Fritz Felis: In der Stadt (2024)

Fritz Felis

Mitglied
In der Stadt
Jeden Morgen um kurz vor halb sieben verlasse ich unsere Wohnung. Meine Eltern liegen dann noch
im Bett, ich gehe also grußlos, mache mich auf den Weg zum Bahnhof und fahre in die Stadt, zur
Arbeit. All die müden Gesichter sitzen um mich herum im Zug, nur wenn wir kontrolliert werden,
kommt ein bisschen Leben in uns. Ich schlage dann mein rotes Etui mit meinem Abonnement auf und
zeige dem Kontrolleur meine Monatskarte.
In der Stadt habe ich zum Glück nur einen kurzen Fußweg zu meiner Arbeitsstelle. Ich verlasse den
Bahnhof, schaue rauf zu den Kirchturmspitzen der großen Kathedrale, die ich passiere, und setze
meinen Weg fort. Ich arbeite in einem der Büros in der Nähe des großen Marktplatzes. Wenn ich dort
gegen acht Uhr ankomme, sind die meisten Büros schon besetzt, von anderen Bürofräuleins oder von
Buchhaltern mittleren Alters. Auch der Bürovorsteher sitzt schon an seinem Platz. Die Arbeit beginnt:
Routine, mehr ist es nicht für mich.
Um zwölf Uhr mittags ist Mittagspause. Eine Kollegin, mit der ich mich ein bisschen angefreundet habe,
begleitet mich zum Tearoom in der Nähe. Wir bestellen uns Tee und eine Kleinigkeit zu essen.
Anschließend rauchen wir eine Zigarette, weil wir eigentlich nicht so recht wissen, worüber wir uns
unterhalten sollen. Die Arbeit? Das Wetter? Die anderen Leute im Tearoom? Kürzlich hat eine andere
Freundin von mir geheiratet. Aber auch darüber gibt es jetzt nicht mehr viel zu sagen. Ich ziehe
immer nur ein bisschen an meiner Zigarette und stoße den Rauch direkt aus, weil ich sonst husten
muss. Aber ich finde, eine glimmende Zigarette zwischen den Fingern gibt mir ein bisschen Glanz.
Nach einer Stunde gehen wir zurück ins Büro und arbeiten weiter. Manchmal schaue ich während der
Arbeit aus dem Fenster nach draußen. Gegenüber von unseren Büros stehen Wohnhäuser, vier oder
fünf Stockwerke hoch. Fensterfronten, keine Balkons. Ab und zu sieht man ein Gesicht in einem der
Fenster. Im Sommer manchmal lächelnd, im Winter oft grau und abgestumpft. Wer sind die
Menschen, die dort leben? Ich weiß es nicht, will es auch nicht wissen.
Um fünf ist die Arbeit für heute vorbei. Ich schlendere zurück Richtung Bahnhof, lasse mir aber viel
Zeit dabei. Ich will noch nicht direkt nach Hause, zu Mutter und Vater, die am gedeckten
Abendbrottisch sitzen und auf mich warten, Tag für Tag, jeden Abend. Also lasse ich mir Zeit. Ich
schlendere an den Geschäften vorbei und schaue mir die Schaufenster an. Oft gehe ich in einen
Plattenladen und kaufe mir eine oder zwei Schallplatten, die ich mir später in mein Zimmer lege. Ich
höre gerne Musik, kenne die Namen der Sängerinnen und Sänger. Manchmal begegnet mir ein
Lächeln, das ich dann erwidere.
Vor ein paar Wochen habe ich mir eine schöne Vase gekauft, aus blauem Glas. Ich glaube, sie wurde
in Schweden hergestellt. Nach Schweden würde ich gerne einmal reisen. Die Vase steht jetzt in
meinem Zimmer auf dem Schrank. Meistens sind keine Blumen drin.
Manchmal denke ich darüber nach, ob ich bald ausziehen sollte, hierher, in die Stadt. Noch habe ich
mich nicht dazu entschlossen. Was wird dann aus meinen Eltern? Kommen sie zurecht, ohne mich?
Gegen sechs ist es Zeit, zum Bahnhof zu gehen. Um zwanzig nach fährt mein Zug. Noch ein kurzer
Blick zu den Türmen der Kathedrale, und dann hinein ins Zugabteil. Auch jetzt sind viele müde
Gesichter um mich her. Manchmal kommt wieder ein Kontrolleur und ich schlage mein rotes Etui auf
und zeige ihm mein Abonnement, so wie am Morgen schon. Eine Stunde später steige ich aus dem
Zug und schlendere nach Hause. Wenn ich ankomme, sitzen meine Eltern schon am Esstisch. Sie
blicken auf und sagen: „Da bist du ja.“

(Konzipiert als „Gegentext“ zu Peter Bichsels Kurzgeschichte „Die Tochter“)
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Fritz Felis,

das sehr eintönige Leben und den Gedanken, dass die Tochter ? nicht ausziehen will/kann, hast du gut transportiert.

Aber im Alltag ist sie 12 Stunden weg, und die Eltern kommen anscheinend zurecht, wenn sie am gedeckten Tisch warten.

Also warum nicht doch ausziehen?

Gruß DS
 

ThomasQu

Mitglied
Mir hat dein Text (im Gegensatz zu dem von Peter Bichsel) gut gefallen. Deinen flüssigen, unaufgeregten Schreibstil und deine Sprache bzw. Duktus finde ich interessant. (Erinnert ein wenig an Schweiz.)
Es gibt hier eine Protagonistin, die im Mittelpunkt einer Kleinfamilie steht. Mit Eltern, die tagsüber anscheinend nichts anderes haben, als auf die Tochter zu warten, deren Gedanken vermutlich nur um die Tochter kreisen. Und eben eine Tochter, die nicht ausbrechen kann bzw. nicht so richtig dazu bereit ist. Wie schon von DocSchneider angemerkt, die Quintessenz deines Textes.

Um zwölf Uhr mittags ist Mittagspause.
Muss das Wort mittags wirklich sein?

Auch jetzt sind viele müde
Gesichter um mich her.
klingt ein wenig sperrig, zumindest ungewöhnlich.

Grüße, Th.
 



 
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