Großstadthimmel

L.emma

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Fest kneife ich meine Augen zusammen, vollkommen auf das beruhigende „Klick“ des schließenden Zimmerschlosses konzentriert. Es gibt mir Sicherheit, genau wie die Stille der Nacht. Innerlich ist mir bewusst, dass es kein Schutz ist. Ich weiß, dass mein Vater kein Problem damit hat, meine Tür einzutreten. Doch seit meine Mutter mir heimlich den Schlüssel zusteckte, benutze ich ihn. Es war das Einzige, was sie jemals für mich tat.

Im Moment ist es noch ruhig in der Wohnung. Ich höre lediglich das Gebrülle des Fernsehers, welcher auf „Lautstärke-für-Halbtaube“ läuft. Na ja, ist immerhin besser, als das Gezeter meines dauerbesoffenen Prügelvaters.

Ich schmeiße meinen Rucksack neben das Bett. Gehe zu meinem wackelnden Pressholzspan-Regal, schlängle meinen Arm gekonnt an der Comic-Reihe vorbei und hole das buntbeklebte Gläschen hervor. Ungeduldig schraube ich den Deckel ab. Ein leichtes Lächeln ziert mein Gesicht, als mir der würzige Duft des Grünen in die Nase steigt. Sofort krame ich alles, was zum Bauen nötig ist heraus und mache mich an die Arbeit.

Während ich den Joint drehe, kommt mir in den Sinn, was für ein verficktes RTL2 Klischee mein Leben ist, nur entspricht es dummerweise meiner Realität. Beschissenes Elternhaus, abgebrochene Ausbildung und Gras anstatt Träumen. Über den letzten Gedanken grinsend, drehe ich den ziemlich perfekten Dübel zwischen den Fingern hin und her.
Nun krabble ich über das Bett zum Fenster und öffne es. Durch die plötzliche Berührung mit der kühlen Nachtluft, breitet sich eine leichte Gänsehaut über meinen Körper aus. Es fühlt sich nicht unangenehm an, eher wie ein Beweis, dass ich in der Lage bin etwas zu empfinden. Langsam lasse ich mich auf das Fensterbrett gleiten und drehe meinen Kopf in Richtung Kälte.

Hier im sechsten Obergeschoss ist der Ausblick zum Glück nicht ganz so beschissen, wie in den unteren Stockwerken. Deswegen gibt es draußen trotzdem nichts anderes als Plattenbauten. Ich zünde meinen Joint an, lasse den Blick und die sich über den Tag angestauten Gedanken schweifen. All das, was in der Zeit des Babysittens in die hinterste Schublade gestopft wurde, drängt sich wieder in den Vordergrund. Sowohl Zukunftsangst, als auch Vergangenheitswut.

Nach einer Weile beginnt mein bekifftes Gehirn, Bilder aus meiner Kindheit abzuspielen. Zum Glück bin ich stoned genug, dass mein einstiger Alltag lediglich wie ein Film auf mich wirkt. Der kleine Junge, der sich von blauen Flecken übersäht hinter den Schrank kauert, bin nicht ich. Die Frau, die sich heulend im Bad einsperrt, ist nicht meine Mutter. Der wütend plärrende und prügelnde Säufer, nicht mein Vater.
Irgendwann beschließt mein zugekiffter Kopf, dass der Film mit den nahezu identischen Szenen langweilig wird und beendet abrupt die Vorstellung. Dieser Entschluss bedeutet, dass sich die untenliegende Straße wieder vollends in mein Bewusstsein drängt. Wobei das in unserem Viertel - nachts um vier - nicht viel bedeutet, da lediglich eine Laterne den Zorn der Jugend überlebte und trostlos vor sich hin flackert. Die wird’s auch nicht mehr lang machen.
Okay gut, einige Anwohner sind noch wach, oder zumindest wie mein Vater, vor dem Fernseher eingepennt. Dadurch wird die Straße doch irgendwie beleuchtet. Mir bleiben somit die abgewrackten Kreaturen, welche sich durch die Gegend schleppen, nicht verborgen. Auch wenn sie durch die spärliche Beleuchtung und meinen Zustand surreal wirken. Eher wie Zombies, als lebende Menschen. Denn wenn sie überhaupt noch gehen können, dann langsam, schleppend und torkelnd.
Gebannt verfolge ich den Streit eines besoffenen Pärchens, die sich zwar nicht gut mit Worten verständigen können, aber deren Fäuste ihr Ziel noch überraschend genau treffen. Währenddessen rauche ich meinen mittlerweile zweiten Joint. Nach dem dritten kläglichen Versuch zu ziehen, fällt mir auch endlich auf, dass es vielleicht besser funktioniert wenn er wieder brennt. Gedacht, reagiert, angezündet. Anscheinend habe ich lange gebraucht, denn von dem Pärchen ist keine Spur mehr zu sehen. Schade eigentlich, ich wüsste gerne wer am Ende als vermeintlicher Sieger hervor gegangen ist. Mit Sicherheit die Frau, sie wirkte immerhin so, als würde sie das doppelte Kampfgewicht mit sich rumtragen.

Ich nehme einen tiefen Zug und blicke in den Himmel. Sehe aber nichts außer Schwärze. Darüber erinnere ich mich an das Schullandheim. Wir waren in irgendeinem Kaff, dessen Namen ich längst vergessen habe. Aber meine damalige Verblüffung, über die Schönheit des Nachthimmels, blieb mir in Erinnerung. Genau wie mein Erstaunen über die Existenz der unzähligen Sterne, die weit oben thronen. Dort hatte ich kurzzeitig das Gefühl, die Welt wäre gar nicht so schlecht und es wäre zu schaffen, mal an einem Ort zu leben, an welchem dieses Gefühl keine Ausnahme darstellt. Allerdings wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Nach drei Tagen wurde der Schulausflug frühzeitig abgebrochen, da Timo beim Drogen-Verticken erwischt und danach bei etlichen meiner Klassenkameraden welche gefunden wurden. Ob Weed, Speed, Pillen oder Alkohol, irgendwas wurde in jedem Zimmer entdeckt. Heute beziehe ich mein Gras auch von ihm. Damals allerdings noch nicht. Damals wollte ich noch was erreichen. Der Gedanke das Abitur zu schaffen schien nicht abstrus. Zu dieser Zeit hatte ich eine Lehrerin, die mir half, die an mich glaubte. Dann wurde sie schwanger und verschwand genauso plötzlich wieder aus meinem Leben, wie sie Teil davon wurde.

Ich nehme einen weiteren Zug und seufze. Noch einmal sehen meine Augen in den dunklen Himmel. Wie zum Teufel soll man denn nach den Sternen greifen, wenn man sie nicht mal sehen kann! Wütend drücke ich meinen Dübel aus und beschließe, es ist Zeit ins Bett zu gehen. Etwas ungelenk verstaue ich mein Gläschen an seinem angestammten Platz, stopfe mir Kopfhörer in die Ohren und höre Musik. Über die harten - doch melodischen - Gitarrenriffs des Metal dämmere ich langsam weg.

Lautes Gepolter lässt mich aus meinem Schlaf aufschrecken. Mein Herz schlägt heftig gegen meine Brust, mein Blick schnellt zur Tür. Immer mehr Krach schallt durch die dünnen Wände. Er ist wach, mein Vater. Ich setze mich auf und drücke das Kopfende des Bettes fest gegen meinen Rücken. Der Druck beruhigt mich, macht mich klarer, in meiner Morgentrunkenheit aufmerksamer. Selbst die Vibrationen, die zu seinem unkoordinierten Gestolper gehören, dringen zu mir vor. Mein Bettgestell leitet diese an meinen Körper weiter und sie durchströmen mich, wie in Zeitlupe.

„ Raus da. Scheiss Schmarotzer!“ dröhnt die knarrende Stimme meines Vaters durch die Wohnung. „ Was ist denn passiert? Beruhige dich, willst du einen Kaffee?“, höre ich das Flüstern meiner Mutter, aus dem Hintergrund. Ihre Stimme – kaum ein Hauchen - drang trotzdem durch die papierdünnen Wände. Ja, zwanzig Jahre mit meinem Arschloch-Vater rauben einem Selbstwert, Eigenständigkeit und sogar die eigene Stimme.

„ Halt dich raus! Was will ich denn mit Kaffee?! Der kleine Scheisser, hat uns wieder den Kühlschrank leergefressen!“ brüllt das Arschloch zurück und Mama verstummt. Von ihr kommt nichts mehr. Doch sie hat es immerhin versucht, nicht wahr? Zumindest kann sie sich das einreden, so wie immer. So wie seit jeher. Die Angst in meinem Inneren ist noch da, doch Adrenalin und Zorn überwiegen. Ich bin so verflucht wütend. Auf mich, all die ungenutzten Chancen, die Schwangerschaft meiner Lehrerin, meine scheinheilige „Ich-hab´s- versucht“-Mutter und ihn. Ihn. Meinen Erzeuger, den ich trotz all der Schreie, Prügel und Misshandlungen immer noch Vater nenne. Diese Gedanken verschmelzen Adrenalin, Angst und Wut zu einem weißen Rauschen.

Krach! Meine Tür fliegt aus den Angeln, nun hat sie letztendlich doch den Aggressionen unseres vermeintlichen Familienoberhauptes nachgegeben. Da steht er vor mir. In meinem Zimmer. Dem einzigen Schutzort, den ich in dieser Wohnung je hatte. Fett, stinkend und mit glasigem Blick. Das Rauschen wird stärker. Ehe ich begreife, was los ist, löst sich ein wilder, lauter Schrei aus meiner Kehle. Schnell springe ich von meinem Bett auf. Woraufhin Vater verdutzt zurück taumelt. Doch meine Faust findet ihr Ziel, seine Nase. Das Krachen höre ich kaum. Aber ist es seine Nase oder sind es meine Finger, die gerade brechen? Ich weiß es nicht. Das Adrenalin lässt mich keinen Schmerz mehr fühlen. Er versucht sich zu wehren, aber verliert beim Versuch zurückzuschlagen das Gleichgewicht und fällt auf seinen fetten Hintern. Ein diabolisches Grinsen ziert jetzt mein Gesicht. Mein Bein macht sich nahezu selbstständig und ich trete das erste Mal in meinem Leben zu. Das erste, aber nicht das letzte Mal, denn aus weißem Rauschen wird rotes Blut.

„Stopp! Bitte, bitte hör auf. Wir brauchen Ihn doch…Ich brauche Ihn.“, wimmert Mama vor sich hin. Bis ich sie bemerke, sind Minuten oder eine Ewigkeit vergangen. Langsam komme ich wieder zu mir, mein Verstand kehrt zurück. Mein Zimmerboden ist mit dunkelroten Tropfen übersäht, meine Augen folgen diesen Spuren der Gewalt bis zu ihrem Ursprung. So stehe ich nun da, auf das ohnmächtige, blutende Stück Fleisch zu meinen Füßen hinunter starrend, kaum begreifend, was passiert ist. Langsam erinnere ich mich an das Stimmchen, welches mich aus meinem Wahn holte. Ich sehe zu meiner Mutter, hinweg über die aus den Angeln gerissene Tür und vorbei an all den Zeichen der unkontrollierten Wut. Den Rissen in den Bilderrahmen, den bräunlichen Flecken an den Wänden und der notdürftig geflickten Vase mit den halbverwelkten Tulpen. Blumen, die mein Vater Mama als Entschuldigung schenkte, nur um weitermachen zu können wie zuvor. Mutter zittert, weint und kauert auf dem Boden. Ein Bild, das ich von frühester Kindheit an kenne. Doch dieses Mal bin ich der Schuldige. „ Nein, nein, nicht. Warum? Nein sei nicht so. Nicht auch noch du. Sei nicht wie er.“ Schluchzt Mama vor sich hin. Ihr Blick ist nach innen gerichtet, sie redet immer weiter auf sich ein, mittlerweile ihren Körper mit engumschlungenen Armen vor und zurück wiegend. Wie ein Kleinkind kommt sie mir vor, nur viel zerbrechlicher. Dieses Bild raubt mir den Atem, meine Lungen sind nicht mehr in der Lage Sauerstoff aufzunehmen. Es ist, als wäre mein Torso zu eng für meine Organe. Mir wird schwindelig und ich spüre wie sich Übelkeit in mir breit macht. Ich habe ihr das angetan, mein Vater mag ihr Risse gebracht haben, doch ich habe sie zerbrochen. Ich ertrage all das nicht mehr. Meine Füße setzten sich von allein in Bewegung, sie rennen einfach los, vorbei an dem Häuflein Elend, zur Wohnungstür hinaus. - Nur weg hier- ist das Einzige, was ich jetzt noch wahrnehme.

Die Stunden vergehen, während ich einfach weiter laufe. Alles ist noch immer verschwommen. Häuser, Menschen, Straßen, Autos, passieren meinen Weg. Meine ganze Umwelt verschmilzt zu einer lauten, bedrohlichen Masse, der ich versuche zu entkommen. Aus hellem Tag wurde längst Dämmerung, als ich das höchste Gebäude unseres Viertels erreiche. Die Tür steht offen und irgendetwas zieht mich hinein. Treppe um Treppe, Stockwerk um Stockwerk, laufe ich nach oben. Höher und immer höher, bis ich mit brennenden Beinen, um Atem ringend vor dem Dachzugang zum Stehen komme. Das grelle Licht der Leuchtstoffröhre, welche diesen Teil des Treppenhauses beleuchtet, strahlt auf den hellen Schotter des Flachdaches. Doch schon nach zwei Metern verschluckt die völlige Finsternis alles. Ich gehe in die Dunkelheit und darüber hinaus, bis ich mich am Rand niederlasse. Heute ist es das erste Mal, dass ich mich setze, dass ich versuche zur Ruhe zu kommen. Es funktioniert besser als gedacht, denn jetzt fühle ich die Taubheit meiner Finger, die unbarmherzige Kälte des Spätherbstes sorgt dafür. Meine Fingerspitzen sind lila, werden von Glied zu Glied heller, bis das Rot unter dem Schwarz meines Pullovers verschwindet. Auch meine aufgeplatzten Knöchel bleiben mir nicht verborgen. Warum sehe ich das überhaupt? Ah, unter mir liegt die Stadt mit all ihren Lichtern, Verheißungen und Abgründen. Ja, von oben wirkt sie selbst wie der Sternenhimmel, nach dem ich mich so sehne.
 
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