Glas und Stahl

Über den Wolken

Er steht am Fenster. Unter ihm erstreckt sich die unförmige graue Wolkendecke bis zum Horizont. Da das Licht in der Wohnung eingeschaltet ist, versperrt ihm seine Reflexion einen Teil der Aussicht. Das ist deswegen ärgerlich, da die eigentlich gute Lage einer der Hauptgründe für die hohen Kosten des Apartments darstellt.

Das Fenster ist Teil eines dieser Ungetüme aus Glas und Stahl, wie sie seit dem 20. Jahrhundert dem Zeitgeist entsprechend erst klein und dann immer höher errichtet wurden. Wo die Bezeichnung anfangs noch metaphorisch zu verstehen war, durchstoßen die neuesten Vertreter dieser Gattung von Bauwerken tatsächlich die Wolkendecke und ragen bis weit in die Troposphäre hinein.

Er hatte das Gebäude schon seit einigen Tagen nicht mehr verlassen, einer der Nachteile davon in der 496. Etage zu leben. Der Weg zum Meeresspiegel und zurück kostet einfach zu viel Zeit, da selbst die titanverstärkten Gelenke, oftmals mehr Prothese als Bein, der betagtesten Residenten des Gebäudes nur einer begrenzten Beschleunigung der Aufzugskabinen standzuhalten vermögen. Der menschliche Intellekt hat parallel zur Größensteigerung der Türme wie für alle anderen technischen Probleme zuvor selbstverständlich auch für dieses Problem eine Lösung gefunden; den schnellsten Weg nach unten nimmt man jedoch nur einmal.

Gemäß den pythagoreischen trigonometrischen Theoremen des euklidischen Raums gewinnt die Wohnsituation in den oberen Stockwerken bedeutend an Qualität, sobald man in den Besitz eines Helikopter-Rotorflugzeugs gelangt und gleichzeitig eine der Wohneinheiten belegt, die über eine entsprechend an der äußeren Tragestruktur über den Grundriss hinausragende Start- und Landeplattform verfügt, zumindest falls man, wie bei Menschen mit solch Status und Vermögen, sich eines dieser Domizile leisten zu können, auszugehen ist, mit notwendiger Frequenz hinreichend große Strecken zurückzulegen hat. Die Gesamtreisezeit nimmt damit zwar nicht ab, aber der durch die erhobene bzw. die, wie diese Residenten selbst nicht müde zu betonen werden, erhabene Wohnsituation entstehende Mehrweg verliert im Vergleich dazu an Bedeutung.

Zuletzt bleibt noch die Feuertreppe. Ursprünglich verdankt sie ihren Namen wohl derselben Vorschrift, der sie auch ihre Existenz verdankt, nämlich der hiesigen Gebäudebrandschutzverordnung, die im Falle eines technischen Defekts der Aufzuganlagen einen alternativen Abstiegsweg mit hohen Überlebenschancen für alle Anwohner des Hochhauses vorschreibt, jedoch ist die gängige scherzhafte Interpretation unter diesen eher, dass die Waden eines jeden Menschen, der versuchte, die insgesamt 972 Stockwerke zu Fuß zu ersteigen, unweigerlich in Flammen aufgingen. Es gibt genau zwei Menschen, die das Treppenhaus in seiner Gänze gesehen und erklommen haben, zwei Leistungssportler, die nacheinander jeweils einen Weltrekord aufgestellt haben, bevor sie ihren Wettkampf auf neuere und noch größere Wolkenkratzer verlagert haben. Er ist kein Sportler, nicht einmal im Ansatz, aber an manchen Tagen steigt er eine Etage früher aus als er müsste und nutzt für das letzte Stück die Feuertreppe, an seltenen Tagen, wenn er besonders motiviert ist, läuft er in der großen Lobby im Erdgeschoss sogar an den Fahrstühlen vorbei, das alleine ist ein zusätzlicher Weg von 60m, und erklimmt die ersten paar Ebenen zu Fuß, bis ihn die schmerzende Beinmuskulatur und der ausbleibende Atem durch die offenen Fahrstuhltüren treiben, die ihn so bisher immer spätestens ab dem 12. Stockwerk in Empfang genommen und vor den neugierigen bis abfälligen Blicken der Anderen über seine Eskapaden bewahrt haben.

Er schaltet endlich das Licht aus und taucht ein in das Grau.
 
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