er die Eintrittskarten zu seiner Zukunft packt. Er nimmt sich fest vor, sich genau an ihre Anweisungen zu halten, egal, wie absurd sie ihm jetzt erscheinen. Und bei der erst besten Gelegenheit wird er sich über dieses Bitcoin informieren.
Wenige Tage später greift Alex zum Telefon. „Danke, Eva“. Er zögert kurz und denkt an die 2.000 Kilometer, die ihn von seiner Heimat trennen, an all die Einschränkungen, die er dort erleiden musste und die Sanktionen, die ihm bevorstanden. Doch das Zögern weicht schnell seinem Optimismus.
Eva genießt die tiefe Befriedigung, auch ihn gerettet zu haben. Alex’ Freude schenkt ihr die Kraft, einen liebgewonnenen Klienten weiterziehen zu lassen und das Unheil von anderen abzuwenden.
„Danke für deine Hilfe“, fährt Alex fort. „Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Ich wurde tatsächlich am Flughafen untersucht. Das volle Programm. Doch in meinem Kopf konnte niemand die 12 Wörter meiner Freiheit ertasten.“ Der Gedanke, sich vom System befreit zu haben, formt beiden ein Grinsen ins Gesicht. Gleichsam ahnen sie, dass dies die letzte Erinnerung ist, die sie für immer teilen werden. Sie wird Freiheitskämpfern weiterhin zu ihrem Recht verhelfen und Alex die geheimen Vereinbarungen der Wirtschaftspolitik lüften.
„Danke für mein Leben.“ Alex hält inne, um seiner Unabhängigkeit nachzuspüren. Er glaubt fest daran, zu einer besseren Welt beitragen zu können. „Jetzt fühle ich es, Eva: ich bin frei.“
 



 
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