„Du musst genau schauen, bevor du losgehst. Erst wenn er ein neues Auto anhält und er sich die Pässe anschaut gehst du los, verstanden?“ Das hatte ich mir den ganzen Vormittag anhören müssen. Erst die ganze Zeit während wir in dem vollgepferchten Bus saßen und dann in der Zeit während wir darauf warteten, dass mein Onkel das Zeichen gab, dass er auf der anderen Seite wartete. „Ich weiß doch, Mama, ich weiß! Hinter den Autos, wenn er gerade nicht guckt, direkt ins Toilettenhäuschen.“ leierte ich gebetsmühlenartig runter. „Braves Kind!“ seufzte sie, strich mir durch das kurze Haar und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Sie sah mich mit einem für mich undefinierbarem Blick an. Heute würde ich es als Mischung aus Angst und Verzweiflung interpretieren, doch damals im Jahre 1992 machte ich mir nur darüber Gedanken wie ich die kürzeste Route zwischen den Autos finden sollte um ungesehen in besagtes Klohäuschen zu schlüpfen.
Wir waren zuvor schon mehrmals in Deutschland gewesen - mit Visum - zu Besuch bei dem Onkel, der jetzt auf der anderen Seite auf uns wartete. Diesmal schien es jedoch kein Besuch zu sein, denn wir durften nicht wie üblich im Bus sitzen bleiben um bis zur Bushaltestelle in München zu fahren. Stattdessen waren wir kurz vor der Grenze aus dem Bus gelassen worden und waren die letzten hundert Meter zu Fuß gelaufen. Ich mochte die Besuche bei meinem Onkel und hatte schon ein paar Wörter Deutsch gelernt, dennoch hatte ich mich diesmal nicht wirklich auf die Reise gefreut. Das erste Schuljahr neigte sich gerade dem Ende zu, ich war Klassenbeste und hatte es endlich geschafft eine Freundin zu finden - der Sommer stand an, Versteckspiele auf den Straßen, malen im Garten, Fangen mit den Nachbarskindern, Freunde. Und so wie es aussah fuhren wir diesmal nicht nach ein paar Tagen wieder zurück.
„Los, los, er ist sicher längst da! Schau, da fährt gerade ein neues Auto ran, du musst dich gleich auf den Weg machen!“ flüsterte meine Mutter nun. Ich steckte mein Shirt in die Hose und knöpfte den letzten Knopf meiner Strickjacke zu. Sie würde mir gleich hinterherkommen, beim nächsten Auto. Zwei Fußgänger waren zu offensichtlich, ich würde wohl ein paar Minuten auf sie warten müssen. Das Auto fuhr an, wurde langsam er und der Fahrer ließ das Fenster runter. Er reichte dem Grenzbeamten die Pässe heraus. Ich sah zu den Kindern auf dem Rücksitz. Der Junge öffnete ebenfalls sein Fenster und wollte mir zuwinken. „Los, los, schnell jetzt!“ flüsterte meine Mutter fast panisch. Ich setzte mich in Bewegung. Erst hinter ein parkendes Auto, es gehörte wohl einem der Mitarbeiter am Grenzübergang, dann weiter geradeaus. Auf Höhe des Kontrollhäuschens drehte ich mich noch einmal um. Der Junge hatte seinen Kopf aus dem Auto gestreckt und sah mir nach. „Mama!“ rief er und guckte wieder ins Auto, den Zeigefinger in meine Richtung ausgestreckt. Ich beschleunigte, ging geduckt hinter einem weiteren Auto vorbei und bewältigte die restlichen Schritte zum Klohäuschen im Laufschritt. Drinnen angekommen ging ich in die Kabine, schloß die Tür hinter mir und spürte wie mir Tränen über das Gesicht liefen. Ein Schluchzer bahnte sich von ganz tief unten seinen Weg.
Ich hörte die Tür aufgehen. „Wo bist du?“ flüsterte meine Mutter. Da ich kein Wort rausbrachte trat ich in den Vorraum. Sie nahm mich fest in den Arm. „Komm, wir müssen weiter, Er wartet auf dem Parkplatz auf uns.“ Wir verließen das Toilettenhäuschen und gingen Hand in Hand in die Richtung in der wir das Auto meines Onkels vermuteten. „Nur schnell weg von der Grenze.“ sagte meine Mutter und presste ihre flache Hand gegen meinen Rücken, damit ich nicht stehenbliebe. Auf dem Parkplatz auf der deutschen Seite stand das Auto von vorhin. Der Junge und seine kleine Schwester spielten fangen. Er ließ
ihr jedes Mal einen gewaltigen Vorsprung bevor er sie mühelos in wenigen Schritten erreichte und abklatschte. So ging das ein paar Runden, bis mein Onkel auf den Parkplatz bog. Er nahm uns beide fest in den Arm. „Wie gut, dass alles geklappt hat!“ sagte er „Ich habe gehört sie haben in der Nacht Leute erwischt, die versucht haben die Grenze zu überqueren, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht.“ „Was ist mit ihnen passiert?“ fragte ich und versuchte die Angst in meiner Stimme zu verbergen. „Sie kommen wohl erst ins Gefängnis und werden wieder zurückgeschickt.“ sagte er. Meine Mutter nickte wissend. Es war Krieg.
Die Tatsache, dass bei uns Krieg herrschte bzw. im Begriff war all’ das zu zerstören was wir kannten, hatte es uns diesmal unmöglich gemacht legal einzureisen. Visa wurden nicht vergeben, da die Gefahr zu groß war, dass die Menschen wenn sie einmal da waren wegen des Krieges auch bleiben wollten. Wir wollten bleiben - mussten es wollen.
Der Junge sah zu uns herüber und sagte etwas in der Sprache, die ich zu dem Zeitpunkt nicht kannte, nicht verstand und in der ich heute träume. „Er fragt ob du mitspielen willst.“ übersetzte mein Onkel. Ich schüttelte den Kopf. Er sah mich an, zuckte mit den Schultern und ging wieder zu seiner Schwester zurück, die in sicherer Entfernung gewartet hatte. „Lasst uns bitte so schnell wie möglich fahren!“ bat meine Mutter. Wir stiegen ein und fuhren los - ließen die Grenze hinter uns. Ich sah noch wie der Junge sich daran machte seine Schwester ein weiteres Mal zu fangen.
Die Grenzen, die wir nicht hinter uns lassen konnten waren in uns und den Menschen mit denen wir es fortan zu tun hatten - das hatte ich schnell gelernt. Zunächst einmal war da die Grenze der Sprache, die innerhalb kurzer Zeit überwunden wurde. Doch es blieben die Grenzen der Herkunft, des Glaubens, der unaussprechbaren Namen, der Geschichten mit denen man aufgewachsen ist, der Esskultur und so viele mehr, die sich jedem, der keinen Stammbaum vorzuweisen hat, tagtäglich aufs Neue offenbarten und offenbaren. Lange Zeit lebten wir mit der Hoffnung irgendwann, wenigstens in den Ferien zurückkehren zu können und wieder grenzenlos frei, glücklich und an die Erde gebunden zu sein der man entsprang. Als uns dieser Wunsch erfüllt wurde und wir das erste Mal durch die Stadt liefen, die wir vor Jahren verlassen hatten, wurden wir als die Deutschen begrüßt. „Stigli nam Njemci!“ schallte es von hier und dort. „Die Deutschen sind angekommen!“
Grenzen sind tückisch, schlussfolgerte ich daraus, sie sind entweder schon immer da oder sie entstehen und zwar selbst dort, wo man sie nicht erwartet, wenn man nur einen Augenblick wegschaut.
ein Schritt nur
und ein Schritt
und das Niemandsland bleibt zurück
und doch
nimmst du es mit
und kehrst du
einen Schritt nur
aus dem Niemandsland zurück
siehst du
du nimmst es mit
ein Niemand jetzt hier und dort
Niemand an jedem Ort
Wir waren zuvor schon mehrmals in Deutschland gewesen - mit Visum - zu Besuch bei dem Onkel, der jetzt auf der anderen Seite auf uns wartete. Diesmal schien es jedoch kein Besuch zu sein, denn wir durften nicht wie üblich im Bus sitzen bleiben um bis zur Bushaltestelle in München zu fahren. Stattdessen waren wir kurz vor der Grenze aus dem Bus gelassen worden und waren die letzten hundert Meter zu Fuß gelaufen. Ich mochte die Besuche bei meinem Onkel und hatte schon ein paar Wörter Deutsch gelernt, dennoch hatte ich mich diesmal nicht wirklich auf die Reise gefreut. Das erste Schuljahr neigte sich gerade dem Ende zu, ich war Klassenbeste und hatte es endlich geschafft eine Freundin zu finden - der Sommer stand an, Versteckspiele auf den Straßen, malen im Garten, Fangen mit den Nachbarskindern, Freunde. Und so wie es aussah fuhren wir diesmal nicht nach ein paar Tagen wieder zurück.
„Los, los, er ist sicher längst da! Schau, da fährt gerade ein neues Auto ran, du musst dich gleich auf den Weg machen!“ flüsterte meine Mutter nun. Ich steckte mein Shirt in die Hose und knöpfte den letzten Knopf meiner Strickjacke zu. Sie würde mir gleich hinterherkommen, beim nächsten Auto. Zwei Fußgänger waren zu offensichtlich, ich würde wohl ein paar Minuten auf sie warten müssen. Das Auto fuhr an, wurde langsam er und der Fahrer ließ das Fenster runter. Er reichte dem Grenzbeamten die Pässe heraus. Ich sah zu den Kindern auf dem Rücksitz. Der Junge öffnete ebenfalls sein Fenster und wollte mir zuwinken. „Los, los, schnell jetzt!“ flüsterte meine Mutter fast panisch. Ich setzte mich in Bewegung. Erst hinter ein parkendes Auto, es gehörte wohl einem der Mitarbeiter am Grenzübergang, dann weiter geradeaus. Auf Höhe des Kontrollhäuschens drehte ich mich noch einmal um. Der Junge hatte seinen Kopf aus dem Auto gestreckt und sah mir nach. „Mama!“ rief er und guckte wieder ins Auto, den Zeigefinger in meine Richtung ausgestreckt. Ich beschleunigte, ging geduckt hinter einem weiteren Auto vorbei und bewältigte die restlichen Schritte zum Klohäuschen im Laufschritt. Drinnen angekommen ging ich in die Kabine, schloß die Tür hinter mir und spürte wie mir Tränen über das Gesicht liefen. Ein Schluchzer bahnte sich von ganz tief unten seinen Weg.
Ich hörte die Tür aufgehen. „Wo bist du?“ flüsterte meine Mutter. Da ich kein Wort rausbrachte trat ich in den Vorraum. Sie nahm mich fest in den Arm. „Komm, wir müssen weiter, Er wartet auf dem Parkplatz auf uns.“ Wir verließen das Toilettenhäuschen und gingen Hand in Hand in die Richtung in der wir das Auto meines Onkels vermuteten. „Nur schnell weg von der Grenze.“ sagte meine Mutter und presste ihre flache Hand gegen meinen Rücken, damit ich nicht stehenbliebe. Auf dem Parkplatz auf der deutschen Seite stand das Auto von vorhin. Der Junge und seine kleine Schwester spielten fangen. Er ließ
ihr jedes Mal einen gewaltigen Vorsprung bevor er sie mühelos in wenigen Schritten erreichte und abklatschte. So ging das ein paar Runden, bis mein Onkel auf den Parkplatz bog. Er nahm uns beide fest in den Arm. „Wie gut, dass alles geklappt hat!“ sagte er „Ich habe gehört sie haben in der Nacht Leute erwischt, die versucht haben die Grenze zu überqueren, ich habe mir wirklich Sorgen gemacht.“ „Was ist mit ihnen passiert?“ fragte ich und versuchte die Angst in meiner Stimme zu verbergen. „Sie kommen wohl erst ins Gefängnis und werden wieder zurückgeschickt.“ sagte er. Meine Mutter nickte wissend. Es war Krieg.
Die Tatsache, dass bei uns Krieg herrschte bzw. im Begriff war all’ das zu zerstören was wir kannten, hatte es uns diesmal unmöglich gemacht legal einzureisen. Visa wurden nicht vergeben, da die Gefahr zu groß war, dass die Menschen wenn sie einmal da waren wegen des Krieges auch bleiben wollten. Wir wollten bleiben - mussten es wollen.
Der Junge sah zu uns herüber und sagte etwas in der Sprache, die ich zu dem Zeitpunkt nicht kannte, nicht verstand und in der ich heute träume. „Er fragt ob du mitspielen willst.“ übersetzte mein Onkel. Ich schüttelte den Kopf. Er sah mich an, zuckte mit den Schultern und ging wieder zu seiner Schwester zurück, die in sicherer Entfernung gewartet hatte. „Lasst uns bitte so schnell wie möglich fahren!“ bat meine Mutter. Wir stiegen ein und fuhren los - ließen die Grenze hinter uns. Ich sah noch wie der Junge sich daran machte seine Schwester ein weiteres Mal zu fangen.
Die Grenzen, die wir nicht hinter uns lassen konnten waren in uns und den Menschen mit denen wir es fortan zu tun hatten - das hatte ich schnell gelernt. Zunächst einmal war da die Grenze der Sprache, die innerhalb kurzer Zeit überwunden wurde. Doch es blieben die Grenzen der Herkunft, des Glaubens, der unaussprechbaren Namen, der Geschichten mit denen man aufgewachsen ist, der Esskultur und so viele mehr, die sich jedem, der keinen Stammbaum vorzuweisen hat, tagtäglich aufs Neue offenbarten und offenbaren. Lange Zeit lebten wir mit der Hoffnung irgendwann, wenigstens in den Ferien zurückkehren zu können und wieder grenzenlos frei, glücklich und an die Erde gebunden zu sein der man entsprang. Als uns dieser Wunsch erfüllt wurde und wir das erste Mal durch die Stadt liefen, die wir vor Jahren verlassen hatten, wurden wir als die Deutschen begrüßt. „Stigli nam Njemci!“ schallte es von hier und dort. „Die Deutschen sind angekommen!“
Grenzen sind tückisch, schlussfolgerte ich daraus, sie sind entweder schon immer da oder sie entstehen und zwar selbst dort, wo man sie nicht erwartet, wenn man nur einen Augenblick wegschaut.
ein Schritt nur
und ein Schritt
und das Niemandsland bleibt zurück
und doch
nimmst du es mit
und kehrst du
einen Schritt nur
aus dem Niemandsland zurück
siehst du
du nimmst es mit
ein Niemand jetzt hier und dort
Niemand an jedem Ort