Fuerte

McGoethe79

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Am Hotelbuffet baute Daniel sich im Stehen ein mehrfach belegtes Brot zusammen, packte es zwischen zwei Servierten und machte sich in Richtung Ausgang. Ein älterer Hotelmitarbeiter hatte seine Aktion beobachtet,
denn er schüttelte missbilligend mit dem Kopf. Er trug ein dunkelgrünes Jackett zum Zeichen seiner Stellung als Vorarbeiter. Daniel fand, dass er in der Jacke eher wie ein Förster aussah.
Im Netz hatte er einige interessante Informationen über die Villa Ginter zusammengegoogelt, aber größtenteils handelten es sich um Spekulationen und halbgare Abenteuergeschichten. Doch überall war herauszulesen, dass über die Vergangenheit hier nicht mehr gerne geredet wurde.
Daniel wusste nicht so recht weiter, und so lehnte er sich erstmal an eine Mauer, dessen gespeicherte Sonnenwärme seinem von Ines geschundenen Rücken wohl tat. Leider zogen aus nordwestlicher Richtung aber dichte Wolkenfelder heran, die vom Passatwind, der nun merklich an Kraft aufnahm, rasch weiter getrieben wurden. Am Strand blies er Rheuma anfälligen Rentnern die Handtücher davon. Einige von ihnen stolperten schwerfällig durch den Sand und versuchten sie wieder einzufangen.
Daniel verlor sich ein bisschen in den Ausläufern seiner Gedanken, während er die kargen Hänge der Hügel und Berge nach Leben absuchte.
An einem Grad, der wohl auch über die Jahre gleichzeitig zu einem Wanderweg umfunktioniert wurden war, erblickte er ein paar Leute, die sich bergauf bewegten.
Warum nicht, dachte er sich. Ein wenig sportliche Betätigung hatte noch niemanden geschadet. Außerdem bekäme man von dort oben einen ganz anderen Blick auf die Dinge und auf die Insel.
Schon früher war er gerne in den Bergen unterwegs gewesen, und mit jedem Schritt, jedem Höhenmeter mehr, hatte er sich in eine Art Trance hinein gelaufen, die einem die Menschen und deren Probleme im Tal weit weg erschienen ließen.
Geradezu zynisch schaute man dann auf sie herab, als hätte man mit ihnen nichts gemein.
Und tatsächlich, mit jedem Schritt auf dem staubigen, ausgetrockneten Pfad nach oben lösten sich seine Verspannungen im Rücken.
Als er nun eine gute halbe Stunde ohne Pause gelaufen war, gönnte er sich eine Rast auf einem größeren Felsvorsprung, der perfekt wie von einem Filmausstatter dort hingelegt wurden schien.
Er nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche, die er in einem Internet-Cafe noch vor der Wanderung gekauft hatte.
Daniel hatte dem noch jungen, aber schon kahlköpfigen Mann nicht den ganzen Preis bezahlen können. Er hatte nicht genug Münzen, und der Mann konnte wiederum seine Scheine nicht wechseln. No Problemo, hatte er abgewunken.
Daniel war es eh so vorgekommen, als wollte der Mann ihn so schnell wie möglich loswerden, als Daniel ihn angefangen hatte über die früheren Ereignisse auf der Insel auszufragen.
Vielleicht war auch das der Grund, warum er Daniel misstrauisch telefonierend nachgeblickt hatte.
Jetzt am späten Vormittag war es ein klarer Tag ohne diesige Störungen am Firmament geworden. Für den Blick auf das weite Blau des Meeres hatte sich die Mühe des Aufstiegs gelohnt. Ruhig und faul lag es da, wie ein modriger Tümpel im Stadtpark, als gönne es sich eine Pause vom ewigen Herumgeschubse der Wellen.
Die Sonne stand nun im Zenit, ein Traum für jeden Navigator. Daniel blickte auf die topographische Karten-App seines Handys.
Noch zwei kleinere Hügelketten trennten ihn vor dem letzten Anstieg, von dem er sich einen Blick auf den offenen Atlantik und hinunter nach Cofete erhoffte.
Die anderen Wanderer von heute Morgen waren schon am Grad angekommen. Sie mussten ohne Pause gelaufen sein. Daniel saß nun schon fast eine Stunde auf dem Stein. Für andere musste er wie ein regungsloses Reptil ausgesehen haben.
Er lief nun weiter und wenn er sich an einer Stelle befand von der aus er keine Behausung, nicht das beruhigende Blau des Meeres oder sonstige Anzeichen von Zivilisation erblickte, kam er sich wie auf einem anderen Planeten vor. Putzige Geckos krabbelten aus ihren Verstecken und sahen ihn neugierig an.
Als er endlich das Ende des Grades erreicht hatte, war es schon später Nachmittag. Ines machte sich wohl bereits Sorgen. Halbstündlich machte sich sein Handy mit ihren Nachrichten bemerkbar.
Den Rückweg würde er teilweise im Dunkeln finden müssen, was ihm anscheinend keine allzu großen Sorgen bereitete.
Oben angekommen breitete sich eine ovale Plattform aus. Die obligatorischen aufeinander gesetzten Steinfiguren der Touristen verunstaltete die Szenerie. Daniel war alleine, was dem nun doch beeindruckenden Blick auf den fast endlosen Küstenabschnitt eine Exklusivität verlieh.
Wieder stellte sich ihm ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Dinge dort unten ein. Höhe verlieh einen eine nähere Verbundenheit zu Gott, dachte er sich. Wahrscheinlich wurden deshalb viele Berge als heilig angesehen. Er wagte sich an die Kante des Abgrunds und schaute in die Tiefe.

„Wer sich erhöht, kann tief fallen“, ertönte aus dem nichts eine dünne, kraftlose Stimme.

Daniel erschrak am ganzen Leib, wich von der Kante zurück und kleinere Steinchen bröckelten ab. Ein alter Mann mit einer löchrigen Jeans und abgelaufenen Trekking-Schuhen hatte sich wohl unsichtbar nach oben geschlichen.
Daniel kam es vor als würde er einem Geist gegenüberstehen. Die schon tief stehende Sonne blendete ihn, so dass er die Hand als Schutz heben musste.

„Wer sind sie? Ich mein, wo... woher kommen sie?“, stotterte Daniel.
„...drum hüte dich vor dem Abgrund. Hehehe.“

Der Alte schlich nun um Daniel herum und schaute dann in die Ferne des Landesinneren der Insel.
Er schüttelte ungläubig mit dem Kopf und strich sich mit dem Zeigefinger und Daumen über die Bartstoppel seines Kinns.

„7o Jahre lebe ich nun hier und habe nie Schnee gesehen. Mein Vater kam aus den Bergen, wissen sie. Er hat mir Fotos gezeigt, wie er mit dünnen Holzlatten die Berge hinunter gefahren ist.“

Er grinste gedankenverloren.

„Jeden verdammten Hügel habe ich auf dieser Insel bestiegen.“

Er muss verrückt sein, dachte Daniel. Der Alte kam auf ihn zu, legte einen Arm um Daniels Schultern, seinen anderen Arm ließ er in die Ferne schweifen.

„Schauen sie sich die sanften Hänge an. Wie schwungvoll und perfekt sie geformt sind. Sehen sie?“

Er malte in der Luft die Umrisse der Hügel nach. Wie ein Maler, der sich die Pinselstriche der er führen wollte, im Gehirn abspeicherte. Daniel schaute irritiert zu Boden.

„Sie halten mich für verrückt, nicht wahr?“ Der Alte löste sich und ging erneut zur Abbruchkante.

„Stellen sie sich vor was für ein perfektes Skigebiet man hier errichten könnte. Verstehen sie mich jetzt?“

„Schnee und Skifahren auf Fuerteventura? Ja, sie müssen verrückt sein. Keine Frage.“

Der Alte nahm einen zusammengepressten Dreckklumpen in die Hand und zerpresste ihn in bröselige sandige Einzelteile.

„Wer redet denn von Schnee? Ich rede von Sand, Milliarden Tonnen von Sand. Von dem Zeugs haben wir ja genug. Kapieren sie? Das größte Sandskigebiet der Welt, mit Abfahrten bis zum Meer. Das wäre einzigartig.“

Der Alte schaute Daniel verständnisvoll an.

„Jaja. Ich kann sie verstehen. Seit meine Kleine und später Ginter gestorben sind, ist es ruhig und einsam hier draußen geworden. Und die verdammten Martinez geben auch keine Ruhe, bis sie sich mein Haus dort unten eingesackt haben... Warum sie mich noch nicht um die Ecke gebracht haben, fragen sie sich... Nun, sie haben es natürlich vorgehabt... zumindest theoretisch... Aber ich weiß einige schmutzige Dinge, die diese Bande gerne für sich behalten würde. So sieht es aus.“

Wer sich seine Fragen selber beantwortet muss schon lange alleine sein, dachte Daniel. Er wandte sich vom Alten ab, und für einen kleinen Moment unbeobachtet, verschwand der so verwegen wie er aufgetaucht war.

„Auf Wiedersehen, mein Freund“, rief er nur noch aus einiger Entfernung.

„Hey, warten sie.“

Daniel konnte es nicht glauben. Hatte er das gerade geträumt?
Er war sich sicher, dass das der Mann war, den er gestern Nacht mit dem Fernglas beobachtet hatte. Wie hatte der alte Spanier ihn nochmal genannt? General Hermanos? Also Hermann. Ohne Zweifel. Und ohne Zweifel wurden die Ereignisse immer unglaublicher. In was war er nur hinein geraten? Endlich riss ihn der Klingelton seines Handys in die Wirklichkeit zurück.

„Liebling? Ja, ich lebe noch. Auf einer Wanderung. Ja, genau. Mach dir keine Sorgen, ich habe mich nur leicht verlaufen... Ja, ich bin gleich an der Straße, und nehme mir ein Taxi. Zum Abendessen bin ich im Hotel.
Okay. Ja. Bussi.“

Es wurde nun merklich kühler dort oben. Wind, aus fremden Gefilden kommend, zog auf. Die untergehende Sonne küsste schon beinahe das Meer am Horizont. Als sie schließlich fast widerwillig ineinander verschmolzen, vermeinte man Millionen von Zikaden zirpen zu hören. Daniel schaute den Abhang hinunter, in dessen Richtung Hermann verschwunden war.
Aber nichts.
 



 
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