Gespräch mit einem Engel

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„Gestatten? Stock. Alfred Stock.“ Der Alte stand von seiner Parkbank auf und verbeugte sich, ohne dabei den Kopf ganz zu senken.
„Ich weiß.“
„Und Sie?“
„Und ich?“
„Wie heißen Sie? Ich meine, das ist doch eine Frage der Höflichkeit…“
„…mein Name ist Engel.“
„So, so. Engel also. Und Ihr Vorname, Alter, Wohnsitz? Darf ich mal Ihre Papiere sehen?“ Alfreds Hände stemmten sich in die Hüften. Über 40 Jahre hatte er sich so Respekt verschafft.
„Papiere? Finden Sie es nicht ein wenig albern, mich, gerade mich danach zu fragen?“
„Albern? Ich weiß genau, was Sie da oben treiben, Herr Engel, mir machen Sie nichts vor! Los kommen Sie da runter, die Show ist längst vorbei!“
„Warum sollte ich? Ich bin beschäftigt, sehen Sie das nicht?“
„Was ich sehe, ist eine schwebende Holzfigur, die hochnäsige Antworten gibt und einem alten Polizisten nicht gehorchen will.“
„Holzfigur? Wo sehen Sie denn noch Holz an mir? Das ist doch nun schon einige Stunden her…“
„Hören Sie, ich weiß doch bescheid! Von Anfang an habe ich hier alles beobachtet und vor allem Sie dabei keine Minute aus den Augen gelassen! Noch bevor heute Morgen der ganze Trubel begann und man Sie da zum Kreuz hochgehievt hat, saß ich schon hier. Die ganze Zeit habe ich es auf meiner Bank ausgehalten, habe gewartet und gewartet und gewartet. Also erzählen Sie mir keine Märchen! Sie müssen aus Holz sein, aus was denn sonst?“
„Sie haben gewartet? Warum?“
„Warum, warum! Was soll die Fragerei!? Bisher habe ich immer die Fragen gestellt, und zwar mein Leben lang!“
„Vielleicht haben Sie die falschen Fragen gestellt…“
„Die falschen Fragen? Ach Quatsch! Ich bin es nur nicht gewöhnt...“
„Worauf haben Sie gewartet?“
„Sie sind mir ja einer, schweben da oben herum, als ob Sie was Besseres wären, und dabei sind Sie von der Neugier geplagt, wie andere vom Rheuma. Kommen Sie da runter und ich erzähle es Ihnen…“
Alfred gähnte und setzte sich erschöpft auf seine Bank zurück. Die Müdigkeit lief über sein Gesicht, zog ihm für einen Moment die Augenlider zu, ein tiefer Seufzer kroch aus ihm heraus.
„Worauf haben Sie gewartet?“, flüsterte es nun in sein Ohr. Erschrocken fuhr Alfred hoch.
„Geht’s noch? Einen alten Mann so zu erschrecken! Was erlauben Sie sich denn!“
„Warum schimpfen Sie mit mir? Sie wollten doch, dass ich mich zu Ihnen setze!?“
„Ja schon, aber müssen Sie mir deshalb gleich ins Ohr pusten!“
Ungläubig musterte der Alte seinen neuen Banknachbarn.
„Tatsächlich, das Holz ist weg! Und diese Ähnlichkeit! Wohin haben Sie den Holzengel gebracht? Sie wissen, dass ich den Diebstahl anzeigen werde, es ist meine erste Bürgerpflicht…“
„Keine Sorge, Herr Stock, ich habe nichts gestohlen. Aber nun verraten Sie mir, auf was Sie den ganzen Tag gewartet haben?“
„Auf Attentäter zum Beispiel…!“
„Attentäter, hier in Grötzingen?! Ich bitte Sie! Waren es nicht vielmehr Kinder, auf die Sie gewartet haben? Und kaum hatte sich eines auf die untere Gerüststange geschwungen, standen Sie schon daneben und haben es laut schimpfend wieder heruntergeholt!“
„Na und? Was macht das für einen Unterschied, die Verbrecher werden doch heutzutage immer jünger…“
Dann, sehr leise, fügte Alfred noch hinzu: „Vielleicht habe ich auch darauf gewartet, dass sich jemand zu mir setzt. Aber“, wieder entwischte ihm ungewollt ein Seufzer, „wer will schon etwas von einem alten Polizisten wissen.“
„Ach? Und dabei sah ich heute, wie Sie von vielen Menschen gegrüßt wurden…“
„Ja“, lachte der Alte bitter auf, „gegrüßt, wie ein Denkmal. Und manche zischeln sich dabei zu: ‚Ach, der alte Stock lebt also auch noch!’“
Langes Schweigen zog sich durch die Nacht.
„Beim ersten Sonnenstrahl werde ich mich auf den Weg machen.“
„Kommt gar nicht in Frage, Sie gehören jetzt zu Grötzingen, auch wenn sie ein Neigschmeckter sind und es auch für immer bleiben werden!“
„Sie werden mich nicht halten können…“
Wieder schwiegen die beiden, nicht weit entfernt donnerten endlose Züge durch die Nacht.
„Wohin werden Sie gehen?“, fragte Alfred.
„Dahin, wo kein Frieden ist. Die Welt ist groß.“
„Mit dem Kreuz?“
Herr Engel lachte kurz und schüttelte dann energisch den Kopf. „Das Kreuz ist mir über die Jahre zu schwer geworden.“
„Ohne Kreuz wird es keinen Weltfrieden geben, da bin ich sicher!“
„Schon möglich, Herr Stock, schon möglich. Große Symbole können für viele ein Leuchtturm sein. Vielleicht aber warten die Menschen auf etwas anderes.“
„Worauf sollen sie schon warten?“
„Sie warten darauf, dass sich jemand zu ihnen setzt, ihnen zuhört, sie ernst nimmt… Auf einem Panzer kann man niemandem zuhören, nicht einmal sich selbst.“

Am nächsten Morgen waren der Holzengel und Alfred Stock spurlos verschwunden. Einige Stunden suchten die früheren Kollegen vergebens nach ihnen, dann fand man in der Nähe einer Bank einen kleinen Zettel:
„Bin mit Herrn Engel in Sachen ‚Zuhören’ unterwegs. Sucht mich nicht, die Welt ist groß.“
 



 
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