fremdbestimmt

tessa_zwei

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Sie hielten sich umschlungen und fühlten ihren Einklang - trotz des Altersunterschieds.
Ohne große Erklärungen wussten sie, was sie durchlebt hatten.

Die Ältere von ihnen, sie konnte schon lange nicht mehr ganz geradestehen, erinnerte sich oft an die vergangenen Jahrzehnte, als alles immer nur schlechter wurde. Sie hatte ihre Nachbarn erst leiden und dann sterben sehen. Aber sie - sie lebte noch. Genau genommen wunderte es sie ein wenig. Die Nahrungsaufnahme fiel ihr immer schwerer und sogar das Atmen. Hätte sie reden können, dann würde sie sagen: „Was mich nicht umbringt, macht mich offensichtlich stärker!“
Die Jüngere sah die Sache in einem völlig anderen Bild. Sie war hineingeboren in eine Welt, die es ihr von Anfang an sehr schwer gemacht hatte. Es waren ungeheure Herausforderungen, die sie bereits in jungen Jahren meistern und überstehen musste. Jetzt, sie war mittleren Alters, wenn man es so sagen wollte, war sie nur noch frustriert und ständig begleitete sie eine nicht greifbare Angst. Die Sorge, in einer fast schon feindlichen Umgebung zu sein, weil sich scheinbar alle Faktoren gegen sie verschworen hatten, war ständig vorhanden. Viel schlimmer empfand sie jedoch die Gewissheit, es nicht ändern zu können. Nichts.

So standen die beiden Eichen, die eine 450 Jahre alt, die andere 200, dicht neben einander. Die ältere kannte die jüngere seit dem Zeitpunkt, als deren zarte Wurzeltriebe sich im Boden verankert hatten. Sie hatte von Anbeginn an eine starke Zuneigung gefühlt. Die ineinander verschlungenen Wurzeln der Bäume bezeugten, dass sie wahre Freunde waren. Beide konnten sie nicht fortgehen, um sich einen besseren Ort zu suchen. Sie waren Gefangene ihres Daseins, aber nicht allein. Im Schmerz vereint wünschten sie sich jedes Jahr, dass es ausreichend regnen würde und dass der Regen nicht allzu sauer wäre. Sie hatten hoffentlich noch viele gemeinsame Jahre vor sich.

Bis eines Tages etwas geschah. Zunächst kamen einzelne Personen des Menschenvolkes. Sie maßen gewichtigen Schrittes das Grundstück ab und hatten Zollstöcke und Tablets dabei. Und immer betrachteten sie die beiden Eichen mit skeptischem Ausdruck im Gesicht. Dann kamen über einen längeren Zeitraum entweder zwei Erwachsene oder ein Elternpaar mit Kind oder Kindern zu Besuch und fortan war es mit der Ruhe vorbei.

Es wurde ein Haus gebaut. Glücklicherweise fand es am anderen Ende des Grundstückes seinen Platz. Das beruhigte die beiden Eichen; der Abstand erschien ihnen groß genug. Sie konnten sich damit arrangieren und betrachteten mit der ihnen gegebenen Ruhe das emsige Treiben der Menschen.
Zuerst rückten im Frühling die Bagger an und gruben ein tiefes Loch. Dann kam das Zementauto und anschließend herrschte wieder etwas Stille. Nach einer gewissen Dauer fuhren jedoch etliche voll beladene Lastwagen mit Steinen und anderem Material an die Baugrube. Danach wurde fleißig gearbeitet. Bis Ende des Jahres stand das Gebäude und ab und zu stattete jemand den Eichen einen kurzen Besuch ab und betrachtete sie eingehend.
Der Winter brachte wieder etwas Ruhe und die Bäume atmeten erleichtert auf. Alles kam so, wie es kommen sollte. So war es immer schon.
Im darauffolgenden Sommer, als die neuen Hausbesitzer sich mit dem Garten beschäftigten und planten, ein Gartenhäuschen in der hinteren Ecke aufzustellen, fand zwischen den beiden Menschen folgender Dialog statt:
Mann: „Wir müssen etwas unternehmen!“
Frau: „Wie meinst du das?“
Mann: „Der große Baum muss auf jeden Fall weg. Sieh doch nur, wie krumm er schon ist. Wenn ein Sturm kommt, fällt er um, dann geht unser Häuschen kaputt!“
Frau: „Eigentlich schade, es ist immer noch ein stattlicher Baum!“
Mann: „Den daneben fällen wir am besten auch gleich. Das geht in einem Aufwasch. Der geht nämlich auch schon in die Höhe!“
Frau: „Aber etwas Grünes wäre doch ganz schön da hinten im Garten, so vor dem Zaun…“
Mann: „Wir pflanzen am besten eine dichte, immergrüne Hecke, die unbedingt pflegeleicht sein muss. Ich informiere mich dann gleich.“

Und so wurde es gemacht. Die Dinge nahmen den vom Menschen bestimmten Lauf. Es wurde eine Gartenbaufirma beauftragt, die die Bäume fällte und das Holz praktischer Weise gleich mitnahm. Sie pflanzten auch die neue Hecke ein. Für die Jungpflanzen der grünen Begrenzung gruben sie nur ausreichend große Pflanzlöcher. Die Fachfirma hatte gesagt, dass es nicht nötig sei, die Wurzeln der gefällten Bäume auszugraben. Und deshalb verblieben diese im Boden.

Bis das unter der Erde liegende Gehölz der beiden Bäume verrotten wird, vergeht mit Sicherheit noch einige Zeit. Könnte man in die Tiefe blicken, dann sähe man zwei verschiedene Wurzelstränge, jeweils einen dunkleren, dicken und einen helleren, dünneren Ausläufer, die sich ganz virtuos umeinanderschlingen.
Im Tode vereint, aufgegeben für eine Thujen-Hecke!
 



 
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