Wasser
Nichts als Wasser, soweit sein Blick reichte.
Seitdem sein Schiff auf das Riff gelaufen war, trieb er, an ein großes Brett geklammert, auf der offenen See. Es war nun schon der vierte Tag. Sein Mund war ausgedörrt, der Hunger quälte ihn, doch er war nicht mehr so schlimm wie am zweiten Tag. Er hatte keine Hoffnung mehr und war schon nahe dran, einfach das Brett loszulassen und sich seinem Schicksal zu ergeben. Er vermutete ganz stark, dass er weit von allen Schifffahrtsrouten entfernt sein musste.
Seine Kraft war fast aufgebraucht. Nur noch wie ein Automat hielt er sich an dem Brett fest, unfähig, seine Finger zu öffnen, um es los zu lassen. Sie waren so um das Brett gekrampft, dass er sie sich schon brechen musste, um ins Wasser zu gleiten.
Er dämmerte langsam in einen leichten Schlaf.
Und er träumte:
Er stand am Hafen. Die Sonne brannte vom Himmel, als wolle sie die letzten paar Regenwochen auf einen Schlag wett machen. Die Ernte der Bauern hatte sehr gelitten und es würde wohl im Winter eine Hungersnot geben, wenn sich die Felder jetzt nicht ein wenig erholten.
Er sah dem Treiben auf den Docks zu.
Seemänner vergnügten und scherzten mit Dirnen, Unfreie beluden die Schiffe, Kaufleute feilten mit den Kapitänen um Waren, Fischer brachten ihre Waren ein..... Dies alles interessierte ihn sehr. Er hatte ein unstillbares Verlangen, einfach auf einen der Kapitäne zu zugehen
Und anzuheuern. Er wollte in das neue Land, das man vor kurzem entdeckt hatte. Wildes, ungezähmtes Land, gemacht für Abendteurer!
15 Jahre war es nun her, seit das erste Mal ein Mensch dieses Land betreten hatte. Er war damals gerade vierzehn geworden. Gespannt lauschte er den Reiseberichten der Matrosen und verwegenen Burschen, die zurückkehrten. Er träumte oft des Nachts von weiten Wäldern, unbekannten Tieren und Siedlerstädten. Er nahm sich fest vor, wenn er im richtigen Alter war, würde er in das Land ziehen und sich dort ein Leben aufbauen, fern von den strengen Regeln auf dem Hof seines Vaters, eines Großgrundbesitzers und Viehzüchters.
Aber sein Vater machte eines Tages seinen Zukunftsgedanken ein jähes Ende.
Als er, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, ausreiten wollte, kam sein Vater über den Hof und wies ihn an, zu sich ins Haus zu kommen.
Im Salon eröffnete er ihm, dass nun die Zeit gekommen war, in der er die Frau heiraten sollte, die er für ihn ausgesucht hatte.
Er widersprach heftig, doch sein Vater fuhr ihm über den Mund.
„Du wirst das Mädchen heiraten, die Tochter meines guten Freundes! Es ist schon vor achtzehn Jahren bei deiner Geburt beschlossen worden. Du wirst mit ihr leben und sie wird dir Kinder gebären.“
„Aber Vater, ich kann sie nicht heiraten, ich kenne sie doch gar nicht. Wie kann ich ein Leben mit einer Frau verbringen, die ich noch nie gesehen habe? Und wieso sagt Ihr mir das erst jetzt? Ich habe die ganzen Jahre hindurch nichts davon gewusst.“
„Was hätte es geändert, wenn du es gewusst hättest? Deine Mutter und ich kannten uns vorher auch nicht. Wir sahen uns am Tag der Eheschließung zum ersten Mal. Und? Hat es uns geschadet? NEIN!“
„Ich will nicht heiraten, ich bin noch nicht bereit dazu.“
„Kar’dar d’Ebis, du bist alt genug. Ich war damals genau so alt wie du jetzt. Du wirst nächsten Sommer heiraten und fertig. Wenn du versuchst, der Ehe zu entgehen, wird es böse Folgen für deine Zukunft haben. Basta und Ende!“
„Ich will nicht!“
„Du wirst!!“
Damit ging er hinaus.
Kar’dar beugte sich dem Willen seines Vaters. Doch er wusste, er wird die Frau, mit der er leben musste, nie lieben können. Er erfüllte zwar seine Pflicht als Ehemann, doch mehr war nicht.
Ein Jahr nach der Trauung gebar sie ihm eine Tochter. Das Mädchen starb noch im Kindbett. Warum wusste niemand. Im Jahr darauf schenkte sie seinem Sohn das Leben. Das Kind lag verkehrt und sie verlor sehr viel Blut. Die Frauen sagten, der Kleine schwamm in einem See aus dem Blut seiner Mutter. Bei der Niederkunft starb seine Frau. Kar’dar gab dem Jungen den Namen: Dlir’l’arf, was in der alten Sprache der Elfen „Blutiger Fuchs“ bedeutete.
Der Kleine gedieh prächtig. Er war jetzt 8 Jahre alt, doch er hatte bereits die Größe und das Verständnis eines 12jährigen. Dem Kind war nichts zu gefährlich. Er versuchte, auf noch nicht zugerittene Pferde zu klettern. Wenn man nicht aufpasste, dann war er schneller abgeworfen, als er oben war. Er strolchte in alten, stillgelegten Mienen herum, spielte Goldsucher, trieb sich zwischen den Rindern herum und hatte keine Angst vor einer Stampede.
Kar’dar interessierte sich kaum für das Kind. Ja, natürlich war es sein Fleisch und Blut, aber er konnte sich nicht recht in seine Rolle als Vater finden. Für ihn war das Kind halt da.
Als er an diesem Junitag am Pier stand, kam der Kleine plötzlich angerannt, als sei der Teufel selbst hinter ihm her. Schon von weitem hörte er ihn nach ihm rufen: „Vater, Vater, kommt rasch. Es ist was mit Großvater. Ich glaube, er stirbt!“
Kar’dar schwang sich auf sein Pferd und trieb das Tier zu größter Eile an. Die Leute um ihn herum sahen ihn verständnislos an und beeilten sich, ihm auszuweichen, bevor er sie nieder ritt. Sie schimpften hinter ihm her, doch das hörte er schon nicht mehr.
Auf dem Hof warf er einem Knecht die Zügel zu und rannte ins Haus. Seine Mutter saß mit verweintem Gesicht im Salon.
„Mutter, was ist geschehen? Dlir sagte, dass Vater im Sterben läge... !“
„Es ist so, mein Sohn. Er wollte Schattenfell brechen. Doch er warf ihn ab. Dein Vater verfing sich im Steigbügel und wurde von Schattenfell mehrfach mit dem Huf am Kopf getroffen. Der Heiler sagt, er wird wohl nicht durchkommen.“
„Ich muss zu ihm!“
Kar’dar rannte nach oben. Auf dem Flur kam ihm der Heiler entgegen. Kar’dar blieb aprubbt stehen. Der Heiler schüttelte stumm den Kopf. „Ihr kommt zu spät, M´Lord. Euer Vater starb gerade eben. Die Kopfverletzungen waren zu schwer. Ich konnte nichts mehr tun.“
Kar’dar stürmte in das Zimmer. Sein Vater lag dort, sein Kopf war mit einem Verband umgeben. Er lag da, als ob er schlief. Er kniete sich an das Bett, ergriff seine Hand und weinte. Seit langem zum ersten Mal wieder.
Wie lange er so gesessen hatte, wusste er nicht. Als sein Sohn seine kleine Hand auf seine Schulter legte, kam er wieder zu sich. Wie betäubt stand er auf und ging nach unten. Im Salon fragte er: „Wo ist Schattenfell?“
Seine Mutter sah ihn entsetzt an. „Du willst doch nicht...? Nein! Das Tier hat mir meinen Mann genommen, lass die Finger von ihm. Ein Knecht wird es töten.“
„Nein Mutter. Auch wenn es Vater tötete. Schattenfell kann nichts dafür. Es war ein Unfall. Wo ist der Hengst?“
Dlir trat hinter hin und sagte leise: „Er ist im Stall. Ich habe ihn eingefangen und trocken gerieben.“
Kar’dar ging hinaus und holte das Tier aus dem Stall. Das Pferd war nicht so wild wie sonst. Es sah irgendwie niedergeschlagen aus, als wüsste es, was geschehen war. Es ließ sich leicht satteln, ohne die üblichen Eskapaden. Kar’dar stieg in den Sattel. Leise sprach er zu dem Tier.
„Großer, du willst wild und frei sein. Das wollen wir alle. Doch auch wir Menschen müssen uns beugen. Bitte, lass mich auf dir reiten. Trage mich, schnell wie der Wind.“
Schattenfell spitzte die Ohren. Er wollte das Gewicht auf seinem Rücken nicht haben. Er buckelte. Immer wieder. Kar’dar wurde hin und her geschleudert. Er saß auf dem Pferd mit fest geschlossenen Augen. Etwas stach in seine Arme und in seine Beine. Es scheuerte. Er öffnete die Augen.
Und erwachte.
Er saß nicht auf dem Pferd. Er wurde von den Wellen auf einen Strand geworfen. Das war es, was an seinen Gliedern scheuerte. Feiner Sand.
Kar’dar stemmte sich hoch und zog sich weiter auf den Strand hoch. Dort blieb er erschöpft mit geschlossenen Augen in der Sonne liegen.
Plötzlich kitzelte ihn etwas am Arm. Er öffnete die Augen und sah ein kleines Tier, welches aussah wie ein kleiner Drache. Kar’dar erschrak fürchterlich.
Doch nicht nur er. Auch das Tier wich zurück und stieg in die Lüfte. Es flog zum nahen Wald.
Dort verschwand es zwischen den Bäumen.
Kar’dar stemmte sich hoch und folgte dem Tier. Wo Tiere sind, da musste auch Wasser sein. Er hatte furchtbaren Durst. Er ging sehr langsam, da er schwach auf den Beinen war. Im Wald fand er auf dem Boden mehrere Regenwassertümpel, die zwar eine schmutzigbraune Brühe enthielten, doch es war Süßwasser. Gierig trank Kar’dar. Es schmeckte ihm besser als der beste Rotwein oder das Stoud, das normalerweise nur der König zum Genuss gereicht wurde.
Als er vom Boden aufstand, hatte er sich satt getrunken. Nun sah er sich ein wenig um. Kar’dar kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Pflanzen kannte er nicht. Auch die wenigen kleinen Tiere, die er sah, hatte er nie zuvor gesehen. Auf dem Boden fand er ein Blatt, welches aussah wie ein Farn, den er von dem Hof seines Vaters her kannte. Doch dieser hier war leuchtend blau gefärbt. Immer weiter ging er in den Wald hinein. Hinter einem Baum sah er das Tier wieder, welches ihm am Stand begegnet war. Hier hatte er Gelegenheit, es genauer zu betrachten, denn es hatte ihn nicht bemerkt.
Es war dunkelgrün und hatte das Aussehen eines kleinen Drachens, doch seine Flügel sahen aus, als wären sie von einer zu groß geratenen Fliege. Fast durchsichtig waren sie. Er nannte es kurzerhand „Drachenfliege“.
Langsam setzte die Dämmerung ein. Kar’dar suchte sich einen Unterschlupf für die Nacht. Er fand ihn unter einem umgestürzten Baum. Den Boden bedeckte er, zum Schutz vor Feuchtigkeit, mit den seltsamen Farnen, die er überall im Wald fand. Es dauerte eine Weile, bis er seine Überraschung über den Farbwechsel der Farne überwunden hatte.
Es war schon sehr verwunderlich. Alle paar Minuten wechselten die Pflanzen von Selbst die Farbe und nahmen dabei alle Farben des Regenbogens an.
Nachdem er sein Bett ausgepolstert hatte, schlief er tief und fest die gesamte Nacht hindurch.
Am anderen Morgen untersuchte er weiter den Wald. Er wusste, er musste etwas Essbares finden, damit er überlebte.
Gegen Mittag kam er einer der Drachenfliegen zu nahe. Er merkte, dass sie den Namen Drache zu Recht trugen. Feuerspeiend kam sie ihm immer näher. Nur einem glücklichen Umstand hatte er es zu verdanken, dass er mit dem Leben davon kam. Kar’dar war schon schwer angeschlagen, als plötzlich aus den Büschen eine Gestallt kam und ihm half. Das Wesen sah aus wie ein übergroßes Huhn. Ihm folgte ein Zweites. Gemeinsam erlegten sie die Fliege. Danach zogen sie sich zurück.
Kar’dar untersuchte das Tier und fand in seinem Besitz zwei Brote und etwas, das in einer kleinen Dose verschlossen eingepackt war. Er öffnete die Dose und holte das Etwas heraus. Es war ein Netz, gefertigt aus Moos, etwa ein Mal ein Meter im Quadrat. Sorgsam hob er es auf. Vielleicht brauchte er es irgendwann einmal. Das Brot verschlang er gierig, hob sich aber noch etwas für später auf. Dazu trank er wieder etwas Wasser aus den Tümpeln.
Gegen Nachmittag kam er zu einer Lichtung. Dort war alles so friedlich. Niemand tat dem Anderen etwas.
Er beschloss, dort eine Hütte zu errichten, in der er bleiben konnte.
Nach und nach fand er im Wald weitere Dosen mit den Netzen. Diese verwendete er, um den Unterbau für das Dach zu geben. Über die Netze breitete er Regenbogenfarne aus. Das Dach war dicht und schützte ihn vor Regen und Sonne.
An einem alten Baumstamm fertigte er sich einen Kalender an. Kleine Kerben im Holz zeigten die Tage, große, schräg gestellte die Monate.
Nach und nach beschaffte er sich Waffen und Rüstung. Diese Hühnerwesen ließen allerlei fallen, wenn man es schaffte, einen zu erlegen. Doch dabei musste man höllisch aufpassen. Sehr schnell war man umzingelt und kam nur mit Müh und Not wieder da raus.
Er fand Schwerter, grünlich schimmernde Rüstungen und auch ein Schild. Etwas Brot hatten diese Wesen auch immer wieder dabei.
Mit der Zeit merkte er, dass die Hühner drei verschiedene Stämme bildeten, die gegeneinander Friedlich waren, aber Drachenfliegen und ihn unerbittlich verfolgten.
Tief im Wald war eine kleine Lichtung. Auf ihr hatte eines der Wesen einen kleinen Verschlag, in dem es hauste. Mit der Zeit erkannte Kar’dar, dass es sich bei dem Hühnerwesen um eine Frau handelte und dass dies das einzigste von allen Stämmen war, welches ihm freundlich gesonnen war.
Er lernte von ihr viel. Die Pflanzen und Tiere dieser Insel waren seltsam und sie zeigte ihm, welche er essen konnte, welche Pflanzen Heilkräfte hatten und welche giftig waren. Von ihr lernte er auch die Sprache der Hühnerwesen, die sich Avare nannten. Die Frau war eine Art Priesterin. Alle Avare behandelten sie mit Ehrfurcht. Kar’dar durften sie nie zu Gesicht bekommen, da sie ihn dann sofort getötet hätten.
Kar’dar striff immer wieder durch den Wald, um die Pflanzen und Tiere, die die Priesterin ihm gezeigt hatte, zu erkunden und Heilpflanzen zu suchen. Auf eine dieser Wanderungen fand er eine seltsam rote Drachenfliege. Es war ein Weibchen und sie war schwer verletzt. Er nahm sie mit in seine Hütte und pflegte sie gesund. Zum Dank folgte sie ihm auf Schritt und Tritt. Er nannte das Weibchen J’dr’y.
Kar’dar war nun schon seit etwa einem Jahr hier. Oft dachte er an seine Mutter. Auch seinen Sohn vermisste er. Dlir war jetzt fast erwachsen und im heiratsfähigen Alter. Er wusste nicht, was zu Hause auf dem Hof so passiert war, seitdem er aufgebrochen war, um in der neuen Welt Geschäfte zu tätigen.
Wäre damals nur nicht dieser Sturm gewesen, der das Schiff auf ein Riff laufen ließ.
Jeden Tag ging Kar’dar zum Strand, an dem er damals gestrandet war. Doch in der ganzen Zeit hatte er nie auch nur eine Spur von einem Segel gesehen, das ihm hätte die Rettung bringen können.
Nach und nach hatte er die gesamte Insel erkundet. Eines Tages hatte er in den Klippen am Strand eine Spalte entdeckt. Er war ein wenig hinein gegangen, doch schon bald hatte ihn vollkommene Dunkelheit umfangen. Lange hatte er nicht mehr an sie gedacht, doch nun wollte er die Höhle dahinter erkunden.
Er machte sich Fackeln, rüstete sich aus und steckte Proviant und Wasser ein, da er nicht wusste, was ihn erwarten würde.
Als er in der Höhle selber die erste Fackel entzündete, verschlug ihm der Anblick den Atem.
So eine Schönheit hatte er nicht erwartet. Kar’dar stand in einer Tropfsteinhöhle, die in allen Ecken und Winkeln funkelte und leuchtete, sobald etwas Licht auf die Wände fiel.
Langsam erkundete er die Höhle und gelangte in einer weitere. Dort zündete er die nächste Fackel an. Schon bald merkte er, dass die Höhlen nicht unbewohnt waren. Es befanden sich Wesen in ihnen, die er aus alten Erzählungen über das neue Land kannte. Es waren Orks.
Er wich ihnen aus, so gut er konnte, doch schon bald hatten einige von ihnen ihm böse Wunden zugefügt. Doch er ignorierte sie, da sie ihn nicht behinderten.
In dem einen Jahr auf der Insel hatte er gelernt, sich nicht gleich für jedes Wehwehchen ins Bett zu legen und sich in aller Ruhe aus zu kurieren. Einen Arzt gab es hier nicht und er versorgte seine Verletzungen und Schrammen selbst. Das klappte auch meist ganz gut. Nur einmal hatte er mit einer Schwertwunde, die ihm ein Avar beigebracht hatte, ein paar Tage in Fieberträumen in seiner Hütte gelegen. Doch schließlich hatte er sich auf von dieser Wunde erholt. Es blieb nur eine Narbe zurück.
Kar’dar gelangte von einer Höhle in die Nächste. Eine war schöner als die Andere. Doch bald schön sah er die Schönheit nicht mehr, da er sich voll und ganz auf die Orks und den Weg konzentrieren musste. Immer öfters griffen ihn die Höhlenwesen an. Nur noch mit Mühe konnte er sich seiner Haut erwehren.
Er schleppte sich durch die Höhlen. Schon vor einiger Zeit hatte er vollkommen die Orientierung verloren. Die Fackeln waren ihm auch schon aus gegangen. In vollkommener Dunkelheit suchte er sich seinen Weg.
Immer weiter schleppte er sich. Erschöpfung machte sich breit. Er wusste, dass er schon länger als einen Tag unterwegs war. Schlafentzug machte ihm zu schaffen. Aber sich irgendwo schlafen zu legen und erschien der Ort ihm auch noch so sicher, das traute er sich nicht.
Er kam in eine Höhle, in der er etwas sehen konnte. An den Wänden hingen rote Teppiche.
Kar’dar traute seinen Augen nicht. Wo war er?
Er untersuchte langsam die Höhle. Viel Kraft hatte er nicht mehr. Kar’dar wusste genau, er war am Ende. Lange würde er nicht mehr leben. Er würde nie wieder die warme Sonne sehen, das Wasser des Regens auf seiner Haut fühlen...
Hinter einem der Teppiche entdeckte er einen schmalen Durchgang. Von dort gelangte er in einen Gang, in dem er ein Loch im Fels fand. Das Loch war überwuchert mit Pflanzenmaterial. Grüne Blätter, gelbliche Lianen und braune Dornen.
Er schob den lebenden Vorhang ein wenig beiseite und blinzelte in helles Mondlicht.
Kar’dar konnte es kaum glauben.
War er wirklich aus den Höhlen raus? War dies frische Luft, die er atmete? Spürte er wirklich den kühlen Nachtwind auf seiner ausgetrockneten Haut?
Er kroch weiter. Stehen konnte er nicht mehr. Nur noch auf allen Vieren bewegte er sich langsam über den grasbewachsenen Waldboden.
Plötzlich lichtete sich der Wald. Weit vor ihm sah er Mauern, wie von einer Stadt. In den Mauern ein Tor... und ... Menschen!
Endlich!
Er raffte seine allerletzte Kraft zusammen und richtete sich auf. Langsam taumelte er auf das Tor zu. Doch mitten auf der Lichtung brach er zusammen. Bewusstlos blieb er liegen.
Eine Frau schrie auf und deutete auf den wie Tod am Boden liegenden Mann. Zwei Männer, die bei ihm waren, rannten zu ihm. Was sie sahen, ließ sie den Kopf schütteln.
Vor ihnen lag ein in Lumpen gekleideter, sehr schwer verletzter Mann. Rasch hoben sie ihn an und brachten ihn zudem Haus der Frau. Einer lief los und holte einen Heiler.
Dieser wusch die Wunden aus und verband sie.
„Wird er durchkommen?“ fragte die Frau besorgt.
„Ich weiß es nicht. Wenn er die Nacht übersteht, dann vielleicht. Bleibt bei ihm und meldet mir sofort jeder Veränderung.“ Der Heiler ging.
Die Frau wachte an seinem Bett.
Einmal in der Nacht erwachte Kar’dar einmal kurz. Er bewegte sich, versuchte, sich zu erheben. Doch sofort flammte Schmerz in seinem Körper auf und er ließ sich stöhnend wieder in die Kissen fallen.
Die Frau hatte seine Bewegung und das leise Stöhnen bemerkt. Sofort sprang sie zu ihm.
„Willkommen im Leben!“ Sie lächelte ihn dabei an.
Kar’dar versuchte zu sprechen, doch schon bei dieser kleinen Anstrengung schmerzte sein Kopf und sein Nacken. Doch er versuchte es trotzdem.
Leise fragte er: „Wo bin ich hier?“
„In Tos, der Stadt des Herzogs. Wie ist Euer Name?“ „Name?“ Das Sprechen viel ihm sehr schwer. Er musste sich immer wieder die Worte zusammensuchen. Langsam kamen ihm die Worte und ihre Aussprache wieder ins Gedächtnis. 7 Jahre hatte er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Er konnte besser die Sprache er Hühnerwesen als seine eigene Muttersprache.
„Ja, Wie werdet Ihr genannt? Welchen Namen hat Euch Eure Mutter gegeben?“
„Kar’dar d’Edis“ hauchte er, dann schließ er erschöpft wieder ein.
Leise stand die Frau auf und ging hinaus. Ihr Weg führte sie sofort zum Heiler und sie erstattete ihm Bericht.
„Lady Kaylra, ich hoffe, er hat sich nicht zu sehr angestrengt. Er ist noch lange nicht über den Berg. Er braucht viel Ruhe um gesund zu werden. Selbst nach einem Säbelduell sah ich nie so schwere Verletzungen wie bei ihm. Er muss Schlimmes erlebt haben.“
„Ich gehe wieder zu ihm, Meister Korak.“ „Tut dies Mylady.“
Als sie wieder an seinem Bett stand, betrachtete sie ihn und bemerkte mehrere Barndnarben an Gesicht und Armen. „ Was habt Ihr nur erlebt?“ Sie sprach sehr leise, um ihn nicht zu wecken. „Diese Narben, diese Wunden... Unmöglich stammen sie von eines Menschen Hand.“
„Drachenfliegen, Orks und Avare“, vernahm sie seine leise Antwort. Überrascht sah sie auf. „Ich... ich wollte Euch nicht wecken.“ „Das... habt Ihr nicht.“
Seine Stimme wurde wieder leiser, bis sich nur noch ein knappes Flüstern war.
„Gestrandet... eine Insel...seltsame Wesen...lebte dort...mehr ...5 Jahre...Weg...Höhle...Orks...“ Dann verstummte er. Er viel wieder in unruhigen Schlaf.
Lady Kaylra war bestürzt. So lange lebte sie nun schon hier, doch noch nie hatte sie etwas von einer Insel oder einem Weg durch die Orkhöhlen gehört.
Am Morgen kam Kaylron herein, ihr Bruder. Sie erzählte ihm, was sie in der Nacht von Kar’dar erfahren hatte. Ihr Bruder schüttelte nur den Kopf.
In diesem Moment erwachte Kar’dar mit einem Schrei auf den Lippen. Im Erwachen richtete er sich im Bett auf und schlug um sich. Es gab ein furchtbares Geräusch. Es hörte sich an, als wenn Leder zerreißt. Kar’dar fiel zurück und ein Schwall Blut quoll aus seinem Mund.
Kaylra schrieh ihren Bruder an, er solle sofort den Heiler holen, doch es war zu spät.
Kar’dar sah sie mit flehenden, hilfesuchenden Augen an, sprechen konnte er nicht mehr. Nur Blut kam über seine Lippen. Lady Kaylra ergriff seine Hand und hauchte ein leises: „Nein, bitte, geht nicht...“
Doch es half nichts. Einmal noch hustete er krampfhaft und sein Körper wurde schwer durchgeschüttelt. Dann entspannten sich seine Züge. Er sah aus, als wenn er schlief, wenn nicht das Blut auf den Laken gewesen wäre.
„Was er sagte... über die Höhlen und die Insel... Stimmt es oder sprach er im Fieber?“ Sie sah ihren Bruder fragend an.
„Selbst wenn es stimmt, wir dürfen nichts sagen. Es gibt zu viele junge Abendteurer, die den Weg sofort suchen würden und bei dem Versuch ihr Leben lassen würden. Du weißt, wir haben Krieg mit den Orks.“
Auch der Heiler, der den Tod festgestellt hatte, nickte.
„Aber was sagen wir, woher er kam? Wir können seine sterblichen Überreste doch nicht einfach verscharren.“
„Die Teilwahrheit. Er wurde im Kampf mit den Orks so schwer verletzt, dass er gestorben ist.“
So wurde Kar’dar d’Edis auf dem Friedhof von Tos beigesetzt.
Hier ruht Kar’dar d’Edis.
Mögen die Götter seiner Seele Frieden schenken.
Nichts als Wasser, soweit sein Blick reichte.
Seitdem sein Schiff auf das Riff gelaufen war, trieb er, an ein großes Brett geklammert, auf der offenen See. Es war nun schon der vierte Tag. Sein Mund war ausgedörrt, der Hunger quälte ihn, doch er war nicht mehr so schlimm wie am zweiten Tag. Er hatte keine Hoffnung mehr und war schon nahe dran, einfach das Brett loszulassen und sich seinem Schicksal zu ergeben. Er vermutete ganz stark, dass er weit von allen Schifffahrtsrouten entfernt sein musste.
Seine Kraft war fast aufgebraucht. Nur noch wie ein Automat hielt er sich an dem Brett fest, unfähig, seine Finger zu öffnen, um es los zu lassen. Sie waren so um das Brett gekrampft, dass er sie sich schon brechen musste, um ins Wasser zu gleiten.
Er dämmerte langsam in einen leichten Schlaf.
Und er träumte:
Er stand am Hafen. Die Sonne brannte vom Himmel, als wolle sie die letzten paar Regenwochen auf einen Schlag wett machen. Die Ernte der Bauern hatte sehr gelitten und es würde wohl im Winter eine Hungersnot geben, wenn sich die Felder jetzt nicht ein wenig erholten.
Er sah dem Treiben auf den Docks zu.
Seemänner vergnügten und scherzten mit Dirnen, Unfreie beluden die Schiffe, Kaufleute feilten mit den Kapitänen um Waren, Fischer brachten ihre Waren ein..... Dies alles interessierte ihn sehr. Er hatte ein unstillbares Verlangen, einfach auf einen der Kapitäne zu zugehen
Und anzuheuern. Er wollte in das neue Land, das man vor kurzem entdeckt hatte. Wildes, ungezähmtes Land, gemacht für Abendteurer!
15 Jahre war es nun her, seit das erste Mal ein Mensch dieses Land betreten hatte. Er war damals gerade vierzehn geworden. Gespannt lauschte er den Reiseberichten der Matrosen und verwegenen Burschen, die zurückkehrten. Er träumte oft des Nachts von weiten Wäldern, unbekannten Tieren und Siedlerstädten. Er nahm sich fest vor, wenn er im richtigen Alter war, würde er in das Land ziehen und sich dort ein Leben aufbauen, fern von den strengen Regeln auf dem Hof seines Vaters, eines Großgrundbesitzers und Viehzüchters.
Aber sein Vater machte eines Tages seinen Zukunftsgedanken ein jähes Ende.
Als er, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, ausreiten wollte, kam sein Vater über den Hof und wies ihn an, zu sich ins Haus zu kommen.
Im Salon eröffnete er ihm, dass nun die Zeit gekommen war, in der er die Frau heiraten sollte, die er für ihn ausgesucht hatte.
Er widersprach heftig, doch sein Vater fuhr ihm über den Mund.
„Du wirst das Mädchen heiraten, die Tochter meines guten Freundes! Es ist schon vor achtzehn Jahren bei deiner Geburt beschlossen worden. Du wirst mit ihr leben und sie wird dir Kinder gebären.“
„Aber Vater, ich kann sie nicht heiraten, ich kenne sie doch gar nicht. Wie kann ich ein Leben mit einer Frau verbringen, die ich noch nie gesehen habe? Und wieso sagt Ihr mir das erst jetzt? Ich habe die ganzen Jahre hindurch nichts davon gewusst.“
„Was hätte es geändert, wenn du es gewusst hättest? Deine Mutter und ich kannten uns vorher auch nicht. Wir sahen uns am Tag der Eheschließung zum ersten Mal. Und? Hat es uns geschadet? NEIN!“
„Ich will nicht heiraten, ich bin noch nicht bereit dazu.“
„Kar’dar d’Ebis, du bist alt genug. Ich war damals genau so alt wie du jetzt. Du wirst nächsten Sommer heiraten und fertig. Wenn du versuchst, der Ehe zu entgehen, wird es böse Folgen für deine Zukunft haben. Basta und Ende!“
„Ich will nicht!“
„Du wirst!!“
Damit ging er hinaus.
Kar’dar beugte sich dem Willen seines Vaters. Doch er wusste, er wird die Frau, mit der er leben musste, nie lieben können. Er erfüllte zwar seine Pflicht als Ehemann, doch mehr war nicht.
Ein Jahr nach der Trauung gebar sie ihm eine Tochter. Das Mädchen starb noch im Kindbett. Warum wusste niemand. Im Jahr darauf schenkte sie seinem Sohn das Leben. Das Kind lag verkehrt und sie verlor sehr viel Blut. Die Frauen sagten, der Kleine schwamm in einem See aus dem Blut seiner Mutter. Bei der Niederkunft starb seine Frau. Kar’dar gab dem Jungen den Namen: Dlir’l’arf, was in der alten Sprache der Elfen „Blutiger Fuchs“ bedeutete.
Der Kleine gedieh prächtig. Er war jetzt 8 Jahre alt, doch er hatte bereits die Größe und das Verständnis eines 12jährigen. Dem Kind war nichts zu gefährlich. Er versuchte, auf noch nicht zugerittene Pferde zu klettern. Wenn man nicht aufpasste, dann war er schneller abgeworfen, als er oben war. Er strolchte in alten, stillgelegten Mienen herum, spielte Goldsucher, trieb sich zwischen den Rindern herum und hatte keine Angst vor einer Stampede.
Kar’dar interessierte sich kaum für das Kind. Ja, natürlich war es sein Fleisch und Blut, aber er konnte sich nicht recht in seine Rolle als Vater finden. Für ihn war das Kind halt da.
Als er an diesem Junitag am Pier stand, kam der Kleine plötzlich angerannt, als sei der Teufel selbst hinter ihm her. Schon von weitem hörte er ihn nach ihm rufen: „Vater, Vater, kommt rasch. Es ist was mit Großvater. Ich glaube, er stirbt!“
Kar’dar schwang sich auf sein Pferd und trieb das Tier zu größter Eile an. Die Leute um ihn herum sahen ihn verständnislos an und beeilten sich, ihm auszuweichen, bevor er sie nieder ritt. Sie schimpften hinter ihm her, doch das hörte er schon nicht mehr.
Auf dem Hof warf er einem Knecht die Zügel zu und rannte ins Haus. Seine Mutter saß mit verweintem Gesicht im Salon.
„Mutter, was ist geschehen? Dlir sagte, dass Vater im Sterben läge... !“
„Es ist so, mein Sohn. Er wollte Schattenfell brechen. Doch er warf ihn ab. Dein Vater verfing sich im Steigbügel und wurde von Schattenfell mehrfach mit dem Huf am Kopf getroffen. Der Heiler sagt, er wird wohl nicht durchkommen.“
„Ich muss zu ihm!“
Kar’dar rannte nach oben. Auf dem Flur kam ihm der Heiler entgegen. Kar’dar blieb aprubbt stehen. Der Heiler schüttelte stumm den Kopf. „Ihr kommt zu spät, M´Lord. Euer Vater starb gerade eben. Die Kopfverletzungen waren zu schwer. Ich konnte nichts mehr tun.“
Kar’dar stürmte in das Zimmer. Sein Vater lag dort, sein Kopf war mit einem Verband umgeben. Er lag da, als ob er schlief. Er kniete sich an das Bett, ergriff seine Hand und weinte. Seit langem zum ersten Mal wieder.
Wie lange er so gesessen hatte, wusste er nicht. Als sein Sohn seine kleine Hand auf seine Schulter legte, kam er wieder zu sich. Wie betäubt stand er auf und ging nach unten. Im Salon fragte er: „Wo ist Schattenfell?“
Seine Mutter sah ihn entsetzt an. „Du willst doch nicht...? Nein! Das Tier hat mir meinen Mann genommen, lass die Finger von ihm. Ein Knecht wird es töten.“
„Nein Mutter. Auch wenn es Vater tötete. Schattenfell kann nichts dafür. Es war ein Unfall. Wo ist der Hengst?“
Dlir trat hinter hin und sagte leise: „Er ist im Stall. Ich habe ihn eingefangen und trocken gerieben.“
Kar’dar ging hinaus und holte das Tier aus dem Stall. Das Pferd war nicht so wild wie sonst. Es sah irgendwie niedergeschlagen aus, als wüsste es, was geschehen war. Es ließ sich leicht satteln, ohne die üblichen Eskapaden. Kar’dar stieg in den Sattel. Leise sprach er zu dem Tier.
„Großer, du willst wild und frei sein. Das wollen wir alle. Doch auch wir Menschen müssen uns beugen. Bitte, lass mich auf dir reiten. Trage mich, schnell wie der Wind.“
Schattenfell spitzte die Ohren. Er wollte das Gewicht auf seinem Rücken nicht haben. Er buckelte. Immer wieder. Kar’dar wurde hin und her geschleudert. Er saß auf dem Pferd mit fest geschlossenen Augen. Etwas stach in seine Arme und in seine Beine. Es scheuerte. Er öffnete die Augen.
Und erwachte.
Er saß nicht auf dem Pferd. Er wurde von den Wellen auf einen Strand geworfen. Das war es, was an seinen Gliedern scheuerte. Feiner Sand.
Kar’dar stemmte sich hoch und zog sich weiter auf den Strand hoch. Dort blieb er erschöpft mit geschlossenen Augen in der Sonne liegen.
Plötzlich kitzelte ihn etwas am Arm. Er öffnete die Augen und sah ein kleines Tier, welches aussah wie ein kleiner Drache. Kar’dar erschrak fürchterlich.
Doch nicht nur er. Auch das Tier wich zurück und stieg in die Lüfte. Es flog zum nahen Wald.
Dort verschwand es zwischen den Bäumen.
Kar’dar stemmte sich hoch und folgte dem Tier. Wo Tiere sind, da musste auch Wasser sein. Er hatte furchtbaren Durst. Er ging sehr langsam, da er schwach auf den Beinen war. Im Wald fand er auf dem Boden mehrere Regenwassertümpel, die zwar eine schmutzigbraune Brühe enthielten, doch es war Süßwasser. Gierig trank Kar’dar. Es schmeckte ihm besser als der beste Rotwein oder das Stoud, das normalerweise nur der König zum Genuss gereicht wurde.
Als er vom Boden aufstand, hatte er sich satt getrunken. Nun sah er sich ein wenig um. Kar’dar kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Pflanzen kannte er nicht. Auch die wenigen kleinen Tiere, die er sah, hatte er nie zuvor gesehen. Auf dem Boden fand er ein Blatt, welches aussah wie ein Farn, den er von dem Hof seines Vaters her kannte. Doch dieser hier war leuchtend blau gefärbt. Immer weiter ging er in den Wald hinein. Hinter einem Baum sah er das Tier wieder, welches ihm am Stand begegnet war. Hier hatte er Gelegenheit, es genauer zu betrachten, denn es hatte ihn nicht bemerkt.
Es war dunkelgrün und hatte das Aussehen eines kleinen Drachens, doch seine Flügel sahen aus, als wären sie von einer zu groß geratenen Fliege. Fast durchsichtig waren sie. Er nannte es kurzerhand „Drachenfliege“.
Langsam setzte die Dämmerung ein. Kar’dar suchte sich einen Unterschlupf für die Nacht. Er fand ihn unter einem umgestürzten Baum. Den Boden bedeckte er, zum Schutz vor Feuchtigkeit, mit den seltsamen Farnen, die er überall im Wald fand. Es dauerte eine Weile, bis er seine Überraschung über den Farbwechsel der Farne überwunden hatte.
Es war schon sehr verwunderlich. Alle paar Minuten wechselten die Pflanzen von Selbst die Farbe und nahmen dabei alle Farben des Regenbogens an.
Nachdem er sein Bett ausgepolstert hatte, schlief er tief und fest die gesamte Nacht hindurch.
Am anderen Morgen untersuchte er weiter den Wald. Er wusste, er musste etwas Essbares finden, damit er überlebte.
Gegen Mittag kam er einer der Drachenfliegen zu nahe. Er merkte, dass sie den Namen Drache zu Recht trugen. Feuerspeiend kam sie ihm immer näher. Nur einem glücklichen Umstand hatte er es zu verdanken, dass er mit dem Leben davon kam. Kar’dar war schon schwer angeschlagen, als plötzlich aus den Büschen eine Gestallt kam und ihm half. Das Wesen sah aus wie ein übergroßes Huhn. Ihm folgte ein Zweites. Gemeinsam erlegten sie die Fliege. Danach zogen sie sich zurück.
Kar’dar untersuchte das Tier und fand in seinem Besitz zwei Brote und etwas, das in einer kleinen Dose verschlossen eingepackt war. Er öffnete die Dose und holte das Etwas heraus. Es war ein Netz, gefertigt aus Moos, etwa ein Mal ein Meter im Quadrat. Sorgsam hob er es auf. Vielleicht brauchte er es irgendwann einmal. Das Brot verschlang er gierig, hob sich aber noch etwas für später auf. Dazu trank er wieder etwas Wasser aus den Tümpeln.
Gegen Nachmittag kam er zu einer Lichtung. Dort war alles so friedlich. Niemand tat dem Anderen etwas.
Er beschloss, dort eine Hütte zu errichten, in der er bleiben konnte.
Nach und nach fand er im Wald weitere Dosen mit den Netzen. Diese verwendete er, um den Unterbau für das Dach zu geben. Über die Netze breitete er Regenbogenfarne aus. Das Dach war dicht und schützte ihn vor Regen und Sonne.
An einem alten Baumstamm fertigte er sich einen Kalender an. Kleine Kerben im Holz zeigten die Tage, große, schräg gestellte die Monate.
Nach und nach beschaffte er sich Waffen und Rüstung. Diese Hühnerwesen ließen allerlei fallen, wenn man es schaffte, einen zu erlegen. Doch dabei musste man höllisch aufpassen. Sehr schnell war man umzingelt und kam nur mit Müh und Not wieder da raus.
Er fand Schwerter, grünlich schimmernde Rüstungen und auch ein Schild. Etwas Brot hatten diese Wesen auch immer wieder dabei.
Mit der Zeit merkte er, dass die Hühner drei verschiedene Stämme bildeten, die gegeneinander Friedlich waren, aber Drachenfliegen und ihn unerbittlich verfolgten.
Tief im Wald war eine kleine Lichtung. Auf ihr hatte eines der Wesen einen kleinen Verschlag, in dem es hauste. Mit der Zeit erkannte Kar’dar, dass es sich bei dem Hühnerwesen um eine Frau handelte und dass dies das einzigste von allen Stämmen war, welches ihm freundlich gesonnen war.
Er lernte von ihr viel. Die Pflanzen und Tiere dieser Insel waren seltsam und sie zeigte ihm, welche er essen konnte, welche Pflanzen Heilkräfte hatten und welche giftig waren. Von ihr lernte er auch die Sprache der Hühnerwesen, die sich Avare nannten. Die Frau war eine Art Priesterin. Alle Avare behandelten sie mit Ehrfurcht. Kar’dar durften sie nie zu Gesicht bekommen, da sie ihn dann sofort getötet hätten.
Kar’dar striff immer wieder durch den Wald, um die Pflanzen und Tiere, die die Priesterin ihm gezeigt hatte, zu erkunden und Heilpflanzen zu suchen. Auf eine dieser Wanderungen fand er eine seltsam rote Drachenfliege. Es war ein Weibchen und sie war schwer verletzt. Er nahm sie mit in seine Hütte und pflegte sie gesund. Zum Dank folgte sie ihm auf Schritt und Tritt. Er nannte das Weibchen J’dr’y.
Kar’dar war nun schon seit etwa einem Jahr hier. Oft dachte er an seine Mutter. Auch seinen Sohn vermisste er. Dlir war jetzt fast erwachsen und im heiratsfähigen Alter. Er wusste nicht, was zu Hause auf dem Hof so passiert war, seitdem er aufgebrochen war, um in der neuen Welt Geschäfte zu tätigen.
Wäre damals nur nicht dieser Sturm gewesen, der das Schiff auf ein Riff laufen ließ.
Jeden Tag ging Kar’dar zum Strand, an dem er damals gestrandet war. Doch in der ganzen Zeit hatte er nie auch nur eine Spur von einem Segel gesehen, das ihm hätte die Rettung bringen können.
Nach und nach hatte er die gesamte Insel erkundet. Eines Tages hatte er in den Klippen am Strand eine Spalte entdeckt. Er war ein wenig hinein gegangen, doch schon bald hatte ihn vollkommene Dunkelheit umfangen. Lange hatte er nicht mehr an sie gedacht, doch nun wollte er die Höhle dahinter erkunden.
Er machte sich Fackeln, rüstete sich aus und steckte Proviant und Wasser ein, da er nicht wusste, was ihn erwarten würde.
Als er in der Höhle selber die erste Fackel entzündete, verschlug ihm der Anblick den Atem.
So eine Schönheit hatte er nicht erwartet. Kar’dar stand in einer Tropfsteinhöhle, die in allen Ecken und Winkeln funkelte und leuchtete, sobald etwas Licht auf die Wände fiel.
Langsam erkundete er die Höhle und gelangte in einer weitere. Dort zündete er die nächste Fackel an. Schon bald merkte er, dass die Höhlen nicht unbewohnt waren. Es befanden sich Wesen in ihnen, die er aus alten Erzählungen über das neue Land kannte. Es waren Orks.
Er wich ihnen aus, so gut er konnte, doch schon bald hatten einige von ihnen ihm böse Wunden zugefügt. Doch er ignorierte sie, da sie ihn nicht behinderten.
In dem einen Jahr auf der Insel hatte er gelernt, sich nicht gleich für jedes Wehwehchen ins Bett zu legen und sich in aller Ruhe aus zu kurieren. Einen Arzt gab es hier nicht und er versorgte seine Verletzungen und Schrammen selbst. Das klappte auch meist ganz gut. Nur einmal hatte er mit einer Schwertwunde, die ihm ein Avar beigebracht hatte, ein paar Tage in Fieberträumen in seiner Hütte gelegen. Doch schließlich hatte er sich auf von dieser Wunde erholt. Es blieb nur eine Narbe zurück.
Kar’dar gelangte von einer Höhle in die Nächste. Eine war schöner als die Andere. Doch bald schön sah er die Schönheit nicht mehr, da er sich voll und ganz auf die Orks und den Weg konzentrieren musste. Immer öfters griffen ihn die Höhlenwesen an. Nur noch mit Mühe konnte er sich seiner Haut erwehren.
Er schleppte sich durch die Höhlen. Schon vor einiger Zeit hatte er vollkommen die Orientierung verloren. Die Fackeln waren ihm auch schon aus gegangen. In vollkommener Dunkelheit suchte er sich seinen Weg.
Immer weiter schleppte er sich. Erschöpfung machte sich breit. Er wusste, dass er schon länger als einen Tag unterwegs war. Schlafentzug machte ihm zu schaffen. Aber sich irgendwo schlafen zu legen und erschien der Ort ihm auch noch so sicher, das traute er sich nicht.
Er kam in eine Höhle, in der er etwas sehen konnte. An den Wänden hingen rote Teppiche.
Kar’dar traute seinen Augen nicht. Wo war er?
Er untersuchte langsam die Höhle. Viel Kraft hatte er nicht mehr. Kar’dar wusste genau, er war am Ende. Lange würde er nicht mehr leben. Er würde nie wieder die warme Sonne sehen, das Wasser des Regens auf seiner Haut fühlen...
Hinter einem der Teppiche entdeckte er einen schmalen Durchgang. Von dort gelangte er in einen Gang, in dem er ein Loch im Fels fand. Das Loch war überwuchert mit Pflanzenmaterial. Grüne Blätter, gelbliche Lianen und braune Dornen.
Er schob den lebenden Vorhang ein wenig beiseite und blinzelte in helles Mondlicht.
Kar’dar konnte es kaum glauben.
War er wirklich aus den Höhlen raus? War dies frische Luft, die er atmete? Spürte er wirklich den kühlen Nachtwind auf seiner ausgetrockneten Haut?
Er kroch weiter. Stehen konnte er nicht mehr. Nur noch auf allen Vieren bewegte er sich langsam über den grasbewachsenen Waldboden.
Plötzlich lichtete sich der Wald. Weit vor ihm sah er Mauern, wie von einer Stadt. In den Mauern ein Tor... und ... Menschen!
Endlich!
Er raffte seine allerletzte Kraft zusammen und richtete sich auf. Langsam taumelte er auf das Tor zu. Doch mitten auf der Lichtung brach er zusammen. Bewusstlos blieb er liegen.
Eine Frau schrie auf und deutete auf den wie Tod am Boden liegenden Mann. Zwei Männer, die bei ihm waren, rannten zu ihm. Was sie sahen, ließ sie den Kopf schütteln.
Vor ihnen lag ein in Lumpen gekleideter, sehr schwer verletzter Mann. Rasch hoben sie ihn an und brachten ihn zudem Haus der Frau. Einer lief los und holte einen Heiler.
Dieser wusch die Wunden aus und verband sie.
„Wird er durchkommen?“ fragte die Frau besorgt.
„Ich weiß es nicht. Wenn er die Nacht übersteht, dann vielleicht. Bleibt bei ihm und meldet mir sofort jeder Veränderung.“ Der Heiler ging.
Die Frau wachte an seinem Bett.
Einmal in der Nacht erwachte Kar’dar einmal kurz. Er bewegte sich, versuchte, sich zu erheben. Doch sofort flammte Schmerz in seinem Körper auf und er ließ sich stöhnend wieder in die Kissen fallen.
Die Frau hatte seine Bewegung und das leise Stöhnen bemerkt. Sofort sprang sie zu ihm.
„Willkommen im Leben!“ Sie lächelte ihn dabei an.
Kar’dar versuchte zu sprechen, doch schon bei dieser kleinen Anstrengung schmerzte sein Kopf und sein Nacken. Doch er versuchte es trotzdem.
Leise fragte er: „Wo bin ich hier?“
„In Tos, der Stadt des Herzogs. Wie ist Euer Name?“ „Name?“ Das Sprechen viel ihm sehr schwer. Er musste sich immer wieder die Worte zusammensuchen. Langsam kamen ihm die Worte und ihre Aussprache wieder ins Gedächtnis. 7 Jahre hatte er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Er konnte besser die Sprache er Hühnerwesen als seine eigene Muttersprache.
„Ja, Wie werdet Ihr genannt? Welchen Namen hat Euch Eure Mutter gegeben?“
„Kar’dar d’Edis“ hauchte er, dann schließ er erschöpft wieder ein.
Leise stand die Frau auf und ging hinaus. Ihr Weg führte sie sofort zum Heiler und sie erstattete ihm Bericht.
„Lady Kaylra, ich hoffe, er hat sich nicht zu sehr angestrengt. Er ist noch lange nicht über den Berg. Er braucht viel Ruhe um gesund zu werden. Selbst nach einem Säbelduell sah ich nie so schwere Verletzungen wie bei ihm. Er muss Schlimmes erlebt haben.“
„Ich gehe wieder zu ihm, Meister Korak.“ „Tut dies Mylady.“
Als sie wieder an seinem Bett stand, betrachtete sie ihn und bemerkte mehrere Barndnarben an Gesicht und Armen. „ Was habt Ihr nur erlebt?“ Sie sprach sehr leise, um ihn nicht zu wecken. „Diese Narben, diese Wunden... Unmöglich stammen sie von eines Menschen Hand.“
„Drachenfliegen, Orks und Avare“, vernahm sie seine leise Antwort. Überrascht sah sie auf. „Ich... ich wollte Euch nicht wecken.“ „Das... habt Ihr nicht.“
Seine Stimme wurde wieder leiser, bis sich nur noch ein knappes Flüstern war.
„Gestrandet... eine Insel...seltsame Wesen...lebte dort...mehr ...5 Jahre...Weg...Höhle...Orks...“ Dann verstummte er. Er viel wieder in unruhigen Schlaf.
Lady Kaylra war bestürzt. So lange lebte sie nun schon hier, doch noch nie hatte sie etwas von einer Insel oder einem Weg durch die Orkhöhlen gehört.
Am Morgen kam Kaylron herein, ihr Bruder. Sie erzählte ihm, was sie in der Nacht von Kar’dar erfahren hatte. Ihr Bruder schüttelte nur den Kopf.
In diesem Moment erwachte Kar’dar mit einem Schrei auf den Lippen. Im Erwachen richtete er sich im Bett auf und schlug um sich. Es gab ein furchtbares Geräusch. Es hörte sich an, als wenn Leder zerreißt. Kar’dar fiel zurück und ein Schwall Blut quoll aus seinem Mund.
Kaylra schrieh ihren Bruder an, er solle sofort den Heiler holen, doch es war zu spät.
Kar’dar sah sie mit flehenden, hilfesuchenden Augen an, sprechen konnte er nicht mehr. Nur Blut kam über seine Lippen. Lady Kaylra ergriff seine Hand und hauchte ein leises: „Nein, bitte, geht nicht...“
Doch es half nichts. Einmal noch hustete er krampfhaft und sein Körper wurde schwer durchgeschüttelt. Dann entspannten sich seine Züge. Er sah aus, als wenn er schlief, wenn nicht das Blut auf den Laken gewesen wäre.
„Was er sagte... über die Höhlen und die Insel... Stimmt es oder sprach er im Fieber?“ Sie sah ihren Bruder fragend an.
„Selbst wenn es stimmt, wir dürfen nichts sagen. Es gibt zu viele junge Abendteurer, die den Weg sofort suchen würden und bei dem Versuch ihr Leben lassen würden. Du weißt, wir haben Krieg mit den Orks.“
Auch der Heiler, der den Tod festgestellt hatte, nickte.
„Aber was sagen wir, woher er kam? Wir können seine sterblichen Überreste doch nicht einfach verscharren.“
„Die Teilwahrheit. Er wurde im Kampf mit den Orks so schwer verletzt, dass er gestorben ist.“
So wurde Kar’dar d’Edis auf dem Friedhof von Tos beigesetzt.
Hier ruht Kar’dar d’Edis.
Mögen die Götter seiner Seele Frieden schenken.