Geografie für Fortgeschrittene

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reborn

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Auf dem Frühstückstisch klebt ein Notizzettel.
„Denk an die Karolien!“
In meinem Kopf formen sich viele kunterbunte Fragezeichen. Was ist denn das für eine Nachricht? Von wem? An wen? Und überhaupt.
Ich rufe laut in den Hausflur: „Von wem ist der Notizzettel auf dem Küchentisch?“
Wie zu erwarten, herrscht Stille im Haus. Ich rufe noch einmal, aber lauter. Meine Frau erscheint, liest und guckt genauso unwissend wie ich. „Was sind denn Karolien?“, fragt sie mich.

„Woher soll ich das wissen? Deswegen habe ich ja gerufen.“

„Ist bestimmt von Luise. Vielleicht etwas für die Hausaufgaben. Ich muss jetzt los.“ Sie gibt mir einen Kuss und verschwindet in Richtung Bushaltestelle.
„LUISE! Ich muss gleich los. Wenn du noch etwas fragen willst, dann jetzt“, rufe ich nochmals. Die Badtür öffnet sich und unsere Tochter, heute einer lila Krake ähnlich, kommt die Treppe herunter.
„Was ist los?“
Hübsch hässlich, denke ich nur. Mittlerweile weiß ich, was Cosplay ist, kann mich mit den wöchentlich wechselnden Haarfarben und Outfits aber nicht anfreunden.
„Was heißt hier; was ist los? Ich war doch wohl deutlich genug.“

„Ich hab nichts verstanden. Wegen des Föns“, schreit sie zurück.

„Schrei doch nicht so. Wieso wäschst du dir eigentlich jeden Tag morgens und abends die Haare? Du arbeitest ja schließlich nicht auf dem Bau oder im Steinbruch. Jedenfalls noch nicht. Bei deinen Zensuren wird das zur unvermeidbaren Zukunft.“
Die Antwort besteht aus einem Augenrollen und dem kryptischen Kommentar: „Das ist ja wieder voll heftig.“

Ich nehme den Zettel und hefte ihn an ihre Stirn. „Die Karolinger waren ein Herrschergeschlecht der westgermanischen Franken. Berühmtester Vertreter: Karl der Große. Pippin hat im Jahre 751 die Merowinger abgelöst. Punkt. Ich hoffe das reicht.“
Sie kichert. Das undankbare Kind.
„Jaha, Pippin von den Pippiniden. Also beschwer dich nicht über deinen schönen Namen.“

„Papa, die heißen Philippinen.“

Ich raufe mir die nicht mehr vorhandenen Haare. „Die Pippiniden waren ein großes Herrschergeschlecht.“

„Auf den Philippinen?“

„Neihein! Jetzt lass doch mal die Philippinen. Die haben damit überhaupt nichts zu tun. Das ist Geschichte und nicht Geografie.“
„Interessant“, sagt sie und ich weiß ganz genau, dass das ironisch gemeint ist.
„Wozu fragst du denn nach den Karolingern, wenn es dich doch nicht interessiert?“
„Ich?“
Ich sehe mich demonstrativ um. „Ist hier außer uns noch wer?“
Das Kind wirkt gereizt. „Was gehen mich die Karolinger an? Oder machen die auch dick?“
Ich bin verwirrt. „Äh? Wieso sollten die Karolinger dick machen? Die waren vielleicht dick, weil sie damals so ungesund gegessen haben.“
Jetzt klebt mir Luise den Zettel an die Stirn. „Na dann bist du ja auch ein Karolinger. Ich habe dir den Zettel geschrieben, weil du aufpassen sollst, was du heute isst. Wir haben in der Schule gelernt, wie viele Karolien man am Tag essen darf.“
Aha. Daher weht der Wind. „Wenn du dich immer so undeutlich ausdrückst, kann aber noch einiges schiefgehen in deinem Leben.“
„Wieso?“
„Am besten du fragst das mal deine Lehrerin. Kannst du auch gleich sagen, dass dein Vater, der Karolinger, nicht zu viele Kilos Jaule am Tag konsultiert.“ Ich nehme den Autoschlüssel und gebe ihr einen Klaps. „Und nun los. Sonst verpasst du noch, wie der Dativ dem Genetiv umbringt.“
„Ach Papa, manchmal verstehe ich dich nicht.“
„Du kannst beruhigt sein, das geht mir auch so.“
 



 
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