Freundschaft
„Das Herz gleicht einem Meere,
hat Sturm und Ebbe und Flut,
und manche schöne Perle
in seiner Tiefe ruht.“
Das schrieb mir damals meine Freundin ins Poesie-Album. Ich revanchierte mich mit
„Spricht alle Welt von deinem Freunde schlecht,
misstrau der Welt und gib dem Freunde Recht.
Nur wer so standhaft seine Freunde liebt,
ist wert, dass ihm der Himmel Freunde gibt.“
Sie hatte mich mit ihrem Spruch stark beeindruckt, denn das war nicht das allgemein übliche „Rosen, Tulpen, Nelken . . .“. Ich hoffte, sie ebenso stark beeindruckt zu haben und war fest entschlossen, wie ein eherner Schild an ihrer Seite zu stehen. Auch hoffte ich, dass sie nach den Perlen in den Tiefen meines Herzens suchen würde.
Nun ja, reden wir nicht länger darüber. Ich war das einzige, was sie bekommen konnte in Berlin. Ihre Familie stammte aus Thüringen. Irgendwann wurde ihr Vater nach Peenemünde versetzt, wo das lebensfrohe Mädchen rasch einen umfangreichen Freundeskreis hatte.
Als sie fünfzehn Jahre alt war, wurde der Vater nach Berlin ins Ministerium berufen. Sie hätte gern die Schule an der Küste beendet, aber darauf konnte keine Rücksicht genommen werden. So stand sie also mutterseelenallein in ihrer Pionieruniform auf dem Schulhof. Zum Glück immer in der Nähe der Pionierleiterin oder eines Lehrers.
Bald erkannten ihre Eltern, dass die Pionierkleidung in Berlin nur zu besonderen Anlässen getragen wurde und nicht täglich. Nun konnte sich Antje auch mit ihren Fäusten Respekt verschaffen. Warum sie angefeindet wurde? Na, Rucksackberliner, Sachsenscheisser, Fischkopp, Bonzenknecht – das alles war sie in den Augen ihrer Klassenkameraden. Ich konnte es mir leisten, sie zu mögen, denn ich ging in eine andere Klasse und war dort ebenso gemieden, weil ich ein Einzelgänger war. Für mich war sie genauso das einzige, was ich bekommen konnte.
Während unserer schier endlosen Gespräche staunte sie immer wieder, wie viele Bücher ich gelesen hatte und ich staunte, wie viele Filme sie sich angesehen hatte. Aus Geldmangel konnte ich nicht – wie sie – jede Kindervorstellung besuchen. Ich versuchte vergeblich zu berechnen, wie viel der Herr Oberstleutnant wohl verdienen mag, dass er eine Familie mit vier Kindern nicht nur ernähren, sondern auch noch verwöhnen konnte.
Wir ergänzten uns ganz wunderbar. Was sie nicht konnte, konnte ich und umgekehrt. Sie zeigte mir, wie man Seemannsknoten knüpft und ich half ihr bei den Hausaufgaben. Durch den Umgang mit mir wurde es ihr leichter, sich im Berliner Dialekt zurechtzufinden und ich lernte von ihr, was ein Asch ist oder eine Grude. Asch ist ein Blumentopf und Grude eine Feuerstelle zum Kochen.
Im Sommer merkte sie, dass ich nicht schwimmen konnte. Das wunderte sie sehr, denn in der fünften Klasse hatten doch alle Schüler damals Schwimmunterricht. Ich maulte: „Da bin ick nich oft jenuch hinjejang.“ Ich wollte ihr keine Einzelheiten erzählen, wozu ihre Laune noch mieser werden lassen? Außerdem hatte sie mir gestanden, dass auch sie manchmal die Schule geschwänzt hatte und dies als großes Abenteuer ansah.
Die Schwimmbewegungen beherrschte ich, nun meinte sie, mir die Angst vor dem Wasser nehmen zu müssen. Ich tönte: „Ick hab keene Angst vor Wasser, hier, kieke her!“ und ging in den Orankesee hinein, bis mir das Wasser ans Kinn reichte. An jenem Tage lernte ich das Schwimmen nicht.
Dann gingen wir ins Freibad Pankow. Hier sollte ich in das gemauerte Becken springen. Sie sagte: „Das Wasser trägt dich!“ aber ich wollte es nicht glauben. Ich hatte keine Angst vor dem Wasser, nur vor dem harten Boden. Also sprang ich mit den Füssen voran, da konnte nicht viel passieren. Ja, aber schwimmen lernt man so nicht.
Sie scheuchte mich aus dem Wasser: „Du musst mit dem Kopf voran springen!“ Ich war zu einem „Bauchklatscher“ bereit und legte ihn hin. „Das bringt nichts.“ konstatierte sie. „Geh raus und versuche es noch mal.“ Gehorsam stellte ich mich wieder an den Beckenrand, zögerte aber, mich köpflings ins Tiefe zu stürzen. Freundlich forderte sie mich auf: „Kuz dich.“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Wat soll ick?“ fragte ich. „Dich kuzen, kuz dich, dann geht’s leichter.“
Ich war in der größten Verlegenheit. Was, bitte schön, ist kuzen? Wie sieht das aus und wie macht man das? Noch ehe ich diese Fragen formulieren konnte, kam sie wie eine Rakete die Leiter hoch und schimpfte: „Ja, wie blöd bist du eigentlich, dass du dich nicht kuzen kannst? Kuz dich endlich!“ Ich stotterte hilflos: „Was ist denn kuzen?“ und endlich klärte sie mich auf: ich sollte in die Hocke gehen! An diesem Tage lernte ich schwimmen und wir haben später noch oft über jene kuriose Situation gelacht.
Im Spätsommer bekamen wir während einer langen Wanderung Appetit auf eine Bockwurst und stellten uns an einer Bude danach an. Wir ignorierten, dass wir die einzigen weiblichen Geschöpfe waren und bissen herzhaft in unsere Würste. Da sagte ein Kerl zu meiner Freundin: „Na, du hättest die Wurst doch lieber unten drin statt oben.“ Mir fiel fast der Bissen aus dem Mund, als ich Antje lächelnd sagen hörte: „Ja!“
Rasch zog ich sie weg: „Komm, komm, wir können die Wurst auch im Laufen essen, du sollst doch nicht zu spät zu Hause sein!“ Unwillig folgte sie mir. Sie glaubte, der Mann habe mit „unten“ den Magen gemeint und hätte sich gern noch länger mit ihm unterhalten. Ich klärte sie auf und sie schnaubte verächtlich: „Was du alles weißt!“
An diese Begebenheit rührten wir nie wieder.
Ja, so ist Freundschaft. Ein Geben und ein Nehmen.
„Das Herz gleicht einem Meere,
hat Sturm und Ebbe und Flut,
und manche schöne Perle
in seiner Tiefe ruht.“
Das schrieb mir damals meine Freundin ins Poesie-Album. Ich revanchierte mich mit
„Spricht alle Welt von deinem Freunde schlecht,
misstrau der Welt und gib dem Freunde Recht.
Nur wer so standhaft seine Freunde liebt,
ist wert, dass ihm der Himmel Freunde gibt.“
Sie hatte mich mit ihrem Spruch stark beeindruckt, denn das war nicht das allgemein übliche „Rosen, Tulpen, Nelken . . .“. Ich hoffte, sie ebenso stark beeindruckt zu haben und war fest entschlossen, wie ein eherner Schild an ihrer Seite zu stehen. Auch hoffte ich, dass sie nach den Perlen in den Tiefen meines Herzens suchen würde.
Nun ja, reden wir nicht länger darüber. Ich war das einzige, was sie bekommen konnte in Berlin. Ihre Familie stammte aus Thüringen. Irgendwann wurde ihr Vater nach Peenemünde versetzt, wo das lebensfrohe Mädchen rasch einen umfangreichen Freundeskreis hatte.
Als sie fünfzehn Jahre alt war, wurde der Vater nach Berlin ins Ministerium berufen. Sie hätte gern die Schule an der Küste beendet, aber darauf konnte keine Rücksicht genommen werden. So stand sie also mutterseelenallein in ihrer Pionieruniform auf dem Schulhof. Zum Glück immer in der Nähe der Pionierleiterin oder eines Lehrers.
Bald erkannten ihre Eltern, dass die Pionierkleidung in Berlin nur zu besonderen Anlässen getragen wurde und nicht täglich. Nun konnte sich Antje auch mit ihren Fäusten Respekt verschaffen. Warum sie angefeindet wurde? Na, Rucksackberliner, Sachsenscheisser, Fischkopp, Bonzenknecht – das alles war sie in den Augen ihrer Klassenkameraden. Ich konnte es mir leisten, sie zu mögen, denn ich ging in eine andere Klasse und war dort ebenso gemieden, weil ich ein Einzelgänger war. Für mich war sie genauso das einzige, was ich bekommen konnte.
Während unserer schier endlosen Gespräche staunte sie immer wieder, wie viele Bücher ich gelesen hatte und ich staunte, wie viele Filme sie sich angesehen hatte. Aus Geldmangel konnte ich nicht – wie sie – jede Kindervorstellung besuchen. Ich versuchte vergeblich zu berechnen, wie viel der Herr Oberstleutnant wohl verdienen mag, dass er eine Familie mit vier Kindern nicht nur ernähren, sondern auch noch verwöhnen konnte.
Wir ergänzten uns ganz wunderbar. Was sie nicht konnte, konnte ich und umgekehrt. Sie zeigte mir, wie man Seemannsknoten knüpft und ich half ihr bei den Hausaufgaben. Durch den Umgang mit mir wurde es ihr leichter, sich im Berliner Dialekt zurechtzufinden und ich lernte von ihr, was ein Asch ist oder eine Grude. Asch ist ein Blumentopf und Grude eine Feuerstelle zum Kochen.
Im Sommer merkte sie, dass ich nicht schwimmen konnte. Das wunderte sie sehr, denn in der fünften Klasse hatten doch alle Schüler damals Schwimmunterricht. Ich maulte: „Da bin ick nich oft jenuch hinjejang.“ Ich wollte ihr keine Einzelheiten erzählen, wozu ihre Laune noch mieser werden lassen? Außerdem hatte sie mir gestanden, dass auch sie manchmal die Schule geschwänzt hatte und dies als großes Abenteuer ansah.
Die Schwimmbewegungen beherrschte ich, nun meinte sie, mir die Angst vor dem Wasser nehmen zu müssen. Ich tönte: „Ick hab keene Angst vor Wasser, hier, kieke her!“ und ging in den Orankesee hinein, bis mir das Wasser ans Kinn reichte. An jenem Tage lernte ich das Schwimmen nicht.
Dann gingen wir ins Freibad Pankow. Hier sollte ich in das gemauerte Becken springen. Sie sagte: „Das Wasser trägt dich!“ aber ich wollte es nicht glauben. Ich hatte keine Angst vor dem Wasser, nur vor dem harten Boden. Also sprang ich mit den Füssen voran, da konnte nicht viel passieren. Ja, aber schwimmen lernt man so nicht.
Sie scheuchte mich aus dem Wasser: „Du musst mit dem Kopf voran springen!“ Ich war zu einem „Bauchklatscher“ bereit und legte ihn hin. „Das bringt nichts.“ konstatierte sie. „Geh raus und versuche es noch mal.“ Gehorsam stellte ich mich wieder an den Beckenrand, zögerte aber, mich köpflings ins Tiefe zu stürzen. Freundlich forderte sie mich auf: „Kuz dich.“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Wat soll ick?“ fragte ich. „Dich kuzen, kuz dich, dann geht’s leichter.“
Ich war in der größten Verlegenheit. Was, bitte schön, ist kuzen? Wie sieht das aus und wie macht man das? Noch ehe ich diese Fragen formulieren konnte, kam sie wie eine Rakete die Leiter hoch und schimpfte: „Ja, wie blöd bist du eigentlich, dass du dich nicht kuzen kannst? Kuz dich endlich!“ Ich stotterte hilflos: „Was ist denn kuzen?“ und endlich klärte sie mich auf: ich sollte in die Hocke gehen! An diesem Tage lernte ich schwimmen und wir haben später noch oft über jene kuriose Situation gelacht.
Im Spätsommer bekamen wir während einer langen Wanderung Appetit auf eine Bockwurst und stellten uns an einer Bude danach an. Wir ignorierten, dass wir die einzigen weiblichen Geschöpfe waren und bissen herzhaft in unsere Würste. Da sagte ein Kerl zu meiner Freundin: „Na, du hättest die Wurst doch lieber unten drin statt oben.“ Mir fiel fast der Bissen aus dem Mund, als ich Antje lächelnd sagen hörte: „Ja!“
Rasch zog ich sie weg: „Komm, komm, wir können die Wurst auch im Laufen essen, du sollst doch nicht zu spät zu Hause sein!“ Unwillig folgte sie mir. Sie glaubte, der Mann habe mit „unten“ den Magen gemeint und hätte sich gern noch länger mit ihm unterhalten. Ich klärte sie auf und sie schnaubte verächtlich: „Was du alles weißt!“
An diese Begebenheit rührten wir nie wieder.
Ja, so ist Freundschaft. Ein Geben und ein Nehmen.