Gestatten, Don Quichotte! – Kapitel vier

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hein

Mitglied
Hallo Joe,

"Soll ich Ihnen mal die Seele zuckern?"

Können wir das im Moment nicht alle brauchen? Ich freue mich auf die Fortsetzungen.

LG
hein
 
Oskar Kühlerblech und Kettensäge, Oskar lanzenblau - da schmeiß ich den Oskar Matzerath für weg.
Auf den Beruf einer Vogelscheuchengestalterin muss man auch erst mal kommen!

Aber es gibt in dieser schönen Episode für mich auch ein Aber:

«Wissen Sie denn nicht, meine Schöne, dass man die Dinge als das sehen sollte, was sie wirklich sind?» entgegnete Don Quichotte. Er hielt seinen Regenschirm steil in den Himmel. «Dieses hier ist eine wirkliche Lanze!»
Helmchen Bethke rückte auf Nasenspitzennähe heran. «Herr Ritter, aber ja, ich weiß es! Und ich habe es auch sofort bemerkt! Wie konnte ich nur solch einen Unsinn reden! Es ist eine wirkliche Lanze!

Also, im Grunde ein schöner szenischer Dialog, leider versemmelt. Das "Wirklich" muss drei mal weg, zumindest aber zweimal, unbedingt. Denn so, wie es da steht, ist es Bekräftigung, welche "in Wirklichkeit" die literarische Wirklichkeit (als Er-Findung?) entkräftet.

(Auch und gerade, wenn es nachher um das wirkliche Ich geht und dieses schön salopp und philosophisch unbestimmt umkreiselt.)

Findet:
Binsenbrecher
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Geschätzter Binsenbrecher, ich bedauere, deine Argumentation verstehe ich nicht. Ich zitiere mal aus Kapitel eins:
«Weil es das Blaue Buch so erzählt!» Don Quichotte hatte das Buch aus der Jackentasche gezogen. Er blätterte eifrig und hatte auch schon die Stelle gefunden, wo es hieß: Der Ritter aber sah in seinen Gedanken alles, was man nicht wirklich sehen konnte. Diese Stelle las er dem Stallmeister zweimal vor. Und weiter las er: Und es verwandelten sich dem Ritter die sichtbaren Dinge der Alltäglichkeit in die Wonnen seiner Fantasie.

Nichts anderes passiert in dem Dialog der beiden "Wirklichkeitsentrückten". Er weist sie auf ihr "Vergucken" hin, sie begreift und korrigiert.
Gruß JF
 
Na klar, während der Quichotte in seine Rolle schlüpft, ist beides noch vorhanden, die sog. Wirklichkeit und die Phantasie. Danach wird er, jedenfalls nach meinem Verständnis, und zwar sowohl bei Cervantes wie bei Fliederstein, komplett ausgefüllt von seiner neuen Rolle, die eben keine mehr ist, sondern seine neue Wirklichkeit. Die Windmühlenflügel, gegen die er anrennt, sind für ihn so wirklich riesenhafte Feinde, dass kein Raum auch nur für den Hauch eines Zweifels ist; jegliche Skepsis ist ihm fremd.

Von daher können einschränkende Beteuerungen, wie die, dass sein Regenschirm wirklich eine Lanze sei, nicht von ihm kommen. Oder sind wir uns etwa darüber uneins, dass jemand, der versucht, etwas als "wirklich" zu bekräftigen, keinesfalls von dessen fragloser Wirklichkeit überzeugt ist?
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Geschätzter Binsenbrecher,
diesbezüglich sind wir uns nicht uneineins. Allerdings: Es sieht nicht ganz so "abgeschlossen" in der Figur des Don Quichotte aus, wie du es beschreibst. Bei Cervantes ist der Don von Beginn der Geschichte an ein "Verrückter", ein aus der Wirklichkeit "Entrückter", und er bleibt es bis zum Ende der Geschichte. Bei Fliederstein ist er das nicht: In ihm (seinem Ich, das er unetwegt umkreist) ist der Zweifel, und der bleibt dort auch bis zum Ende seiner Geschichte. Ich denke, darauf können wir uns einigen, vorausgesetzt, du liest den Fliederstein-Text bis zum Ende von Kapitel sieben; denn noch da ist im Don der Zweifel. Und der Zweifel lässt ihn hin und wieder seine "Wirklichkeit" bekräftigen, wie du schreibst, weil er sie nicht uneingeschränkt sicher für sich hat. Das nämlich ist – aus heutiger Sicht – die Schwäche der Cervantes-Figur (ich muss nicht bekrätigen, wie großartig Cervantes gearbeitet hat, und wie sehr ich ihn bewundere), in der Cervantes-Figur ist kein Zweifel angelegt.
Gruß JF
 
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G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Ja, Binsenbrecher hat es treffend formuliert: Den Oskar M. kann man getrost zur Seite legen... Der interessanteste Aspekt für mich geht aus der Diskussion hervor: Cervantes D.Q. als Mensch ohne alle Zweifel - gewiss. Der fliedersteinsche D.Q. als Figur mit Selbstzweifeln? Wäre er damit nur ein "Teil-D.Q."? Die Wirkung des originalen D.Q. speist sich vermutlich aus genau dem fehlenden Zweifel an der eigenen Weltsicht, der das Mitgefühl des (voyeuristischen) Lesers zu erregen im Stande ist; ein D.Q. mit einer zumindest teilweisen Einsicht in die Relativität seiner Wahrheiten erinnert mich an den modernen Menschen, mit dem Mitleid zu haben allerdings etwas schwerer fällt...
 
G

Gelöschtes Mitglied 21114

Gast
Hi Penelopeia,
ich stimme dir zu: "Die Wirkung des originalen D.Q. speist sich vermutlich aus genau dem fehlenden Zweifel an der eigenen Weltsicht …" – und das ist aus meiner Sicht heute die Schwäche der Figur, heute! Sie ist zum Hampelmann geworden. Kaum jemand (frag in den Büchereien nach) liest heute noch den originalen Cervantes, und einige, die hier kommentiert haben, schreiben, dass sie ihn nie gelesen haben. Die Figur lebt als Legende. Ist sogar höchst lebendig, so dass Hollywood mit der Verabeitung zum Musical einen guten Griff getan hat. Das Original würde sich auch hervorragend für einen Zeichentrickfilm eignen (vermutlich gibt es sowas auch, ich weiß es nicht). Der gelegentlich aufkeimende Zweifel aber macht den Unterschied der Figuren. Ich habe über das Thema "gelegentlich aufkeimender Zweifel in einer neu verinnerlichten Rolle" mit einem Psychotherapeuten gesprochen, von dem ich wissen wollte, ob es realistisch ist, den Zweifel in meiner DQ-Figur augenblicksweise aufkeimen zu lassen, um sie dann wieder in die absolute Entfremdung von sich selbst laufen zu lassen. Seine Antwort: "Ist es."
Danke für dein Interesse an der Erzählung. Joe Fliederstein
 



 
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