Ghasele: Was ist "schön"?

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich weiß nicht was schön ist – weiß nicht wie's geschieht
[ 4]weiß nur daß mir nie die Bestimmung geriet

Ich weiß nicht was schön ist – was in diesem Stromschlag
[ 4]der Hüften gemeinsam verzuckt und verglüht

Ich weiß nicht was schön ist – was in den Gesichtern
[ 4]die Wangen berührt und die Schläfen durchzieht

Ich weiß nicht was schön ist – ich kann ja kaum lesen
[ 4]die Spur die den Füßen im Tanze entblüht

Ich weiß nicht – ob dieses verzückte Gereime
[ 4]mit billigen Worten dem Urteil entflieht

Ich weiß nicht – ich weine und hundertfach lächeln
[ 4]die Quecksilberspiegel der Tränen im Lied
 
O

orlando

Gast
Ich weiß (diesmal),
was schön ist: dieses Ghasel nämlich!
Eine Form, die ich sehr wertschätze - vor allem die alte persische.
[Aber auch Friedrich Rückert betätigte sich (formerweiternd) erfolgreich auf diesem Gebiet.]
Gelegentlich dient das Ghasel ja als lyrische Fingerübung, die allein aus der Schönheit ihrer Form Reiz gewinnen will, oder es zeigt einen parodistischen Charakter (Enzensberger) die der Reimführung ein paar freche Gedanken beigesellt.
Dein Ghasel lässt sich auf alle drei Weisen lesen.
Schon das empfinde ich als gelungen.
LG, orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich danke Dir, Orlando!

Ich bin glaubich der versessenste (verlegenste und gestandenste ...) Rückertfan unter den Übersetzern orientalischer Sprachen (nein, nicht alle: Persisch kann ich z.B.nicht, trotz einer einsemestrigen Mittelpersisch-Übung bei dem Religionswissenschaftler Klimkeit in Bonn), kannte ihn aber damals, als die erste Fassung dieses Lieds entstand, nur ein wenig. Richtig schätzen gelernt habe ich Rückert später durch seine Koran-Übersetzungen (schroff anmutende Reimprosa bei den ältesten Suren).
Dies Ding hier beginnt kaum verhüllt erotisch, als Liebeslied, und endet in einer ziemlich "persischen" Bildsprache, die sich (wie ichs aus "Fremd"-Übersetzungen kenne) nicht scheut, in Rosen, Nachtigallentränen und geradezu narzißtischen Lied-Selbstbezüglichkeiten zu schwelgen.
 
F

Fettauge

Gast
Ghasel: Was ist schön?

Lieber Mondnein,

es freut mich, dass du dich dem Ghasel zugewandt hast. Soviel ich einschätzen kann, hast du die äußere Form im wesentlichen eingehalten, incl. Reimschema. Das deutsche Ghasel erlaubt den Jambus und den Trochäus, du hast Amphybrachen eingesetzt, hältst sie aber nicht immer durch.

Du hast dich auf die Form konzentriert, denn inhaltlich kommt der Text dann doch ein wenig nichtssagend daher. Und ob das nun ein "verzücktes Gereime" ist, kann ich nicht einschätzen, da ich den Grad deiner Verzückungen nicht kenne.

Liebe Grüße, Fettauge
 
Hallo Mondnein und orlando

Ich weiß nicht, ob sie schön ist – die Ghasele
Weiß nur, dass ich sie nicht zum Liebling wähle.

Vielleicht, das sag ich, hat sie einen schönen Klang,
doch hört, zum Favoriten ich sie niemals zähle.

Trotz weiser Kommentare möchte ich hier sagen,
und das sehr laut und auch aus voller Kehle:

Ich mag sie nicht und liebe andre Lyrik mehr.
Sagt, hab ich jetzt für euch `ne Krämerseele? :)

Viele Grüße von mir
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Das ging wieder mal ins Auge!

Es geht mir am Gesäß vorbei, was Du alles erlaubst oder nicht erlaubst, A. Ich habe mich nicht an eine vorgegebene Form "gehalten", sondern ein Lied gesungen, das sich im Nachhinein als eine Ghasele erwies (oder auch nicht, das ist ziemlich egal). Als ich es schrieb, wußte ich gar nicht, daß man so etwas eine Ghasele oder ein Ghasel nennt, ich weiß nicht einmal, welches grammatische Geschlecht die oder das hat, kann auch nicht mehr nachschauen, da ich gerade mit Umzug-Räumaktionen beschäftigt bin und die Orientabteilung meiner Bücher schon eingekistet habe.
Gesungen wurde es für Menschen mit Herz und Ohren, nicht für Metrikjuristen oder andere Stolpertänzer.
 

rogathe

Mitglied
Du hast Nachtigallentränen erwähnt - in einem deiner Kommentare. Das Quecksilber würde ich allemal ersetzen.
Ist ohnehin zu giftig. ;)
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Mercurius

Die Giftigkeit des Quecksilbers tut seiner Spiegelintensität keinen Abbruch. Und seine Flüssigkeit machte es zum Archetypus alles Beweglichen, "Quicklebendigen" in der Alchemie. Giftigkeit ist nur relativ, hängt von Dosis und Umgang ab. Aber ich hantiere ja nicht mit einer Chemikalie, esse oder trinke es auch nicht, sondern spiele mit dem Glanz des Wort-Bildes.
 
O

orlando

Gast
Es hat auch eine Empfehlung verdient!
Ich finde es schade, das nach und nach alle Lyriker weggeekelt werden, die

a) über fundiertes Wissen verfügen
b) gut schreiben können
c) etwas zu sagen haben.

Der Frage, was nun eigentlich schön sei, eine Frage, die die Menschheit seit Jahrtausenden umtreibt, schließt sich vollautomatisch die Frage an: Was ist eigentlich hässlich?
Oder hat Hässlichkeit gar eine eigene Ästhetik? Haben Mallarmé, Baudelaire und Benn doch nicht ganz umsonst geschrieben?
Sind Gedichte, die sich mit den natürlichen Ausscheidungen des menschlichen Körpers, seinen Funktionen, mit seinen Krankheiten, seinem Verfall beschäftigen, automatisch schlecht? Gibt es das Leben und den Tod?
Gibt es neben gängigen Naturbetrachtungen phantastische Schöpfungen anderer Art? Gibt es nach Goethe, Schiller, Lenau auch Weiterentwicklungen in der Literatur?
Müssen sich alle Sonette reimen?
Müssen sich Ghasele dem Geschmack einzelner Forenteilnehmer anpassen? Gibt es Bäh-Wörter? Ist Sexualität etwas "Ekelerregendes?"
Ist ein Gedicht, das nicht auf Anhieb verstanden wird von Übel?

Für wen schreiben wir eigentlich?

Manchmal macht mich die Tendenz, die ich hier konstatieren muss, sehr, sehr traurig!
orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Lieber Bernd, liebe Heidrun!

Inmitten meines Umzugs-Chaos - ich muß noch bis in die tiefe Nacht Bücher in Kisten packen und Regale abbauen - hier ein kleiner, aber heftiger Danke-Schnaufer Euch beiden!
Danke Dir Bernd, wieder, wie schon manche Male!
Und Dir, Heidrun, Danke, weil Du die Frage nach dem, was denn Schönheit ausmacht, ernst nimmst: ich habe es ja (wie Du gesehen hast, dafür mein besonderer Dank!) nicht einfach als rhetorische Spielerei gemeint, deshalb bin ich auch die konkreten "Erstantworten", die manchem wie mir in den Sinn kommen, Strophe für Strophe durchgegangen: Wenn das Schönste im Leben der Orgasmus ist - was macht ihn eigentlich schön? Wenn es die Schönheit der Geliebten ist - worin besteht sie eigentlich? Es wird Schritt für Schritt subtiler in der beispielmusternden Betrachtung: Über die Gestalt hinaus, die Grazie in der Bewegung, die Chiffrierung der Lebensschrift in der Grazie, der ästhetische Reiz in der Sprache, - -
Ich ahne, daß Schönheit mit der offenen Frage nach dem Schönen zu tun hat, wie der Sinn des Lebens (wie es häufig reflektiert wird) darin bestehen mag, nach dem Sinn des Lebens zu fragen.
Und die Frage nach dem Schönen wird kraftlos, wenn sie kein spannendes Verhältnis zum Häßlichen hat. Nicht einfach harmonische Auflösung, sondern der Riß, der verzackte Blitz, der freche Fluch --
mein Chaos hier - - - au backe!
 



 
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