Halb zwei - Für alle, die Ihre Heimat verlassen und ihre Rückkehr zu lange verschoben haben.

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Karo

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Letzte Fahrt - Endlich zuhause

Eine kalte Böe wehte mir Regen ins Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und fröstelte. Zu dieser Jahreszeit verlässt niemand freiwillig seinen Wagen, wenn das Auto erstmal auf der Fähre geparkt war. Wir jedoch waren nach oben gelaufen, nur ein Deck höher und ich sah aufs Meer. Alles war grau und matt, die kühle Luft tat gut, weckte uns nach dieser langen Fahrt ein wenig auf. Meine Hände waren zu Fäusten geballt und in den Jackentaschen vergraben. Unter uns standen nur wenige Autos und 3 Transporter. Unser Blick suchte automatisch die Reihen ab, wir fanden fast zeitgleich den schwarzen Mercedes, dem wir die Nacht über gefolgt waren. Nada schlang ihren Schal enger, zog den Reißverschluss bis nach ganz oben zu und nickte. Ich bemerkte diese Bewegungen, mein Blick wanderte in ihre Richtung. Sie schaut runter zu ihm, nickte wieder. „Eto. Wenn Du mich fragst, was er immer wollte: das wollte er. DAS wollte er immer: mit dem Mercedes nach Haus kommen.“ Mein Kopf sackte nach unten. Ich schluckte und schloss die Augen. Ein Bildermosaik entstand in meinem Kopf: Seine Finger am Lenkrad, seine Schlagerkassetten und immer irgendwo Kleingeld vorne an der Mittelkonsole. Er holt doch gerade Kaffee dachte ich. Kommt gleich wieder, keine Sorge. Er kommt doch immer zu spät, “nema Problema”. Dann spürte ich erneut einen eisigen Windstoß und öffnete die Augen. Da stand sie. Allein. Ich zitterte, sprach mit ihm, als ob es wie immer sei: „Wir kommen heim, sind schon da, Tata. Für immer, im Mercedes, auf Deiner Insel.”

Erster Tag im leeren Haus

Wir fuhren voraus zum Haus, der Bestatter folgte uns und bog auf Höhe der Kirche Links zum Friedhof ein. Er war angekündigt worden und würde alles weitere Regeln. Erst am folgenden Tag waren wir mit dem Pfarrer verabredet, bis dahin hatten alle Zeit zu schlafen. Es war eine lange Reise gewesen. Zuerst stieg ich aus dem Auto, blickte auf die Eingangstür und nach oben, Richtung Terrasse und Richtung Himmel.

Es war Vormittag, 11 Uhr, unsere Nachbarin hatte wie verabredet von mir einen Anruf erhalten, als wir an der Fährstation angekommen waren. Da sie einen Schlüssel hatte, würde sie oder ihr Mann schon die Wasserleitung und Heizung aufgedreht haben, damit wir uns hier gleich wohl fühlten, zuhause.

“Werde mal nachschauen, ob sie da ist”, sagte ich, stieg aus dem Wagen und die drei Stufen zur Haustüre empor. Ich drückte die Türklinke und stellte fest, dass sie aufgeschlossen war. Sobald ich ein paar Schritte in den Flug gegangen war, stieg mir der bekannte Hausgeruch in die Nase, das war wirklich wunderbar. Außerdem roch ich Kaffee. “Hallo?”, fragte ich leise und ging nach links, in die Küche. Dort stand sie, kam auf mich zu in ihrer üblichen schwarzen Kittelschürze und mit einem riesigen Baumwolltaschentuch in der rechten Hand. Sie blickte mich an und konnte nichts weiter sagen als “joj”. Da war Mutter schon bei uns, bepackt mit Handtasche und zwei Beuteln. “Lasst mich durch, na los. Setzt euch doch hin”, appellierte sie, und ich war nicht böse darüber, ihre Nerven lagen blank, wir waren doch alle müde. Diese Nachbarin und Freundin war Anfang 70, hatte ihren Sohn verloren als dieser 14 Jahre alt war. Sie hatte meinen Vater seitdem als eine Art Ersatz-Ziehsohn wahrgenommen, besonders seit meiner Oma nicht mehr da war. Sie hatte mit ihrem Mann unser Haus verwaltet, immer geholfen und war immer unsere erste Ansprechpartnerin, noch vor unserer richtigen Familie. Nun war sie sprachlos. Wir tranken also erstmal Kaffee. Sie hatte türkischen gemacht, sehr starken, was mir entgegenkam. “Die Betten sind schon bezogen, ihr könnt euch sofort hinlegen, wenn ihr wollt”, erklärte sie. “Das hättest Du nicht machen sollen, ich bin doch jünger und kann das auch”, antwortete ich aus reiner Höflichkeit, denn solange sie irgend konnte, würde sie es nicht nehmen lassen, zu helfen. “Wer soll denn schlafen? Glaubst du irgendwer kann jetzt einen ruhigen Moment haben?” brummte meine Mutter. “Er hat nun Ruhe, endlich, ja, Gott sei Dank. Du hättest ihn sehen müssen, ach besser nicht. Wie der da lag im Krankenhaus, sah er aus wie Jesus am Kreuz!” und Nada zeigte auf das Kruzifix, dass schon immer dort an der Wand über dem Esstisch hing. “So hat er sich gequält, der Teufel war in ihm, der ist hier im Haus, das ist es. Erst die Mutter, dann seine Schwester und da! Hier sind wir, wir zwei Frauen alleine. Wer soll da noch schlafen?” Nada legte den Kopf auf den Tisch. Kurevka streichelte über ihren Rücken. “Es ist gut, wenn du sprichst, weine nur, weine, “ sagte sie. Ich schwieg, nippte am Kaffee und fand ihn nun unerträglich schal und bitter. “Ich geh’ mir mal das Gesicht waschen, ja?!” nuschelte ich und schob den Stuhl zurück. “Geh, ja, ruh du dich aus, Kind. Ich bleibe hier mit deiner Mutter,” beruhigte mich Kurevka.

Schon nach ein paar Minuten kam ich zurück, konnte nicht allein sein. Es war zu leise und so kalt im Haus, er fehlte hier so sehr. Warum macht keiner das Radio an? Er hätte nicht gewollt, dass wir hier im Stillen herumsitzen, das wusste auch Nada. Wir trauten uns nicht, die ungeschriebene Regel zu brechen, es blieb erdrückend leise. “He, was müssen wir heute noch machen, also unbedingt heute?”, fragte ich, als ich erneut am Tisch saß. “Ach du, Kleine, nichts. Ive hatte mit denen gesprochen, die organisieren alles. Wir geben ihm morgen das Foto, dann kommt es in die Zeitung und alles. Du hast doch keine Ahnung davon, wir beide nicht.” Mutter wurde immer aggressiv, wenn nicht sie diejenige war, die Probleme löste, die alles abarbeiten konnte. Hilfe anzunehmen war ihr immer schon zuwider. Nun war es heute aber nötig und hilfreich, das wusste sie, konnte es aber schlecht akzeptieren.

Kurevka bestätigte, dass Ive den Papierkram erledigen würde, sie hatten telefoniert. Sie aber würde abends gerne für uns kochen, oben in ihrem Haus. Mit dem Pfarrer habe sie auch schon telefoniert, er würde sich bei uns melden.

Nachdem ich noch 2 Kekse gegessen und den letzten Schluck ausgetrunken hatte, wollte ich sehr gerne nach oben gehen, auf die Terrasse, Luft holen. Mit dem Hinweis, dass ich unser Gepäck nach oben tragen würde, ging ich zurück zum Auto. Die zwei Frauen hatten sich wohl noch mehr zu sagen. Nachdem ich den großen schwarzen Koffer aus dem Kofferraum gezogen hatte, entschied ich mich, ihn nur zum Erdgeschoss zu tragen. Erstmal würde ich meine kleine Sporttasche nach oben bringen. es war dunkel im Flur, aufgeräumt und mir so bekannt. Ich dachte, wie oft ich diesen Weg schon im Dunkeln gelaufen bin, müsste ich gar nicht hinsehen. Meine Beine kannten die Anzahl der Treppenstufen intuitiv. Oben angekommen legte ich die Tasche direkt neben der Tür ab, der Terrassenschlüssel steckte. Ich drehte den braunen verrosteten Schlüssel um, drückte den Griff und trat routiniert mit dem linken Fuß gegen das äußere Ende, um dem schweren Holz den richtigen Schubs zu geben. Sie sprang auf, ich sah die Dächer, das Meer, den fast leeren Yachthafen und die grünen Berge dahinter. Atmete tief aus und trat hinaus. Am liebsten wollte ich eine Decke haben auf die ich mich genau hier legen könnte. Bei dem Gedanken überkam mich eine sanfte Müdigkeit, ich wollte in den Himmel sehen, wollte mit Vater sprechen. Sieht er mich? Würde er mich hier so sehen, wäre er wohl zufrieden. Es war sehr kühl, der Fliesenboden aber trocken. Ich entschied, in den Schränken im ersten Stock nachzusehen. Dort waren, wie ich mich erinnerte, viele alte Steppdecken gewesen. Als ich den großen Schrank im Flur öffnete, entdeckte ich zunächst meine alte Baby Kuscheldecke. Daneben waren endlos viele blütenweiße Baumwoll-Laken und tatsächlich ganz unten fand ich diese jugoslawischen Steppdecken mit braunem Muster. Vermutlich wäre Mutter böse, wenn ich diese nun auf die schmutzige Terrasse werfe, dachte ich. Doch dann, jetzt, wollte ich es wagen. Ich glaubte, es sei ihr heute wirklich egal. Mit den zwei dicken Decken stieg ich wieder hinauf. Die grau-weiße Musterung des Bodens erinnert an Schach. Aus der Entfernung hörte ich eine Möwe kreischen. Das war ein wunderbares Geräusch. Dann, auf dem Rücken liegend, musterte ich die verrostete Regenrinne, drehte aber schnell den Kopf zur anderen Seite, wo ich einige Segelboote erkennen konnte. Sie lagen dort, angebunden im Hafen. Trist. Es war kein Tag um raus zu fahren. “Bonzen”, hörte ich die Stimme meines Vaters. Er fluchte über alle, die große Schiffe kauften aber überhaupt keine Ahnung vom Meer hatten. Nicht, dass er selbst gern zur See gefahren war, nein. Er kannte all die Geschichten über Stürme, Haie und verunglückte Touristen, deswegen hatte er großen Respekt vor der Natur. Eine Gruppe Möwen flog über die Baumreihe. Ich sah ihnen nach und fragte mich, ob es sein Zeichen sei.

Er hatte nicht oft hier gelegen oder gesessen. Im Sommer nicht wegen der Gäste, die hatten schließlich dafür bezahlt und durften den Platz nutzen. Im Spätsommer hätte er hier sein wollen, wenn die Weintrauben geerntet werden. Dann aber waren wir schon zurück, schließlich hatte niemand so viele Urlaubstage. “Ach Tata, jetzt musst du nicht mehr arbeiten, jetzt hast du Deine Ruhe, stimmt’s?” flüsterte ich.

Meine Finger waren kalt geworden, die Stille bedrückte mich. Jetzt würde ich besser hinuntergehen, meine Mutter brauchte Hilfe und die Koffer standen noch unten. Ich faltete die Decken zusammen und brachte sie zu meinem Bett, hoffentlich würde es morgen wärmer.
 



 
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