Geordnete Weihnachten

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VeraL

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Meine Mutter hasste sie, aber ich freute mich schon Wochen vorher darauf: die Weihnachtsfeste bei Oma! Doch dann geschah die große Katastrophe und Weihnachten wurde nie wieder, wie ich es kannte und mochte.

Meine Oma war Mathematikprofessorin und alles hatte bei ihr eine wunderbare Ordnung, die mich ganz ruhig werden ließ und den Sturm in meinem Kopf bändigte. Es fing mit dem Christbaum an. Unser Baum zu Hause war ein einziges Chaos. Meine Mutter hängte Strohsterne neben Kerzen und silberne und rote Kugeln hingen wild durcheinander. Bei Oma hingen die Sterne ordentlich nebeneinander, darunter parallel zueinander die Engel. Die goldenen Kugeln gruppierten sich über den roten und ganz unten steckten die Kerzen in einer schnurgeraden Reihe an den Zweigen. Stundenlang konnte ich vor diesem Baum sitzen, den meine Mutter eine „Ausgeburt an Beklopptheit“ nannte.

Bei der Außendekoration war Oma kreativer. Wenn man genau hinsah, erkannte man bei den Lichtern, dass sich ihr Abstand immer so vergrößerte, dass sie eine perfekte Fibonacci-Folge ergaben. Als mir das zum ersten Mal auffiel, wurde ich vor Glück ganz warm von innen. Ich genoss dieses Gefühl noch, während ich in eines von Omas Plätzchen biss, die herrlich schmeckten, schließlich waren alle Zutaten dafür auf die fünfte Nachkommastelle genau abgewogen. Meine Oma hatte dazu eine Spezialwaage aus den USA bestellt.

Das Highlight der Festtage war für mich, wie für alle anderen Kinder, die Bescherung. Allerdings brachte bei uns nicht das Christkind oder der Weihnachtsmann die Geschenke. Jedes Familienmitglied musste ein kniffliges Matherätsel lösen, um ein Päckchen auspacken zu dürfen. Noch heute spüre ich ein wohliges Kribbeln, wenn ich an diese Weihnachtsfeste meiner Kindheit denke.

Als ich zwölf war, veränderte sich alles. Es fing mit den Plätzchen an, die Oma uns jedes Jahr im Advent schickte. Sie trafen erst am 4. Dezember ein und nicht wie sonst am 3. Dezember. Außerdem schmeckten sie einen Hauch zu süß und die Zuckerperlen waren leicht asymmetrisch angeordnet. Mein Magen zog sich zusammen. Was war mit Oma los? War sie vielleicht krank? Sie war gerade 65 geworden. Konnten dies erste Anzeichen für eine beginnende Demenz sein? Bei dem Opa meiner Freundin hatte es damit angefangen, dass er seine Brille in den Kühlschrank legte. Ich erzählte meiner Mutter von meinem Verdacht, aber sie zuckte nur mit den Schultern und meinte, ich würde mir wie immer zu viele Gedanken machen.

Das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, ließ mich den ganzen Advent über nicht los. Am Heiligen Abend, den ich wie immer bei meinem Vater und seiner neuen Familie verbrachte, konnte ich kaum stillsitzen. Ich konnte es nicht erwarten, in den Zug zu steigen und bei Oma nach dem Rechten zu sehen.

Als Mama und ich in den Vorgarten kamen, blieb ich stehen. Ich starrte auf das Haus und konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Die Lichter waren willkürlich angeordnet. Ich erkannte keine mathematische Folge erkennen. Jetzt war auch meine Mutter beunruhigt. Ich merkte es an ihren leicht zusammengezogenen Augenbrauen. Oma öffnete uns die Tür: „Wollt ihr nicht reinkommen? Es ist doch kalt draußen.“
Ich stotterte: „Oma, was ist denn mit den Lichtern passiert? Hast du ein neues System? Ich kann es nicht durchschauen.“
Oma lachte. Sie klang wie ein junges Mädchen. So lachte sie sonst nicht. „Die Lichter hat Wolfgang aufgehängt. Jetzt kommt doch endlich rein, dann stelle ich ihn euch vor.“
Wolfgang? Meine Oma ließ irgendwelche Männer ihre Lichterketten anbringen? Ohne ein mathematisches Prinzip? Mir wurde schlecht. Meine Mutter dagegen war begeistert: „Mutti, hast du etwa jemanden kennengelernt? Das ist ja wunderbar. Papa ist jetzt schon so lange tot und du bist zu viel allein. Wo ist er denn?“
Während meine Mutter Wolfgang begrüßte, hatte ich das Gefühl, mein Herz würde in tausend Stücke zerbrechen. Omas wunderschöner, aufgeräumter Weihnachtsbaum war ein einziges Chaos. Er sah jetzt genauso aus wie jeder andere Baum auch. Ich bekam keine Luft mehr. Der ganze Raum schien mich zu erdrücken. Mein sicherer Hafen, mein Ruheplatz, war einfach verschwunden. Meine Oma hatte ihn diesem Wolfgang geopfert. Ich rannte aus dem Zimmer, setzte mich auf die Treppe und rang nach Luft.
Oma war mir gefolgt und setzte sich neben mich.
„Es tut mir Leid, ich weiß, dass das ein Schock für dich sein muss. Ich hatte überlegt, dir vorher von Wolfgang zu erzählen, aber ich hatte Angst, dass du dann gar nicht kommst.“
Ich konnte ihr nicht antworten, also redete sie weiter: „Wolfgang und ich haben uns Anfang des Jahres kennengelernt. Es hat sehr lange gedauert, bis ich ihm vertrauen konnte. Aber jetzt bin ich sehr glücklich. Ich hoffe, dass du dich für mich freuen kannst.“
„Natürlich freue ich mich, wenn du glücklich bist, aber warum muss er denn alles durcheinander bringen? Wie kannst du denn zulassen, dass er unseren Baum durcheinander bringt?“
„Ach, meine Liebe. Wolfgang hat mir so viel beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie ich mich von diesen Zwängen befreien kann. Durch seine Liebe ist mein Leben so viel leichter geworden.“
„Zwänge? Du bezeichnest unsere Traditionen als Zwang? Du klingst wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film. Ich will nach Hause.“

Ich schluchzte. Mir war klar, dass jetzt ohnehin kein Zug mehr fuhr. Zurück ins Wohnzimmer wollte ich auch nicht. Ich ließ Oma sitzen und rannte die Treppe nach oben, in das Gästezimmer, in dem ich immer übernachtete, wenn ich bei Oma war. Dort traute ich meinen Augen nicht. Oma hatte einen zweiten Baum für mich aufgestellt. Er sah so aus, wie ein Christbaum aussehen sollte: die komplette Dekoration war ordentlich aufgeräumt und hing in Reih und Glied. Als ich mich umdrehte, stand Oma in der Tür und zwinkerte mir zu und ich blinzelte zurück.
 



 
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