Geschwistertreffen

Masada

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Nürnberg 2023, die Stadt mit ihrer ganzen Geschichte lag bereit, nass, kalt, in Ankündigung von
Schneegewittern, in einem sanften Braun, das die vorherrschende Farbe der Sandsteine ist, aus
der sie erbaut. Sie hatten bewusst diese Stadt gewählt für ihr jährliches Treffen unter den
Geschwistern, sie suchten nach dem Verstehen an dem Ort, wo die braune Ideologie geschmiedet
wurde.

Kaum eine Stadt polarisiert geschichtlich so wie Nürnberg, vereint sie doch den Beginn und das finale
Ende eines Regimes in einer Distanz von zehn Kilometern. Hier das Festgelände der NS
Parteitage und der Anfang des geplanten tausendjährigen Reiches, dort der Court Room 600 im
Gerichtsgebäude, wo die Sieger nach den dreizehn Jahren des Schreckens und den blutigen
Ergebnissen nationalsozialistischen Größenwahns mit den verbliebenen vierundzwanzig Nazigrößen
abrechneten. Sie hatten den zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, in Blut watend, Europa erobert,
unsägliche Schmerzen und Leid erzeugt, gestützt durch die Nürnberger Rassengesetze, sechs
Millionen Juden den Weg ins Jenseits durch den Schornstein diktiert.

Der Vertrag der Sieger von 1918 war der Wegbereiter für die Verlierer von 1945. Ihnen gelang es
nun Verständnis und Zustimmung zu schaffen für den Judenhass, das Perfide hinter Rasse, Gesetz, Blut
und Ehre, welches jetzt die Völker der Achsenmächte des ersten Weltkriegs packte und anheizte.
Die Fahne der Schmach der Verlierer veränderte sich, das Hakenkreuz ursprüngliches Symbol für die
„Wende zum Glück“ wurde jetzt zur Symbolik für die "Reinheit des Blutes“ umerzogen. Die Partei formte,
aus den Inhalten ihres Manifestes ein Produkt. Es war so klar, so logisch und so furchtsam, dass sie alle
mitmachten, Opposition wurde niedergewalzt und zertreten, es gab keinen Widerspruch mehr, es gab nur
einen Führer.

Die Schwestern wollten Aufklärung, setzten sich in der Stadt bewußt der Aufarbeitung
aus, ängstlich den Bruder fragend, der sich mit Geschichte und Lüge dieser Zeit befasste. Er
versuchte zu antworten und spürte wieder dieses Gefühl der Angst, dass in ihm hochkroch, wenn es galt,
Dinge zu sagen, die seinen Vater ins Zwielicht setzten könnten. Er hatte als Soldat der Wehrmacht an
diesem wahnsinnigen Krieg teilgenommen, eingesetzt auf dem Balkan, einem der brutalsten Schlachtfelder
des zweiten Weltkrieges. Den Bitten seines Sohnes nachgebend hatte er sich drei Jahre vor seinem Tod vier
Interviews gestellt. Die Fragen waren aus verschiedenen Quellen und Archiven in mühevoller Recherche
geformt die Ihm der Sohn jetzt stellte, der Vater beantwortete alle. Gedächtnis verklärt, färbt, läßt oft
verstörende Erinnerungen zurück und verdrängt zum Teil die Gräuel des Erlebten.

Er war jung, selbst noch ein Kind gewesen, hatte keinen Vater mehr, drei Brüder und
die Mutter hatte er in seinem Dorf zurückgelassen. In einem Dorf, wo die Verwandlung und
Anpassung an das Braune mit dem Anschluß Österreichs an Deutschland dermaßen schnell
vollzogen wurde, dass der Nachbar, gerade noch nett grüßend, jetzt als Bauernführer besoffen
von dem Nazi Gift zur komplexen Gefahr wurde. Er half nicht mehr, bedrohte die Witwe mit ihren
Söhnen, vergessend, dass bereits der Älteste an der Front für Deutschland kämpfte und bereit sein
mußte, sein Leben zu geben, seine Brüder würden ihm folgen müssen.

Der Vater sprach nur von den Partisanen, die Ihnen nach dem Leben trachteten. Den Deutschen
stand dort keine reguläre Armee entgegen, sondern Titos Soldaten, die kämpften als Zivilisten getarnt. Ihre
Angriffe waren Hinterhalte, oft gut getarnte Sprengfallen, Verführungen von schönen Mädchen die unter
Vorspiegelung von Leidenschaft dem Messer den Weg zu Kehle des Nems’ki zeigten, den
Überraschungseffekt ausnützend. Deren dezentrale Taktik ohne erkennbaren Frontverlauf, war die
deutsche Kriegskunst der Blitzsiege, der auf breiter Front angreifenden Kriegsmaschine nicht gewachsen.
Sie wußten sich nicht mehr zu helfen aus Siegern wurden Verlierer der erhoffte Endsieg war dahin und
so war Ihre Antwort - Vergeltung und Mord am Zivilen in Anwendung der dafür ausgegebenen Formel des
Führers 1:100.


Der Vater hatte nicht verstanden, dass im Herbst 1944 Titos Faust langsam und stetig die
Heeresgruppe E, der er angehörte, zerquetschte. Sie flüchteten zu Tausenden unkontrolliert,
unorganisiert, zu Fuß über den Balkan Richtung Norden. Ihr Ziel war es die Kärntner Grenze zu erreichen,
dort waren bereits die Engländer bei denen sie Gnade erhofften und damit eine milde Strafe für Ihre Taten zu
finden.
Er schaffte es nicht, ein Hinterhalt der Partisanen beendete sein Wehrmachtsdasein, danach folgte
nur noch Folter, Hunger, Schreie, Liquidierung, Schmerzen. Jetzt galt Titos Rachehand- Befehl für alle
Angreifer, Kollaborateure und Verräter denen er schwor das sie die Berge und Felder ihres Heimatlandes
nicht mehr erblicken würden. Er wollte all dem trotzen den sein unbändiger starker Wille
galt den Bergen und Feldern seiner Heimat, genau dorthin wollte er zurück. Die Partisanen forderten harte
Arbeit, Unterwürfigkeit und Ergebenheit, er gab es Ihnen um zu überleben Ideen für die Flucht wurden
geschmiedet, die Gelegenheit ergab sich und er nutzte sie.

Der Heimkehrer stellte sich in seinem Dorf den Siegern, England entnazifizierte ihn und entließ ihn
aus dem Bann des Adlers. Endlich war er zurück, startete genau an jenem Ort, den er drei Jahre
zuvor unfreiwillig verlassen hatte, die vier Brüder wieder vereint und die Mutter hatte alle Gefahren,
der Sie ausgesetzt war gemeistert, sie hatten als Familie überlebt.

Er verdrängte sein Trauma, er war ein liebevoller Vater, der gegen seine Kinder nie die Hand
erhob, er bewachte, beschützte und war immer der Helfer, sie wuchsen „behütet“ auf. Die
Erziehung, die sie genossen, war streng nach den alten Werten ausgerichtet, der Besuch der
Sonntagsmesse Gesetz, dem konnte man nur durch Krankheit entrinnen.
Das Heim, das er seiner Familie schuf, wurde so zum Fundament, das den Geschwistern jene
Rampe bot, die den glücklichen Start ins Leben ermöglichte.

…. Avocado Toast oder doch Pancakes mit Raffaello und Waldbeerenpüree und
karamellisierten Äpfeln, die vier Geschwister starteten mit vielen Fragen zu den angebotenen
Frühstücksspeisen in den Tag. Der Genuss von Kaffee und der Hunger auf Verstehen
spornten sie an. Die Tribüne, die des Luftschiffs-Erfinders Namen trägt, erstaunte und
warf Fragen auf. Der weite Blick über das Zeppelinfeld von jenem Platz, den der gefallene Führer
des Dritten Reiches zur Verlesung elendig langer ideologischer Traktate nutzte, offenbarte ihnen sehr
deutlich, welch starke Signale der Verblendung den Völkern unter dem Hakenkreuz von hieraus gesendet
wurden.

Wie kamen diese Signale im Heimatdorf des Vaters an. Interessierte es oder wurde
es unter der täglichen Arbeitsmühe, die Menschen jener gesellschaftlichen Stellung der er
angehörte, einfach nicht verstanden oder hatte er keine Zeit bei all der Arbeit die man verrichten
mußte, um dem Hunger jene tägliche Portion zu geben, die ihn stillte.
Die Geschwister spürten ein leichtes Kribbeln, als sie im Court Room 600 saßen und interessiert
mit geöffneten Augen dem Text des elektronischen Guide lauschend über jene Vorgänge informiert
wurden, die hier stattfanden. Sie erahnten jetzt wie unheimlich schwer es für die Ankläger war, hier
Recht zu sprechen. Zwölf der vierundzwanzig Angeklagten wurden direkt nach dem Ende des
Prozesses gerichtet oder sie richteten sich selbst.

Genau zur selben Zeit wurden im Dorf des Vaters die Toten des Krieges gezählt. Die wenigen,
die zurück kamen, erzählten unter Tränen über das Erlebte von fernen Fronten, den Weltmeeren,
wo sie als Matrosen nach der Versenkung ihres Schiffes trieben, oder als Gefangene und Verlierer.
Sie waren der vollen Wucht der Niederlage und des angerichteten Wahnsinns ausgesetzt und bekamen das
jetzt zu spüren. Es gab aber auch jene, die im Bierdunst der Gasträume nur diesen Geschichten lauschten,
schwiegen und stumpf und starr in ihr Glas blickten. Ihr Trauma war vielfach nur vermutet, aber es war
spürbar. Sie waren jetzt die verlorene einsame Wölfe ohne ihren Rudelführer, beraubt Ihres Totenkopf-
Symbols auf ihren Uniformen. Sie waren die Elite, die Herrenrasse gewesen, und hatten in den SS
Leibstandarten, Totenkopfverbänden oder Sonderpolizeieinheiten gedient, gesäubert, gemordet, deportiert,
sie zertraten mit ihren Soldatenstiefeln alles Leben, das nicht in das System passte.

Jetzt lebten sie alle einfach als eine Gruppe der Kriegsheimkehrer, wieder als Menschen vereint
hineingepresst in die Friedlichkeit und dem Versuch Fuß zu fassen in der neuen Ordnung. Fragen über
Vergangenheit waren nicht gewünscht, Erklärungen wurden angepasst blieben nur Versuche, alle
wollten einfach nur vergessen.
Sie zeugten neues Leben, schufen Existenzen und doch vermissten sie den germanischen Geist der
Vergangenheit. Sie organisierten sich in Verbänden zur Ehre der Helden der Heimat. Jenen echten Helden
von 1914 - 1918 wurden jetzt die vermeintlichen Helden von 1939 - 1945 angeschlossen. In vollkommender
Unkenntnis des historischen Geschehens oder bewusster Verschleierung mit Vorsatz warf man sie jetzt in
einen Topf, um ihnen ewiges Erinnern angedeihen zu lassen.
Auch ihr Vater trat diesen Bewahrern des Kameradenkultes bei, nichtsahnend, naiv sprach
auch er vom Wir. Sie trugen Fahnen und vergaßen, dass in ihren Reihen der alte Chorgeist der
Nazis weiterlebte, wie ein Virus, den sie unwissend einsogen und ihm so den Fortbestand
sicherten.

Die Geschwister diskutierten, wie und wo sortiert man nun den Vater ein und wie jene, die noch
heute mit persönlichen Devotionalien an sich und ihre militärische Stellung damals erinnern
wollen. Sie schlossen sich diesen Kameradschaften nicht an, sie fühlten sich noch immer zu
den Bewahrern der höheren feinsinnigen Lehre des Hakenkreuzes verpflichtet.
Die Traditionsverbände müssten sich, entsprechend dem biologischem Prozess des Aussterbens, eigentlich
auflösen. Doch es folgen ihnen Junge nach, eben wieder solche, die so wie einst 1932 die Ideologie und
den ganzen NAZI-Dreck von Gesetz, Blut und Ehre wieder nicht verstehen und auch nicht darüber
nachdenken. Sie waren nicht im Krieg wie ihre Väter, marschieren trotzdem weiter für die Helden mit ihren
Fahnen und aber immer im Gleichschritt, in Reih und Glied.

Das feine Filetieren und die Wachsamkeit im Umgang mit den kleinen aber wichtigen Tatsachen
ist essentiell, riet der Bruder. Wer war Nazi, wer nur Soldat, wer vertrat die Ideologie,
wer versuchte einfach nur zu überleben, in Angst, dass seine Lieben zu Hause der Sippenhaftung
zum Opfer fielen. Sie waren sich einig, dass es in den Reihen derer die den Krieg begannen keinen Platz
gibt für Helden, Verblendete benötigen keine Traditionsvereine, sie lauschten den Nachrichten der vollen
Stunde, sie begannen mit der Meldung „Ein Symbol für Russland und die Ukraine ist die Stadt Bachmut -
im heldenhaften Kampf starben diese Woche 2.500 Soldaten auf beiden Seiten und trotzdem……….“
 



 
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