Sheila McLane
Mitglied
Bojan lenkte das Pferdegespann zum Weiler. Die Sonne war untergegangen und die ersten Sterne wurden sichtbar. Trutzig und wehrhaft hob sich die über Zwei-Mann hohe Palisadenwand als schwarze Silhouette vom dunkelnden Himmel ab; überragt vom Turm des Fürstenhauses, dem einzigen Steingebäude der Siedlung.
Der Wagen rumpelte durch das Tor, dessen schwere Flügel sofort hinter ihm geschlossen wurden. Im Schutze der Palisaden und der großen Bärenhunde, die des Nachts durch die Siedlung streiften, kamen die Bewohner nach dem Tagwerk langsam zur Ruhe.
Bojan hielt vor dem Stall. Arkhip und Torip - beste Freunde, wenn es nicht um Briankas Gunst ging - brachen ihr Scheingefecht mit Holzschwertern ab und eilten herbei, um die Pferde zu versorgen.
Einige Atemzüge verharrte Bojan mit Sarfin an der Seite und sah zum Fürstenhaus. Fremd war ihm das Gebäude geworden, das ihm noch vor wenigen Tagen ebenso vertraut und Heimat war wie das Grasland selbst. Dann wandte er sich ab und ging zum Gemeinschaftshaus.
Murmeln und Lachen drangen durch die Holzwände. Eine Flöte und eine Fidel spielten ein fröhliches Lied und einige Stimmen sangen mit. Bojan trat ein. Beißender Mückenkrautrauch hing unter den Deckenbalken, vermischte sich mit dem Geruch von Eintopf und dem aromatischen Duft brennendem Balsamholzes. Die Stube war voll. Im warmflackernden Licht der Ölfunzeln sah er viele vertraute Gesichter. Jedes Einzelne kannte er von Kindesbeinen an. Mit ihnen arbeitete er auf den Feldern, überwachte die Herden. Gemeinsam feierten sie im Überfluß und hungerten, wenn die Ernten schlecht ausfielen oder der Winter zu lange dauerte.
Doch jetzt war es anders: Stimmen verstummten bei Bojans Eintritt. Die Mienen der Anwesenden wurden verschlossen; Augen wichen seinem Blick aus. Flöte und Fiedel klangen überlaut.
Bojan ging zwischen den besetzten Bänken hindurch zu einem freien Platz neben Orin, dem Schmied. Der legte seine Karten aus der Hand.
„Es ist schon spät. Ich muss nach Hause“, murmelte er in den Bart und stand auf. Flüchtig streifte sein Blick Bojan. „Einen schönen Abend noch, junger Herr.“
‚Schon sind die vielen, gemeinsam getrunkene Becher Bier und durchspielte Nächte vergessen’, dachte
Bojan, während er Orins Gruß mit einer Boleskars gleichen hochmütigen Miene zur Kenntnis nahm. Er gab Juri, dem Betreiber des Gemeinschafthauses, ein Zeichen. So schnell es sein Holzbein zuließ, eilte Juri herbei.
„Junger Herr?“
„Bier und Eintopf.“
Juri versprach, beides zu bringen und entfernte sich. Inzwischen erhoben sich die beiden Knechte, die zuvor mit Orin Karten gespielt hatten und setzten sich an einen anderen Tisch. Juri brachte das Gewünschte und entfernte sich wieder. Der Appetit war Bojan vergangen, trotzdem löffelte er den dicken Gemüseeintopf und trank zwischendrin das Bier.
„An Fürst Yermolais Tafel gab es heute Abend Braten.“ Meister Samail ließ sich Bojan gegenüber am Tisch nieder und stopfte seine Pfeife mit Mückenkraut.
„Für mich hätte er heute den gleichen Geschmack wie dieser Eintopf.“ Bojan schob den halb geleerten Teller zur Seite und prostete dem Waffenmeister zu. „Was treibt Euch hierher, Meister Samail? Doch sicher nicht das Verlangen, mir in dieser fröhlichen Runde Gesellschaft zu leisten.“
Gemächlich entzündete der Waffenmeister seine Pfeife, zog daran und entließ seinem Mundwinkel mehrere weiße Rauchwölkchen.
„Du hast die letzte Nacht draußen verbracht.“
„Na und? Ich pflege öfters bei Bedarf oder je nach Laune außerhalb unseres Weilers zu übernachten. Das ist nichts Neues.“
„Nein, das ist nichts Neues.“ Meister Samail hielt die Augen geschlossen und paffte einige Wölkchen. „Aber neu ist dein jetziger Grund.“ Er sah Bojan an. Die Augen, die so freundlich wie ein Frühlingshimmel blicken konnten, hatten nun den unerbittlichen Glanz, mit dem er früher Bojans Ausbildung an den Waffen und in der Kampfkunst zu überwachen pflegte. Der kleinste Fehler und die geringste Nachlässigkeit entdeckte sein scharfer Blick und wurden umgehend, meist schmerzhaft, geahndet. „Verteile nicht den Zorn über deine eigene Dummheit auf die Häupter der einfachen Leute. Das habe ich dir nicht beigebracht und ist meines Schülers unwürdig. Und ich bezweifle, dass SIE dir beibrachten, andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen.“
„Meister Samail! Was erlaubt Ihr Euch? Ich verbiete Euch, so mit mir zu sprechen!“
„Fürst Yermolai wäre der Einzige, der mir zu schweigen gebieten könnte. Doch ist er klug genug, sich meine Worte anzuhören und zu überdenken.“ Die Stimme von Meister Samail grollte durch den Raum und brachte Unterhaltung und Musik zum Erliegen. Worte und Haltung waren stolz und herausfordernd, ganz eines Mannes würdig, der keinen Feind fürchtete und an Fürst Yermolais Seite in zahlreiche Schlachten zog; der das Wagnis einging, seinen Freund Yermolai in die wilden Lande des Nordens zu begleiten und dort eine Siedlung zu gründen. „Ich erlaube mir den Bojan zu suchen, der großzügig, gerecht und über die kleinliche Furcht unwissender Geister erhaben ist“, setzte Meister Samail leise hinzu.
Bojan schwieg und überdachte die Worte des Waffenmeisters auf seine jetzige Lage.
„Ich hätte nicht mit Boleskar kämpfen dürfen“, kam er schließlich zum Schluß. „Als mich Boleskar zum Übungskampf aufforderte, wollte ich …“ – ihm eine Freude machen. Doch die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Es wäre eine Lüge gewesen. Bojan atmete tief durch. „Ich wollte wissen, ob die Kriegerschule in Atlaris wirklich so gut ist.“
„Ob Boleskar so gut ist“, stellte Meister Samail richtig. Beschämt senkte Bojan den Kopf. „Verzeiht mir, Meister Samail. Ich weiß: Ein Waffengang soll nur zur Übung oder zur Verteidigung dienen und nicht der Selbstsucht.“
„Nachdem du festgestellt hast, dass Boleskar dir nicht gewachsen war, wolltest du den Kampf abbrechen.“
Bojan nickte. „Ihr mögt keinen berühmten Namen haben wie all die Lehrer in der Kriegerschule, Meister Samail, aber ihr habt mir mehr beigebracht. Ihr wart der bessere Lehrer.“
Meister Samail lachte. „Ich konnte dir seit deinem siebzehnten Sommer nichts mehr beibringen, Bojan. Du hast dir selbst die Besten aller Lehrer gesucht. Umso glücklicher bin ich, dass dir der Weg des Bodens wichtiger ist als der des Schwertes.“
„Ihr habt gegen das Waldvolk gekämpft, Meister Samail, und doch hegt Ihr Achtung für sie. Noch nie habe ich von Euch eine Schmähung gehört.“
„Wieso sollte ich einen tapferen Gegner schmähen?“
„Vater achtet ebenfalls einen tapferen Gegner und ist stets bereit, nach einem Kampf die Hand zum Frieden zu reichen. Aber nicht bei dem Waldvolk.“
„Wir leben hier in Frieden, sowohl mit den wilden Völkern als auch mit dem westlichen Waldvolk. Einen Frieden, den wir dir verdanken, Bojan, und den auch Fürst Yermolai zu schätzen weiß und bewahrt.“
„Trotzdem“, beharrte Bojan, „da ist noch etwas anderes als nur Achtung vor einem tapferen Gegner zwischen dem Waldvolk und Euch.“
Für einen Wimpernschlag hatte Bojan den Verdacht, Meister Samail würde erröten. Doch der Moment ging vorbei und er schob die Wahrnehmung dem flackernden Licht der Öllampen zu.
„Deine Ahnungen treiben bunte Blüten wie der Bilichbaum im Frühling, Bojan.“ Meister Samail stand auf. „Komm’, lass uns gehen.“
Der Wind strich über sie hinweg; verfing sich in den Kleidern; verbiss sich in der Haut mit der Kälte des ausgekühlten Bodens und des ewigen Winters im Norden. Ein Schauer durchlief Bojans Körper und gleichzeitig stellte sich ein Glücksgefühl ein. Obwohl im Südland geboren, setzten seine ersten Erinnerung hier im Grasland ein.
„Könntet Ihr Euch vorstellen, woanders als im Grasland zu leben, Meister Samail?“
Der Waffenmeister sah zu den Sternen hoch, die glitzernd und klar ihr silbernes Licht verströmten. „Nein, Bojan. Es gibt für mich keinen anderen Platz mehr, an dem ich leben möchte.“ Er wandte sich Bojan zu. Die Fältchen um seine Augen kräuselten sich. „Und auch einmal sterben.“
„Meister Samail …“
„Erspar’ mir jegliches Geschwätz. Du bist diesem Land verbunden und du weißt um den Kreislauf des Lebens. Ich habe ein langes Leben gelebt und die Götter gewährten mir die Gunst, jemanden zu finden, der meinem Geist und Herzen wie ein Sohn nahesteht. – Wir verstehen uns?“
Bojan schluckte und nickte.
„Gut - Fürst Yermolai wünscht, morgen früh mit all seinen Kindern zu speisen.“
Alleine der Gedanke an Borleskas hochmütiges Gehabe genügte, um ihm die Lust an ein gemeinsames Essen zu verderben. ‚Und Vater wird den Kampf ebenfalls nicht unerwähnt lassen.’ Er kannte seinen Vater: In der Gegenwart seiner Kinder würde sich Fürst Yermolai keinen Zwang auferlegen. Eine Rüge in Boleskars Gegenwart? Tausend Nadeln stachen stachen in sein Herz.
„Ich habe eine Zurechtweisung verdient. Aber ich werde sie nicht in der Gegenwart von Boleskar empfangen. Ich werde noch vor Sonnenaufgang auf dem Feld sein. Sagt Fürst Yermolai, Ihr habt mich nicht gefunden. “ Er drängte an Meister Samail vorbei.
„Ich dachte, du besitzt Mut.“
Bojan drehte sich um. „Ausgerechnet Ihr, Meister Samail, bezweifelt meinen Mut? Ihr kennt mich seit meiner Geburt. Ihr wart mein Waffenmeister.“
„Der Bojan, den ich kenne, würde wissen, dass er dem Ärger nicht ausweichen kann.“
„Ihr seid hart in Eurem Urteil, Meister Samail. Boleskar ist eine elegante Zecke. Er sollte im Süden leben. Unter den Adligen, die er so bewundert. Für das Leben im Grasland taugt er nichts.“
Meister Samail hob die Hand und deutete auf das Herrenhaus.
„Geh hinein. Beweise dir, mir und Fürst Yermolai, dass du ein Kind dieses Landes bist. Du – und nicht Boleskar.“
Bojan atmete tief durch. Im Wind lag der Geruch von Kälte und Schnee des vergangenen Winters und die Würze und Wärme des kommenden Sommers. ‚Er kennt mich wahrlich gut und weiß, in welche Kerbe er schlagen muss’, dachte Bojan.
„Euer Biss ist immer noch scharf, Meister Samail.“
„Es ist der Biss eines alten Dachses“, erwiderte Meister Samail und Bojan hörte ein zufriedenes Lächeln in der Stimme. „Die Zähne sind stumpf.“
„Deswegen ist der Biss nicht weniger wirkungsvoll.“
Der Wagen rumpelte durch das Tor, dessen schwere Flügel sofort hinter ihm geschlossen wurden. Im Schutze der Palisaden und der großen Bärenhunde, die des Nachts durch die Siedlung streiften, kamen die Bewohner nach dem Tagwerk langsam zur Ruhe.
Bojan hielt vor dem Stall. Arkhip und Torip - beste Freunde, wenn es nicht um Briankas Gunst ging - brachen ihr Scheingefecht mit Holzschwertern ab und eilten herbei, um die Pferde zu versorgen.
Einige Atemzüge verharrte Bojan mit Sarfin an der Seite und sah zum Fürstenhaus. Fremd war ihm das Gebäude geworden, das ihm noch vor wenigen Tagen ebenso vertraut und Heimat war wie das Grasland selbst. Dann wandte er sich ab und ging zum Gemeinschaftshaus.
Murmeln und Lachen drangen durch die Holzwände. Eine Flöte und eine Fidel spielten ein fröhliches Lied und einige Stimmen sangen mit. Bojan trat ein. Beißender Mückenkrautrauch hing unter den Deckenbalken, vermischte sich mit dem Geruch von Eintopf und dem aromatischen Duft brennendem Balsamholzes. Die Stube war voll. Im warmflackernden Licht der Ölfunzeln sah er viele vertraute Gesichter. Jedes Einzelne kannte er von Kindesbeinen an. Mit ihnen arbeitete er auf den Feldern, überwachte die Herden. Gemeinsam feierten sie im Überfluß und hungerten, wenn die Ernten schlecht ausfielen oder der Winter zu lange dauerte.
Doch jetzt war es anders: Stimmen verstummten bei Bojans Eintritt. Die Mienen der Anwesenden wurden verschlossen; Augen wichen seinem Blick aus. Flöte und Fiedel klangen überlaut.
Bojan ging zwischen den besetzten Bänken hindurch zu einem freien Platz neben Orin, dem Schmied. Der legte seine Karten aus der Hand.
„Es ist schon spät. Ich muss nach Hause“, murmelte er in den Bart und stand auf. Flüchtig streifte sein Blick Bojan. „Einen schönen Abend noch, junger Herr.“
‚Schon sind die vielen, gemeinsam getrunkene Becher Bier und durchspielte Nächte vergessen’, dachte
Bojan, während er Orins Gruß mit einer Boleskars gleichen hochmütigen Miene zur Kenntnis nahm. Er gab Juri, dem Betreiber des Gemeinschafthauses, ein Zeichen. So schnell es sein Holzbein zuließ, eilte Juri herbei.
„Junger Herr?“
„Bier und Eintopf.“
Juri versprach, beides zu bringen und entfernte sich. Inzwischen erhoben sich die beiden Knechte, die zuvor mit Orin Karten gespielt hatten und setzten sich an einen anderen Tisch. Juri brachte das Gewünschte und entfernte sich wieder. Der Appetit war Bojan vergangen, trotzdem löffelte er den dicken Gemüseeintopf und trank zwischendrin das Bier.
„An Fürst Yermolais Tafel gab es heute Abend Braten.“ Meister Samail ließ sich Bojan gegenüber am Tisch nieder und stopfte seine Pfeife mit Mückenkraut.
„Für mich hätte er heute den gleichen Geschmack wie dieser Eintopf.“ Bojan schob den halb geleerten Teller zur Seite und prostete dem Waffenmeister zu. „Was treibt Euch hierher, Meister Samail? Doch sicher nicht das Verlangen, mir in dieser fröhlichen Runde Gesellschaft zu leisten.“
Gemächlich entzündete der Waffenmeister seine Pfeife, zog daran und entließ seinem Mundwinkel mehrere weiße Rauchwölkchen.
„Du hast die letzte Nacht draußen verbracht.“
„Na und? Ich pflege öfters bei Bedarf oder je nach Laune außerhalb unseres Weilers zu übernachten. Das ist nichts Neues.“
„Nein, das ist nichts Neues.“ Meister Samail hielt die Augen geschlossen und paffte einige Wölkchen. „Aber neu ist dein jetziger Grund.“ Er sah Bojan an. Die Augen, die so freundlich wie ein Frühlingshimmel blicken konnten, hatten nun den unerbittlichen Glanz, mit dem er früher Bojans Ausbildung an den Waffen und in der Kampfkunst zu überwachen pflegte. Der kleinste Fehler und die geringste Nachlässigkeit entdeckte sein scharfer Blick und wurden umgehend, meist schmerzhaft, geahndet. „Verteile nicht den Zorn über deine eigene Dummheit auf die Häupter der einfachen Leute. Das habe ich dir nicht beigebracht und ist meines Schülers unwürdig. Und ich bezweifle, dass SIE dir beibrachten, andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen.“
„Meister Samail! Was erlaubt Ihr Euch? Ich verbiete Euch, so mit mir zu sprechen!“
„Fürst Yermolai wäre der Einzige, der mir zu schweigen gebieten könnte. Doch ist er klug genug, sich meine Worte anzuhören und zu überdenken.“ Die Stimme von Meister Samail grollte durch den Raum und brachte Unterhaltung und Musik zum Erliegen. Worte und Haltung waren stolz und herausfordernd, ganz eines Mannes würdig, der keinen Feind fürchtete und an Fürst Yermolais Seite in zahlreiche Schlachten zog; der das Wagnis einging, seinen Freund Yermolai in die wilden Lande des Nordens zu begleiten und dort eine Siedlung zu gründen. „Ich erlaube mir den Bojan zu suchen, der großzügig, gerecht und über die kleinliche Furcht unwissender Geister erhaben ist“, setzte Meister Samail leise hinzu.
Bojan schwieg und überdachte die Worte des Waffenmeisters auf seine jetzige Lage.
„Ich hätte nicht mit Boleskar kämpfen dürfen“, kam er schließlich zum Schluß. „Als mich Boleskar zum Übungskampf aufforderte, wollte ich …“ – ihm eine Freude machen. Doch die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Es wäre eine Lüge gewesen. Bojan atmete tief durch. „Ich wollte wissen, ob die Kriegerschule in Atlaris wirklich so gut ist.“
„Ob Boleskar so gut ist“, stellte Meister Samail richtig. Beschämt senkte Bojan den Kopf. „Verzeiht mir, Meister Samail. Ich weiß: Ein Waffengang soll nur zur Übung oder zur Verteidigung dienen und nicht der Selbstsucht.“
„Nachdem du festgestellt hast, dass Boleskar dir nicht gewachsen war, wolltest du den Kampf abbrechen.“
Bojan nickte. „Ihr mögt keinen berühmten Namen haben wie all die Lehrer in der Kriegerschule, Meister Samail, aber ihr habt mir mehr beigebracht. Ihr wart der bessere Lehrer.“
Meister Samail lachte. „Ich konnte dir seit deinem siebzehnten Sommer nichts mehr beibringen, Bojan. Du hast dir selbst die Besten aller Lehrer gesucht. Umso glücklicher bin ich, dass dir der Weg des Bodens wichtiger ist als der des Schwertes.“
„Ihr habt gegen das Waldvolk gekämpft, Meister Samail, und doch hegt Ihr Achtung für sie. Noch nie habe ich von Euch eine Schmähung gehört.“
„Wieso sollte ich einen tapferen Gegner schmähen?“
„Vater achtet ebenfalls einen tapferen Gegner und ist stets bereit, nach einem Kampf die Hand zum Frieden zu reichen. Aber nicht bei dem Waldvolk.“
„Wir leben hier in Frieden, sowohl mit den wilden Völkern als auch mit dem westlichen Waldvolk. Einen Frieden, den wir dir verdanken, Bojan, und den auch Fürst Yermolai zu schätzen weiß und bewahrt.“
„Trotzdem“, beharrte Bojan, „da ist noch etwas anderes als nur Achtung vor einem tapferen Gegner zwischen dem Waldvolk und Euch.“
Für einen Wimpernschlag hatte Bojan den Verdacht, Meister Samail würde erröten. Doch der Moment ging vorbei und er schob die Wahrnehmung dem flackernden Licht der Öllampen zu.
„Deine Ahnungen treiben bunte Blüten wie der Bilichbaum im Frühling, Bojan.“ Meister Samail stand auf. „Komm’, lass uns gehen.“
Der Wind strich über sie hinweg; verfing sich in den Kleidern; verbiss sich in der Haut mit der Kälte des ausgekühlten Bodens und des ewigen Winters im Norden. Ein Schauer durchlief Bojans Körper und gleichzeitig stellte sich ein Glücksgefühl ein. Obwohl im Südland geboren, setzten seine ersten Erinnerung hier im Grasland ein.
„Könntet Ihr Euch vorstellen, woanders als im Grasland zu leben, Meister Samail?“
Der Waffenmeister sah zu den Sternen hoch, die glitzernd und klar ihr silbernes Licht verströmten. „Nein, Bojan. Es gibt für mich keinen anderen Platz mehr, an dem ich leben möchte.“ Er wandte sich Bojan zu. Die Fältchen um seine Augen kräuselten sich. „Und auch einmal sterben.“
„Meister Samail …“
„Erspar’ mir jegliches Geschwätz. Du bist diesem Land verbunden und du weißt um den Kreislauf des Lebens. Ich habe ein langes Leben gelebt und die Götter gewährten mir die Gunst, jemanden zu finden, der meinem Geist und Herzen wie ein Sohn nahesteht. – Wir verstehen uns?“
Bojan schluckte und nickte.
„Gut - Fürst Yermolai wünscht, morgen früh mit all seinen Kindern zu speisen.“
Alleine der Gedanke an Borleskas hochmütiges Gehabe genügte, um ihm die Lust an ein gemeinsames Essen zu verderben. ‚Und Vater wird den Kampf ebenfalls nicht unerwähnt lassen.’ Er kannte seinen Vater: In der Gegenwart seiner Kinder würde sich Fürst Yermolai keinen Zwang auferlegen. Eine Rüge in Boleskars Gegenwart? Tausend Nadeln stachen stachen in sein Herz.
„Ich habe eine Zurechtweisung verdient. Aber ich werde sie nicht in der Gegenwart von Boleskar empfangen. Ich werde noch vor Sonnenaufgang auf dem Feld sein. Sagt Fürst Yermolai, Ihr habt mich nicht gefunden. “ Er drängte an Meister Samail vorbei.
„Ich dachte, du besitzt Mut.“
Bojan drehte sich um. „Ausgerechnet Ihr, Meister Samail, bezweifelt meinen Mut? Ihr kennt mich seit meiner Geburt. Ihr wart mein Waffenmeister.“
„Der Bojan, den ich kenne, würde wissen, dass er dem Ärger nicht ausweichen kann.“
„Ihr seid hart in Eurem Urteil, Meister Samail. Boleskar ist eine elegante Zecke. Er sollte im Süden leben. Unter den Adligen, die er so bewundert. Für das Leben im Grasland taugt er nichts.“
Meister Samail hob die Hand und deutete auf das Herrenhaus.
„Geh hinein. Beweise dir, mir und Fürst Yermolai, dass du ein Kind dieses Landes bist. Du – und nicht Boleskar.“
Bojan atmete tief durch. Im Wind lag der Geruch von Kälte und Schnee des vergangenen Winters und die Würze und Wärme des kommenden Sommers. ‚Er kennt mich wahrlich gut und weiß, in welche Kerbe er schlagen muss’, dachte Bojan.
„Euer Biss ist immer noch scharf, Meister Samail.“
„Es ist der Biss eines alten Dachses“, erwiderte Meister Samail und Bojan hörte ein zufriedenes Lächeln in der Stimme. „Die Zähne sind stumpf.“
„Deswegen ist der Biss nicht weniger wirkungsvoll.“