Große, blaue Augen

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schosc96

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Für Clara.


Große, blaue Augen. Und langes, glänzend braunes Haar. So schnell war diese Erscheinung vorüber. Das kleine Mädchen, das Paul ihren Blick zuwarf, ging mit ihrer Mutter langsamen Schrittes in den grünen Auen am Stadtrand spazieren. Als sich die Blicke trafen, richtete Paul sich auf. Stundenlang hatte er auf dieser Bank gelegen und seinen Gedanken den freien Lauf ins Nichts gelassen. Doch als sich diese Leere plötzlich füllte, kam er zu sich. Und bevor er glaubte, diesen Blick erwidern zu können, war der Moment vorüber. Der Augenblick dauerte nur ein paar Sekunden - und dieses Gefühl kam nicht sofort. Ein paar Minuten brauchte es, bis Paul sich zu fragen begann, was dieses Mädchen wohl gerade gesehen hatte. Was sie in diesem einen Moment gerade gedacht haben muss? Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass sie ihn wirklich wahrgenommen hat. Ein kleines Kind, das mit seiner Mutter spazieren geht, an einem lauen Herbsttag, leichte Windprisen, durch die die Bäume sprechen, der Geruch nach Erde, und von fern her sangen sich die Enten ein Lied des verklungenen Sommers. So viele Reize, die ein unbeschriebenes Gewissen mit allerlei Gedanken füllen konnten, auch wenn diese nur kurzweilig waren.

Doch Paul ließ sich auf ein Gedankenspiel ein. Das kleine Mädchen hieß nun Ava - und sie warf einem auf einer Bank liegenden und starr zu Boden schauenden Mann einen Blick zu. Solch ein Blick traf Paul lange nicht mehr. Was sah sie also? Sah sie ihn, mit zarten sieben Jahren auf dem Spielplatz, auf dem Zenit seines Schaukelschwunges einen Tannenzapfen genau im entfernt liegenden Trinkbrunnen versenken? Den eleganten Absprung und die sichere Landung, gefolgt von einem stolzen Lächeln und dem kehrenden Blick zu seiner jauchzenden und applaudierenden Mutter? Waren es Avas Augen, die den mit größter Sorgfalt gepflückten Strauß Gänseblümchen sahen, den der zwölfjährige Paul seiner ersten Liebe nach der Schule überbrachte? Das aufgeregte Zittern seiner Hände, das die geneigten Köpfe der verkommenen Blumen mit ihm teilten? Konnte sie Pauls vor schluchzen zuckenden Körper sehen, mit siebzehn Jahren auf seinem Bett liegend, hörend, wie seine Eltern einander lauthals die Scheidung aussprachen? Oder Paul, mit achtundzwanzig Jahren, schnellen Schrittes durch die Stadt wandernd und versuchend, mit aller Freundlichkeit und Beharrlichkeit Küchengeräte zu verkaufen, die er selbst nie benutzt hatte, nur, um die letzten paar Groschen für den Mietzins aufbringen zu können? Konnte Ava vielleicht erahnen, was Paul durch seinen vierzigjährigen Kopf ging, auch wenn er es selbst nicht wusste – mit zwei Plastiksäcken vor seinem Wohnhaus stehend, dessen Schlüssel ihm gerade genommen wurde? Die vielen Jahre danach, die brütenden Sommer in der Stadt, die wertenden Blicke der Spazierer, Radfahrer und anderen hektischen Freizeitgenießer, denen er immer im Weg war, die kalten Winter, in denen er die Blicke und Worte der Vorüberziehenden nicht wahrnahm, Gesicht und Ohren mit Händen bedeckt, weil ihm der Kopf so fror? Konnte Sie vielleicht erahnen, welchen stillen Kampf er da austrug? Und mit wem? Oder sah sie einfach nur den geschundenen Mann, der auf einer Bank in den Auen vor der Stadt mit geöffneten Augen schlief?

Die Schmerzen holten Paul ins Jetzt zurück. Ein Umstand, der ihn immer wieder daran erinnerte, dass er auf diesen einen Körper, dieses eine Leben, jede wahrhaft verrinnende Sekunde begrenzt war. Dass jede Reise mit all ihren Menschen und Gewalten, Lichtern und Farben, unwirklich war und ihr Ende fand. Paul merkte, dass er mittlerweile in Bewegung war. Es dämmerte und die Menschen hatten die Auen verlassen. Er war nun alleine mit sich selbst und seinen Gedanken. Seine Schritte waren langsam und unrhythmisch, dennoch trugen sie ihn in solchen Momenten über den Boden der Wirklichkeit hinweg. Oft bewegte er seine Augen minutenlang nicht. Ein entfernter Gedanke erinnerte ihn daran, dass alles vorbei sein könnte, wenn er jetzt nur einmal den Blick wendete und er dann wieder im Jetzt war, allein, am Wasser entlang schleichend, wo die Dämmerung seines Daseins durch die Bäume hindurchrief, wie ein letztes Signal.

Da war es - ein Vogel stohl sich aus dem Geäst und Pauls Augen folgten seinem Flug. Wieder war er von einer Reise heimgekommen, ohne zu wissen, was ein Zuhause ist. Er begann, sich selbst von seinem Tag zu erzählen, wie jeden Abend. Leise, aber deutlich artikuliert, als würde man einem Kind eine Gutenachtgeschichte vortragen. Für einen Moment dachte er wieder an Ava und ihr kleines schlankes Gesicht, geziert von ihren großen, blauen Augen, umrahmt von ihrem vollen braunen Haar. Dann begann er zu erzählen.

Mit Sonnenaufgang erwachte Paul, von Vögeln besungen, auf einer Parkbank in der Stadtmitte und sah sich in aller Ruhe das aufschwellende morgendliche Treiben an. Heute ergaben sich wieder spannende Beobachtungen: ein Müllmann, der seinem Fahrer, von der Hinterseite des Wagens aus, lauthals sein Leid über seine verlorene Goldkette klagte. Ein Anzugträger, der sich am Telefon hektisch entschuldigte, sich aller Voraussicht nach um anderthalb Minuten zu verspäten. Eine junge Frau mit Kopfhörern - ihren Kopf um einiges übermessend - die mit ihren Händen konzentriert in die Luft schlug und dabei seltsame Melodien sang. Zwei Zeitungsverkäufer, die sich um einen - allem Anschein nach - recht begehrten Verkaufsplatz stritten.

Nach dem die Stadt erwacht war, begab sich Paul zum nächstgelegenen großen Platz. Hier war er fast jeden Morgen. Unter den unzähligen Geschäften gab es auch ein Fast Food-Restaurant, in dem er seine tägliche Morgentoilette beging. Zwar waren die Toiletten mit einem Zahlencode versperrt, doch die Morgenschicht kannte Paul, und da er sich nie unredlich benommen hatte und morgens noch kaum Gäste da waren, gestattete man ihm freundlicherweise, sich zu waschen. Er ging also hinab in den Keller und entleerte seine großen Jackentaschen eines alten Rasierers. Er drehte den Wasserhahn auf und wartete, bis das Wasser eiskalt war, um sich eine volle Handschale davon in sein Gesicht zu reiben. Mit seinen nassen Händen durchkämmte er sein fast schulterlanges Haar und strich es nach hinten, die seitlichen Haarsträhnen hinter die Ohren, sodass sie ihm nicht ins Gesicht fielen. Zuletzt nahm er seinen alten Rasierer auf versuchte, die Klinge zu waschen, ohne sich dabei zu schneiden. Sie war rostig und stumpf und eigentlich längst nicht mehr zu gebrauchen. Vielleicht hatte Paul ja heute Glück und er fand ein Modell in besserem Zustand irgendwo in der Stadt. Nachdem er sich mit aller Vorsicht und Sorgfalt rasiert hatte, verließ er das Restaurant und ging auf die Straße. Der Himmel war schwarz geworden. Ein Gewitter zog heran. Die Dynamik des Treibens veränderte sich schlagartig – Autofahrer führten hektische Manöver aus, Menschen begannen zu laufen, sich ins Trockene zu retten, Markisen wurden eingezogen, Schilder hineingeholt, Gastgärten unwettersicher gemacht und die stille, ängstliche Aufruhr der Großstadt breitete sich aus. Mit gewaltsamen Windböen und nagelartigen Regentropfen hatte die Natur die Menschen wieder einmal fest im Griff. Dem Gewitter folgte Sonne, klar und wärmend, als hätte sie vorher der graue Dunst der Stadt im Zaum gehalten. Die Luft war kalt und Paul fror, also folgte er den wärmenden Strahlen der Mittagssonne auf die Boulevards der Stadt – etwas, was er sonst nie tat. Legeren Schrittes ließ er also das Tagesgestirn seine Kleider trocknen und erlaubte sich einige Blicke in die Auslagen von Modegeschäften und Patisserien. Frohmut überkam ihn, der ihn auf jedem Schritt ein bisschen wippen ließ, fast wie ein Tanz, den niemand sehen sollte. Sein Spaziergang endete an der Stadtgrenze, wo ihn großer Hunger ereilte. Es kam die Zeit des Tages, die Paul immer zusetzte: er musste sich den Mülleimern bedienen, um an etwas Nahrhaftes zu kommen. An das hatte er sich nie gewöhnt, es raubte ihm für die Zeit des Aktes seinen ganzen Stolz. So setzte er sich auf eine Bank nahe einem Mülleimer, den er davor inspiziert hatte, und beobachtete die vorbeigehenden Menschen in der Hoffnung, dass sie etwas Essbares entsorgen würden. Dieses Vorgehen war selten von Erfolg gekrönt, jedoch war das selbständige Absuchen von Mülleimern immer der letzte Schritt, wenn nichts mehr auf Nahrung hoffen ließ. Und so nahm Paul Position ein und verharrte für Stunden, immer versuchend, seinen nagenden Hunger auszublenden. Als allmählich der Hunger begann, sein Bewusstsein zu trüben und ihn müde werden zu lassen, sprach ihn eine junge Frau an. Paul hob seinen Kopf, den er aus Erschöpfung auf seine Hände gestützt und zu Boden geneigt hatte. Sie hatte von ihrem Bürofenster aus gesehen, dass er seit Stunden an dieser Stelle saß und zunehmend schwächer aussah, was sie dazu veranlasste, ihm das übriggebliebene Essen von ihrer Firmenfeier zu bringen. Es kam auf drei voll gefüllten Porzellantellern, sie reichte Paul Besteck dazu. Bei diesem Anblick überkam ihn ein Reflex, den er fast gar nicht mehr kannte: er presste seine Lippen zusammen, zog seine Mundwinkel nach unten und es schossen Tränen in seine Augen. Seine Tränenergossene Sicht ließ ihn das Aussehen der Frau nicht erkennen, er bedankte sich mit gebrochener Stimme und schlug die Hände über seinem Herzen zusammen – er wagte es nicht, ihr die Hand zu geben, oder sie in irgendeiner Weise anzufassen. Sie wünschte ihm guten Appetit und bat ihn, das Geschirr einfach auf der Bank stehen zu lassen, sie würde es schon sehen, wenn er fertig war und es dann holen. Paul wartete, bis die Frau gegangen war, um dann zu essen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt warmes Essen gegessen hatte, und so fiel es ihm schwer, zu sehen, was er zu sich nahm, da immer neue Tränen in seine Augen stiegen und seine Sicht in einem Meer der Freude und Dankbarkeit ertrank. Trotz seines großen Hungers versuchte er, langsam und zivilisiert zu essen, was ihm immer leichter fiel, je mehr er zu sich nahm. Gerne hätte er mit der Zunge auch noch die letzten Reste von den Tellern genascht – er verbot es sich aber.

Genährt und dankbar verließ Paul seinen Sitzplatz und folgte den goldenen Strahlen der Abendsonne hinaus in die Auen, wo er am Wasser entlangspazierte und die Magie des Herbstes in all seinen Farben und Düften genoss. Wasserläufer zeichneten impressionistische Bilder auf die Oberfläche des Weihers, die Vögel sangen ein Abendlied und Eichhörnchen tanzten einander die schönsten Geschichten zum Tag. Müde ließ sich Paul auf einer Bank nieder. Seitwärts liegend betrachtete er, wie sich Natur und Mensch aneinander freuten und der Abend einkehrte. In starrer Trägheit sank sein Blick zu Boden und es wurde Nacht um ihn. Ein letztes Mal kam er zu Klarheit – und als Ava vorüber gegangen war, entschlief er.

In den Morgenstunden fand man Paul ruhend. Wenig später fand man auch die Nadel – sie war auf der Rückseite der Bank ins taunasse Laub gefallen. Nun war auch seine große Reise zu Ende. Doch er blickte bereits auf die nächste – durch große, blaue Augen.





Oscar Schöller

am 16.04.2020​
 

Benn

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Große, blaue Augen. Und langes, glänzend braunes Haar.
Große, blaue Augen und langes, glänzendes braunes Haar.
So schnell war diese Erscheinung vorüber.
Logikfehler. Sie geht vor seiner Nase spazieren.
langsamen Schrittes
Ist doch spazieren? Oder?
ins Nichts gelassen.
Das Gehirn denkt immer.
Doch als sich diese Leere plötzlich füllte, kam er zu sich.
Womit füllte es sich?
Und bevor er glaubte, diesen Blick erwidern zu können, war der Moment vorüber. Der Augenblick dauerte nur ein paar Sekunden - und dieses Gefühl kam nicht sofort. Ein paar Minuten brauchte es, bis Paul sich zu fragen begann, was dieses Mädchen wohl gerade gesehen hatte.
Ihren Blick erwidern zu können. Der Augenblick dauerte nur ein paar Sekunden. Augenblick ist doch schon eine Zeitansage. Was für ein Gefühl soll das sein? Warum fragt er sich, was sie gesehen hat?
Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass sie ihn wirklich wahrgenommen hat.
Sie schaute ihm in die Augen. Also hat sie ihn wahrgenommen.
Ein kleines Kind, das mit seiner Mutter spazieren geht, an einem lauen Herbsttag, leichte Windprisen, durch die die Bäume sprechen, der Geruch nach Erde, und von fern her sangen sich die Enten ein Lied des verklungenen Sommers.
Wissen wir schon, dass sie mit Mami spazieren geht. Braucht es nicht mehr. Enten schnattern und singen nicht. Wind priesen, säuseln vielleicht und sprechen nicht. Außerdem der Wind und die Priese ist ein und derselbe Begriff. Der Seemann sagt Priese.
Also schosc 96. Da höre ich mal auf. Dein Text weist zu viele Ungereimtheiten auf. Mir gefällt er nicht. Warum? Du beschreibst das Leben eines Drogensüchtigen. Dazu ist die Sprache, oder dein Schreibstil für mich zu Blumig. Es liest sich wie eine Kindergeschichte. Dass Menschen wie Paul tief empfinden können, stelle ich nicht infrage, nur fehlt mir in deiner Geschichte die Prämisse. Wozu hast du sie geschrieben? Enthält sie eine Botschaft? Kann ich etwas lernen? Nein, das kann ich nicht. Paul setzt sich den goldenen Schuss und das war es auch schon. Ende. Ich bedanke mich für deine erste Story hier bei uns in der Leselupe und wünsche dir viel Spaß beim Überarbeiten deiner Zeilen. Ich hoffe, dass ich dir helfen konnte. Liebe Grüße Benn. Auch so. Nur noch eins.
unbeschriebenes Gewissen
Was soll das sein? Passt es in den Text?
 



 
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