Großvater

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Hallo Christiane,
ich hielt zu Anfang Deinen Großvater für einen Supertyp, mit dem Kuchenbacken und dem Päckchenschicken, bis zu der Stelle, an der Du darüber schreibst, dass er jahrelang seine Kinder schwer verprügelt hat.
Bei sowas werde ich automatisch hellhörig, denn ich selbst bin jahrelang von meiner alleinerziehenden Mutter, einer Lehrerin, geprügelt worden. Wie kann es sein, dass jemand wie Dein Großvater, der sich vor Heiligkeit fast ins Bein beißt, so etwas macht? Was ging wirklich in ihm vor?

Die Schilderungen erinnern mich an den Film von Ingmar Bergmann "Fanny und Alexander". Auch hier zeigt der Stiefvater, ein Pfarrer, sadistische Verhaltensweisen gegenüber den Kindern. Wie geht sowas überein mit der christlichen Ethik, die ja Mildtätigkeit und Verzeihen beinhaltet, dieser beiden Männer? Ich habe solchen Heiligen nie getraut. Dein Großvater muss ein schwer gespaltener Mann gewesen sein.
Gruß Friedrichshainerin
 
In jüngerer Zeit hier selten einen Text mit so viel Substanz gelesen. So viele Details über jene lange zurückliegenden Zeiten ... Diese Brüche in ihnen und wie mit ihnen umgegangen wurde, höchst wissenswert. Auch der Stil war durchgehend nach meinem Geschmack.

Was die körperlichen Züchtigungen angeht, so würde ich sie eher unter zeittypisch als unter individuell persönlich bezeichnend einordnen.

Gruß an Christiane
Arno Abendschön
 
Vielen Dank für euer aufmerksames Lesen meines doch eher langen Textes!

Was den Großvater in seiner Gespaltenheit angeht, @Friedrichshainerin - da gebe ich dir absolut recht. Nur zur Info: Auch wenn der Text natürlich an meine Familie angelehnt ist, ist der Großvater aber doch erfunden und das auch genau in dieser Gespaltenheit, die aber sehr menschlich ist und oft genug - besonders in meiner Kindheit - zu beobachten war. Wie du auch selbst schreibst: Pädagogin / prügelnde Mutter – was könnte als größerer Widerspruch erscheinen! Danke für diesen persönlichen Kommentar.

Dass fromme Menschen irgendwie die besseren sind, würden sicher einige unter ihnen selbst gern so sehen, es ist aber ein Trugschluss. Unter den Frommen gibt es genauso viele Schläger, Lügner, Diebe, Vergewaltiger, Säufer, Extremisten usw. wie in allen anderen Bevölkerungsgruppen. :) Aber vielleicht fallen sie stärker auf, weil der Anspruch an sie ein anderer ist...

Mein Anliegen war gar nicht vordergründig, von diesem (scheinbaren) Widerspruch zu erzählen, sondern ein anderer. Aber den verrate ich natürlich nicht. ;-)
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Christiane,

da möchte ich mich Arno anschließen, ein wirklich guter Text, der insbesondere deshalb herausragt, weil er nicht 'wertet', sondern einfach erzählt. So muss man sich der Vergangenheit nähern, bevor man wertet, verstehen, was war. Und so erschließen sich auch die Veränderungen. Wenn man wissen will, wo man steht, muss man wissen, wo man herkommt.

Liebe Grüße
Petra
 

Tonmaler

Mitglied
Tilman und ich standen staunend vor dem kleinen runden Gefährt und schauten interessiert zu, wie Großvater bedächtig die Selbstmördertür öffnete und umständlich heraus kroch
:)

Bin beeindruckt von deiner Figurzeichnung, fast eine Charakterstudie. Top geschrieben. Habe mich lang gefragt, wieviel davon erfunden ist, was hingegen authentisch. Ich teile deine Auffassung, dass zwischen dem, was Leute zu glauben meinen und ihrem Verhalten oft ein Loch klafft.
Braucht man sich nur die Missbrauchsgeschichten der Kirche anzuschauen.

Um das Wesentliche zu sagen, das ist wundervoll geschrieben, wenn's nicht so spät wär, würde ich jetzt weitere Texte von dir lesen ;)

Gruß
 

Bo-ehd

Mitglied
Schön geschriebene "Familienchronik", die in dieser Form hier selten zu lesen ist. Dass der Großvater fiktiv ist, hebt den ganzen Text noch einmal auf ein ganz anderes Level. Wie du diesen Charakter zeichnest, zeugt von einer besonderen Qualität.
Gruß Bo-ehd
 



 
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