Gebet vor dem Badezimmerspiegel (für Ps)

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klausKuckuck

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Lieber Gott, wie wärs mit mir als Micker,
Dünn und drahtig könnte ich durchs Leben gehn?
Du, seit Wochen werd‘ ich immer dicker,
Du, ich kann schon meine Zehen nicht mehr sehn!
Guck ich runter, seh ich einen Hügel,
Unter dem ich Zehen nur vermuten kann,
Das Barockgespenst im Badezimmerspiegel
Guckt mich aus verschweinsten kleinen Augen an.
Manchmal träum‘ ich einer Stadtgazelle
Hinterher, wenn sie an mir vorüberschnürt,
Schließlich steh ich wieder an der Schwelle,
Die zu meinem Albtraumbadezimmer führt.
Ach, warum nur quälst du mich mit Träumen,
Füllst mich mit Gewicht und Sehnsuchtsbildern ab?
Stadtgazellen grasen in entfernten Räumen,
Und als Dicker haste dorthin nicht den Trab.
Lieber Gott, auch wenn wir es beklagen,
Sind wir beide – guck mal in den Spiegel! – viel zu dick.
Soll‘n wir eine Kur dagegen wagen?
Oder nehmen wir’s gefasst als Daseinsknick?
Was? Du schweigst? Na, dann in Gottes Namen
Kann nur das die Lösung unsres Falles sein:
Lass uns einfach noch viel dicker werden, amen.
(Und jetzt lad’ ich uns zum Schweinebraten ein.)
 
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Ubertas

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Ein Psalm der Erkenntnis! Endlich traue ich mich wieder barfuß zum Badezimmerspiegel ohne Spiegelfalten.
Liebe Grüße ubertas
 

klausKuckuck

Mitglied
Oh, vielen Dank, ubertas, für Lob und Sterne.
Um dem Gebet etwas mehr Nachdruck mit auf den Weg zu geben, habe ich es gerade als
>>>Hörfassung in der Lupe verlinkt. Vielleicht fällt es dem oder der nun noch leichter, es mir nachzubeten.
Gruß KK
 
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mondnein

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auch hier wieder eine Metapher für das Dichten, selbstbezüglich, deshalb viel zu dick für eine schlichte Selbstbeurteilung: diese Widersprüchlichkeit macht die Raffinesse dieses Gedichts über das Gedichteschreiben aus

es entwickelt sich bei Dir zum genre, dieses selbstironische Dichten über das allzu dicke Dichten

in dem dichten finkendickicht
dichten dicke finken tüchtig
 



 
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