Hans Hansen

Vitelli

Mitglied
Hans Hansen hatte sich das Grandcafé als Treffpunkt ausgesucht, und dieser Treffpunkt war gut gewählt. Das gut besuchte Café lag mitten im Herzen der Stadt, und zwar genau dort, wo sich beide Fußgängerzonen kreuzten. Unzählige Stühle und Tische säumten den alten Springbrunnen inmitten des großen Platzes nahe des Rathauses. Wer hier saß wollte sehen und gesehen werden. Neben den Touristen waren es vor allem die jungen Mädels, die mit ihren riesigen Sonnenbrillen auf den Präsentiertellern dieser Stadt Platz genommen hatten - wer dort saß, wollte sehen und gesehen werden.

Ich stand am Rand des Platzes und arbeitete mit meinen Augen systematisch einen Tisch nach dem anderen ab. Hans Hansen war noch nicht da. Ich schaute nach oben zur Rathausuhr: Es war 15:43 Uhr; um 16 Uhr sollte das Treffen stattfinden. Als ein Tisch im zentralen Bereich frei wurde, nahm ich Platz. Ich legte meine Lederjacke auf den freien Stuhl neben mir und lehnte mich genüsslich zurück, um die Sonne zu genießen. Eine hübsche Kellnerin kam und ich bestellte ein Bier.

Ich bemerkte Hans Hansen ein paar Minuten später. Er schlich um den Platz herum und versuchte sich dabei betont unauffällig zu verhalten, womit er natürlich genau das Gegenteil erreichte: Er sah auf seine Uhr, band sich scheinbar seine Schnürsenkel und schaute durch reflektierende Schaufensterscheiben.

Die Kellnerin kam mit meinem Bier. Sie sagte irgendwas Nettes, und ich erwiderte irgendwas Nettes. Ich zahlte, und sie freute sich über das üppige Trinkgeld. Während ich das Restgeld in der Hosentasche verstaute, nahm Hans Hansen zwei Tische neben mir Platz. Er sah sich um.

Die Kellnerin, die mich gerade noch bedient hatte, kam an seinen Tisch. Von dort sah sie zu mir 'rüber und lächelte. Ich lächelte zurück. Hans Hansen sah mich an, und ich nickte ihm zu, so wie sich unbekannte, aber höfliche Tischnachbarn eben begrüßen. Er fasste sich zum Gruß an die Mütze, bevor er diese absetzte. Es war eine von diesen blauen Seemannsmützen mit kurzem Schirm.

Ich nahm wieder Blickkontakt mit der hübsche nKellnerin auf, und sie kicherte. Hans Hansen lächelte, als er unseren Flirt bemerkte. Die Kellnerin nahm seine Bestellung auf und ging mit dem leeren Tablett Richtung Café. Hans Hansen und ich schauten ihr nach. Nach ein paar Schritten wurde sie langsamer und schaute verstohlen über ihre Schulter. Als sie bemerkte, dass ich ihr nachschaute, wurden ihre Augen groß und sie lächelte verzückt. Sie tänzelte und ihr prächtiges Gesäß wackelte noch etwas mehr als zuvor. Ich pfiff ihr nach.
Es war an Peinlichkeit nicht zu überbieten.
Ich schaute Hans Hansen an, der mir daraufhin anerkennend zunickte. Er schien ein netter Kerl zu sein.

Die Minuten verstrichen; abwechselnd schaute er auf seine Armband- oder die Rathausuhr. Die kecke Kellnerin brachte ihm einen Tee und ein Wasser. Nachdem er bezahlt hatte, kam sie in meine Richtung und legte mir im Vorbeigehen einen Zettel auf den Tisch. Auf dem Zettel stand der Name Caro und es war eine Telefonnummer notiert.

Als Caro, wie ich messerscharf kombinierte, außer Sichtweite war, zerknüllte ich den Zettel und legte ihn in den Aschenbecher. Ich stand auf, nahm meine Jacke vom Stuhl und ging mit meinem Bier zu Hans Hansen an den Tisch. Verblüfft schaute er zu mir auf.

Ich hängte meine Jacke wortlos über die Lehne, stellte das Bier auf den Tisch und setzte mich. Ich richtete meinen Stuhl Richtung Sonne aus und lehnte mich zurück. Hans Hansen sah sich um. Ich konnte seinen Blick auf meiner Haut spüren, nachdem ich meine Augen geschlossen hatte. Er sagte: >>Ich dachte, Ralph würde persönlich kommen.<<
>>Da haben Sie falsch gedacht.<<
>>Und Sie sind einer von seinen Leuten, ja?<<
>>Gewiss nicht.<<
>>Und wer sind Sie dann?<<

Ich gähnte. Ich öffnete die Augen, setzte mich aufrecht hin und nahm einen großen Schluck. Nichts auf der Welt schmeckt so gut wie ein gekühltes Bier an einem heißen Tag. Ich wischte mir den Schaum von den Lippen und sagte: >>Ich bin der, der das Geschäft mit Ihnen abschließt.<<
>>Ach ja?<< Hans Hansen schaute demonstrativ unter den Tisch. >>Ich sehe aber keine Tasche. Und einen Scheck nehme ich nicht, wie ich bereits sagte.<<
>>Ich hab auch keinen dabei.<<
>>Die Unterlagen liegen in der Bank. Nur ich persönlich komm da ran. Außerdem brauchen Sie meine Unterschrift. Und wenn Sie mir hier was antun wollen, schreie ich – vor den ganzen Leuten hier!<<
>>Ist ja schon gut<<, sagte ich müde. >>Und das weiß ich alles bereits.<<

Hans Hansen schaute sich wieder um. >>Und was wollen Sie dann von mir? Dann kann ich eigentlich auch gleich gehen.<< Hans Hansen stand auf und setzte seine Mütze auf. Ich nahm einen Schluck Bier und stellte mein Glas zurück auf den Tisch. Ich sagte: >>Wenn man wirklich gehen will, geht man. Man kündigt es nicht an und steht dann dumm rum – das kenn ich sonst nur von Frauen, die nicht gehen, sondern aufgehalten werden wollen.<< Hans Hansen warf mir einen bösen Blick zu. >>Sagen Sie Ralph, dass -<< Hans Hansen winkte ab. >>Ach, vergessen Sie’s. Schönen Tag noch.<< Er fasste sich an die Mütze, kehrte mir den Rücken zu und war im Begriff zu gehen.

>>Wie fanden Sie eigentlich Air Force One?<< Hans Hansen hielt inne. >>Haben Sie den geschaut, weil der von Wolfgang Petersen ist?<< Hans Hansen drehte sich langsam zu mir um und starrte mich an. >>Ich fand den ja richtig scheiße. Das ist doch ein ganz übles propagandistisches Machwerk. Und das von jemand, der immerhin Das Boot und Reifezeugnis gemacht hat.<< Ich nahm einen Schluck Bier und leckte mir über die Lippen.

>>Sie waren in meiner Wohnung<<, sagte Hans Hansen gefasst.

>>Mit Steiner – Das eiserne Kreuz ist es ähnlich. Sam Peckinpah war ja schon ganz schön weit hin, als er sich für Geld verkauft hat. Aber welche Ausrede hat Wolfgang Petersen bitteschön, sich so bei den Amis anzubiedern …<< Hans Hansen sagte nichts. >>Na ja, macht die Sache ja auch nicht wirklich besser. Die beiden sind eh nicht eine Liga, deswegen hinkt der Vergleich. Ich hoffe, Steiner ist nicht der einzige Film von Peckinpah, den Sie gesehen haben?<<

Hans Hansen stand da und schaute mich ausdruckslos an

>>Wenn doch, müssen Sie unbedingt The Wild Bunch, Pat Garret and Billy The Kid, Ride The High Country und vor allem Bring Me The Head Of Alfred Garcia schauen. Ich kann Ihnen die gerne mal ausleihen, wenn Sie möchten. Hab ich alle auf VHS.<< Hans Hansen setzte sich. Er rückte mit seinem Stuhl ganz nah an den Tisch heran, beugte sich zu mir vor und sagte: >>Dass Sie in meiner Wohnung waren, beeindruckt mich nicht. Und Angst macht es mir schon gar nicht.<<
>>Sam Peckinpah war übrigens Alkoholiker, genau wie wir.<< >>Ich bin seit achtundzwanzig Jahren trocken<<, sagte Hans Hansen scharf.<<
>>Gratuliere.<< Ich prostete ihm zu.

Hans Hansen sah mich mit finsterer Miene an. >>Das Grundstück kostet Achthundertsiebzigtausend – und keinen Pfennig weniger!<< Hans Hansen haute mit der flachen Hand auf den Tisch. Nach einer kurzen Pause sagte er: >>Wissen Sie, wie ich auf die Summe gekommen bin?<<
>>Es ist das dreifache vom Verkehrswert.<<
Hans Hansen guckte verdutzt. >>Ja genau. Aber -<<
>>Aber es ist viel mehr wert, richtig?<<
>>Richtig.<<
>>Es ist sogar viel mehr wert als die läppischen Achthundertsiebzigtausend<<, sagte ich.
>>Auch richtig. Deshalb -<<
>>Deshalb haben Sie gedacht, es sei eine Summe, die Sie auch bekommen könnten, weil Sie noch im Rahmen liegt. Richtig?<<
>>Richtig.<<
>>Falsch.<<
Hans Hansen stand auf. >>Dann haben wir nichts mehr zu bereden.<<

Aus meiner Hemdtasche zog ich ein zweimal gefaltetes DIN A4-Blatt und lehnte es an sein Wasserglas. Hans Hansen warf einen flüchtigen Blick drauf . >>Was ist das?<<
>>Ihre Achillesferse.<<
Hans Hansen sah mich an. Er überlegte. Schließlich nahm er das Blatt Papier vom Tisch und entfaltete es. Er musste es einmal drehen und einmal wenden, bis er es richtig herum hielt.

Ich nahm den letzten Schluck Bier und hielt Ausschau nach Kellnerin. Als unsere Blicke sich trafen, gab ich ihr einen Wink.

Hans Hansen hatte nur einen flüchtigen auf das Papier geworfen – vermutlich kannte er den Brief in- und auswendig. Er faltete das Papier, strich die Seiten glatt und steckte es ein.
>>Sie müssen sie sehr geliebt haben<<, sagte ich.
>>Ja, das hab ich.<< Hans Hansen wirkte nun sehr nachdenklich, fast geistesabwesend. Er hielt sich mit einer Hand an der Stuhllehne fest. >>Und es gab eine Zeit<<, sagte er, >>da hat auch Sie mich geliebt.<< Hans Hansen zog den Stuhl zurück und setzte sich. Er nahm einen Schluck von seinem Wasser und starrte auf die Tischplatte, und zwar so, als ob er sie durch sie hindurchsehen könnte.
>>Sie müssen Ihr sehr wehgetan haben.<<

Hans Hansen blickte von der Tischplatte auf und schaute mir in die Augen. In seinem Blick waren Wut und Trauer vereint. >>Ja, ich habe ihr sehr wehgetan, und das werde ich mir niemals verzeihen.<<

Die Kellnerin kam mit einem breiten Grinsen und stellte das Bier auf den Tisch. Ich wollte es bezahlen, doch sie winkte ab. >>Geht auf’s Haus.<< Sie zwinkerte mir zu und verschwand.

Ich wandte mich wieder Hans Hansen zu. Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich veränderte. Er sah jetzt aus wie ein Mann, der zu allem entschlossen schien. Dieser Ausdruck gefiel mir sehr. Er sagte: >>Und was ist mit Dir, Fatzke? Bumst Du nur rollige Kellnerinnen, oder hast Du schon mal richtig geliebt?<<
Hans Hansen schien von seinen eigenen Worten überrascht. Aber hey, achtundzwanzig Jahre trocken hin oder her – ein Seemann bleibt ein Seemann.

Ich stellte mein Glas ab und holte einen geöffneten Briefumschlag aus der Innentasche meiner Jacke heraus. Ich lehnte ihn, wie zuvor den Brief, an Hansens Wasserglas. Hans Hansen griff ruppig nach dem Umschlag. >>Nur damit Sie es wissen<<, sagt ich. >>Die ganzen Briefe, die ihr Sohn ungeöffnet hat zurückgehen lassen, habe ich nicht gelesen.<<

Hans Hansen holte ein Foto nach dem anderen aus dem Umschlag.

>>Sie bekommen Siebzigtausend für das Grundstück.<< Hans Hansen schenkte mir und meinen Worten keinerlei Bedeutung. Nach eine Weile sagte er: >>Er sieht mir ähnlich, nicht wahr?<<
Ich nickte.
>>Und das sind meine Enkel, ja?<< Er hielt mir ein Foto hin.
>>Ja. Das sind Fin und Lea. Fin ist fünf und wird nächstes Jahr eingeschult. Lea kommt in die 7. Klasse. Sie geht auf’s Gymnasium.<<
>>Auf’s Gymnasium?<<, sagte er nicht ohne Stolz.
>>Ja. Auf’s Bertold-Brecht Gymnasium, Klasse 6B.<<

Hans Hansen zeigte mir noch ein Foto. >>Und das ist meine Schwiegertochter, ja?<<
>>Ja genau. Das ist Inga. Geborene Janßen.<<
Hans Hansen wischte sich die Tränen aus den Augen. >>Und was macht mein Sohn?<<
>>Enno hat Bürokaufmann gelernt und arbeitet jetzt bei der Stadt in der Verwaltung. Sehr solide.<< Hans Hansen nickt anerkennend. >>Inga ist gelernte Erzieherin und ist zurzeit halbtags in einem Schreibwarengeschäft angestellt.<< Ich nahm eine Schluck Bier. >>Warten Sie mal.<< Ich nahm ihm die Fotos aus der Hand und suchte eins heraus. >>Hier, schauen Sie.<< Ich tippte mit dem Finger auf den Bildrand. >>Das Haus im Hintergrund da, das mit dem kleinen Garten, das gehört den beiden.<< Hans Hansen betrachte das Foto genau. >>Sehr schön<<, sagt er. >>Es ist eine Doppelhaushälfte, nicht wahr?<<
Ich nickte.
>>Sehr gepflegt.<<
Ich sah Hans Hansen dabei zu, wie er alle Fotos durchging und jedes einzelne mit Argusaugen betrachtete. >>Darf ich die behalten?<<
>>Natürlich.<<

Nachdem er sich alle Fotos zu Genüge angeschaut hatte, steckte er sie zu dem Brief in die Tasche und achte penibel darauf, dass keine Knicke hineinkamen. Ich trank einen Schluck Bier. Hans Hansen schaute zum Himmel. >>Heute ist ein schöner Tag, nicht wahr?<< Ich nickte. Hans Hansen betrachtete das bunte Treiben um uns herum, dann schaute er mich an: >>Könnten Sie das wirklich?<<
>>Was meinen Sie?<<
>>Kinder erschießen?<<
>>Ich? Niemals.<< Ich schüttelte meinen Kopf, als wären meine Worte nicht ausreichend gewesen.
>>Aber jemand anderes könnte es, nicht wahr?<<
>>Ohne mit der Wimper zu zucken.<< Ich zog jedes Wort in die Länge.

Hans Hansen nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. >>Und wie geht es jetzt weiter?<<
>>Morgen Vormittag kommt jemand Sie abholen. Dann geht’s zur Bank, den Behörden, was weiß ich. Die Formalitäten halt. Ich hab keine Ahnung von sowas. Auf jeden Fall bekommen Sie dann ihr Geld.<<
>>Aha. Ihr Auftrag ist dann hiermit erledigt, nehme ich an?<<
>>Wenn Sie keine Fragen mehr haben ...<<

Hans Hansen wirkte zu meiner Verwunderung ausgesprochen erleichtert, fast heiter. >>Fragen hab ich keine. Aber ein Bitte.<<
>>Eine Bitte?<<
>>Ja, eine Bitte. Und zwar möchte ich Sie bitten, eine Stunde mit mir zu verbringen.<< Ich schaute ihn skeptisch an. >>Ich möchte, dass wir gemeinsam mein Grundstück besuchen.<< Hans Hansen lächelte.
>>Das würde Ihnen nichts nützen. Sie können mich nicht umstimmen. Das hat -<<
>>Darum geht es nicht. Ich habe es schon längst akzeptiert. Sie scheinen jedoch trotz Ihres, nennen wir es mal, Berufes, ein ganz netter Kerl zu sein.<<
>>Nur weil ich keine Kinder erschieße, heißt das nicht, dass ich ein netter Kerl bin. Da sollten Sie schon andere Maßstäbe anlegen.<<
>>Ja, das stimmt.<< Hans Hansen lachte. >>Aber ich habe gerade erfahren, dass ich zweifacher Großvater bin und ich möchte noch einmal zu meinem Grundstück, bevor es mir morgen nicht mehr gehört. Und ich möchte, dass Sie mitkommen.<<
>>Hören Sie, ich hab wirklich keine Zeit. Ich -<<
>>Jetzt hören Sie zu, junger Mann. Das Grundstück ist seit fast hundertfünfzig Jahren in meinem Familienbesitz, und Sie haben es mir in fünf Minuten für‘n Appel und‘n Ei abgeluchst. Und selbst wenn wir diese Sache außen vor lassen, denke ich, dass wenn ein alter Mann eine Stunde von einem jungen Mann einfordert, das nicht zu viel verlangt ist, oder?<<
>>Nein. Ich verstehe nur nicht, was Sie damit bezwecken -<<
>>Ich will nichts bezwecken.<<
>>Lassen Sie mich erst mal in Ruhe mein Bier austrinken, dann sehen wir weiter.<<
Hans Hansen lachte. >>Mit der Ruhe ist es gleich vorbei.<<

ich verstand nicht, und Hans Hansen sah, dass ich nicht verstand. Er deutet auf den Tisch, an dem ich zuvor gesessen hatte. Caro, die Kellnerin, hatte den besagten Tisch soeben abgeräumt und holte den zerknüllten Zettel mit ihrer Telefonnummer aus dem Aschenbecher heraus. Trotz der gut sechs Meter Entfernung, war die Zornesfalte, die sich auf ihrer Stirn abzeichnete, überdeutlich zu erkennen. Die Falte verlieh ihrem niedlichen Gesicht Charakter, machte es aber nicht hübscher, ganz im Gegenteil. Ihr Zorn war mittlerweile in ihren Blick übergegangen, den sie mir zuwarf. Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, und ich bekam eine obszöne Geste als Antwort. Ich leerte mein Glas in einem Zug: >>Kommen Sie, Herr Hansen. Ich möchte unbedingt Ihr Grundstück sehen.<<

>>Da vorne ist ein Taxi-Stand<<, sagte ich.
>>Und was wollen wir da?<<
>>Liegt ihr Grundstück nicht am alten Eisenbahndock?<<
>>Das sind keine zwei Kilometer - Sie sind doch ein junger Mann.<<
Ich machte dicke Backen.
>>Nun machen Sie nicht so ein Gesicht. Der Tag ist wunderschön, die Stadt ist wunderschön. Wie heißen Sie überhaupt?<<

Ich sagte es ihm, und er bot mir das Du an. Ich hängte mir die Jacke über die Schulter und wir setzten uns in Bewegung. Der alte Mann war gut zu Fuß. Mit ihm zu spazieren war, als hätte man eine Stadtführung gebucht. Zu jedem Gebäude, zu jeder Straße, zu jedem Baum bekam ich eine Geschichte zu hören, ob ich nun wollte oder nicht.

Wir erreichten den alten Hauptbahnhof, der schon vor über dreißig Jahren durch einen neuen, heute noch aktuellen Hauptbahnhof ersetzt wurde. Der alte Bahnhof diente nach seiner Abdankung noch eine Zeit lang als Verladebahnhof, doch seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren war er außer Betrieb. Ende der 80er, Anfang der 90er wurden die leeren Hallen für wilde Partys genutzt, bevor der Bahnhof aufgrund von Baufälligkeiten komplett stillgelegt wurde. Der eigentliche Grund war, dass Anfang der 90er die synthetischen Drogen den Alkohol in dieser Szene abgelöst hatten. Dass es die friedlichsten Partys überhaupt waren, spielte bei der Entscheidung keine Rolle.
Mittlerweile waren die Gebäude zerfallen und die Gleise kaum noch zu erkennen; die Natur hatte sich zurückgeholt, was ihr schon immer gehörte.

Die Grundstücke, um die es ging, und von denen Hans Hansen eines besaß, befanden sich hinter dem alten Bahnhof stadtauswärts, besser gesagt sie fingen dort an. Früher, als dort noch die lauten Züge vorbeifuhren, hatten sie trotz direkter Wasserlage kaum einen Wert. Nachdem aber die Stadt, auf Drängen meines Bosses, genannt Lollo, den Abriss des alten Bahnhofs bewilligt hatte, kaufte Lollo über Mittelsmänner all die schönen Grundstücke auf. Nur das schönste von allen, das in einer kleinen Landzunge mündete, das hatte er nicht bekommen. Und auf diesem befanden wir uns jetzt. Hans Hansen breitete die Arme aus. >>Ist das nicht wunderschön, Keno?<<
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn: >>Ja, Hans, das ist es.<<
>>Schau Dir den Hafen an.<< Hans Hansen deutete auf die andere Uferseite. >>Den gibt es noch gar nicht so lange. Früher lebte die Stadt von der Heringsfischerei, da war der Hafen noch direkt in der Innenstadt, damit die kleinen Boote den Fisch direkt vor Ort abliefern oder verkaufen konnten. Kann man sich gar nicht mehr vorstellen. Du musst bedenken, dass die Stadt früher voller Kanäle war – noch viel mehr als heute. Klein Venedig, nannte man sie auch.<<

Ich nickte. >>Ich hab Bilder von Früher gesehen.<<

>>Seit über hundert Jahren ist es jetzt ein Umschlaghafen. Früher war es Erz, heute sind es Autos. Wer weiß, was es in hundert Jahren sein wird; aber so lange es den Hafen gibt, wird es auch diese Stadt geben. Ohne den Hafen gäbe es es sie überhaupt nicht, wusstest Du das?<<
Ich nickte. In der letzten Stunde hatte ich überhaupt nicht anderes getan als zu nicken.
>>Mein Stammbaum reicht bis in’s 17. Jahrhundert zurück. Kannst Du dir das vorstellen?<<
>>Ich hab ihn gesehen<<, sagte ich und zwinkerte ihm zu. Hans Hansen lachte. >>Ach ja - du warst ja in meiner Wohnung.<< Er fasste mir kurz freundschaftlich an die Schulter. Mir lief ein Schauer über den Rücken.

>>Wir waren Fischer, von Anfang an. Das Meer hat schon immer mein Leben und meinen Tagesrhythmus bestimmt. Mit meinem Großvater bin ich schon als so kleiner Stöpke<< - Hans Hansen zeigte mit der flachen Hand etwa einen halben Meter über den Boden - >>rausgefahren, und ich habe es geliebt. Mein Opa war noch ein richtiger Fischer; mein Vater konnte schon nicht mehr vom Fischfang leben - Gott hab sie selig.<<
Hans Hansen bekreuzigte sich.
>>Mein Vater, Heinrich, fing dann, als das Geld gar nicht mehr reichte, auf der Werft an. Er war ein Mann vom alten Schlag. Er hat sich nie beklagt, aber es hat ihn gebrochen, das weiß ich.<< Hans Hansen fasste sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
>>Stört es dich, wenn ich was trinke?<<
>>Nein, überhaupt nicht.<<
Ich holte meinen Flachmann raus und trank.
>>Komm, wir setzten uns.<<
Wir setzten uns.

Hans hatte ein fast kindliches Gemüt. Mit der Hand als Sonnenschutz über den Augen schaute er auf’s Wasser. >>Weißt Du, Keno, ich war schon ganz schön wild damals. Ich konnte meinen Vater nicht verstehen, das war keinen Leben für mich. Täglich zehn bis zwölf Stunden schuften und dann müde zuhause sitzen und was trinken und dann früh ins Bett, um am nächsten Morgen wieder fit zu sein … Ne-ne. Und wenn du dann noch die Geschichten von Opa hörst, von der Seefahrt, der Fischerei, der Kameradschaft an Bord … Tja, Werftarbeiter oder die Marine, darauf lief mein Leben hinaus. Direkt nach der Volksschule hab ich dann angeheuert.<<

Er sprach ohne mich anzuschauen, den Blick aufs Wasser gerichtet. >>Im Alter neigt man dazu die Vergangenheit zu verklären, so wie es mein Opa getan hat, das weiß ich heute, wo ich selbst alt bin. Aber wenn du jung bis, ist die Marine schon ´ne tolle Sache, auch wenn es manchmal hart war.<< Hans sah mich an. >>Ach - was hab ich von der Welt gesehen.<< Seine Augen leuchteten und schauten in die Vergangenheit. In der Gegenwart zurück sagte er: >>Und ganz schön gesoffen haben wir auch.<< Er lachte.

Ich prostete ihm zu: >>Kann man auch vor Ort.<<
>>Wie alt bist Du, Keno?<<
>>Dreißig. Nächste Woche.<<
>>Dreißig, hm? Da fing es bei mir ungefähr an.<< Hans Hansen nahm seine Mütze ab. Er wischte sich durch die schweißnassen Haare und setzte die Mütze wieder auf. >>So schön es auch bei der Marine war, aber irgendwie fährt man doch ziellos durch die Gegend und findet keine Ruhe. Man macht in den Häfen einen drauf - hat´n Mädel oder auch keins, wie der Albers sang - oder geht zu Prostituierten … Aber mit dreißig kommt der Punkt, wo einem das nicht mehr reicht. Bei mir war es wenigstens so. Und von einigen Kameraden weiß ich, dass es ihnen auch so ging. << Hans Hansen machte eine Pause, schaute auf’s Wasser. Dann, wieder mich anschauend: >>Hast Du eine Freundin, Keno?<<

Ich schüttelte den Kopf.
>>Kinder?<<
Ich setzte mein Kopfschütteln fort.
>>Gefällt Dir Deine Arbeit?<<
Ich dachte nach, bevor ich sprach. >>Ich würd nicht sagen, dass sie mir gefällt, aber ich weiß, was ich an ihr habe. Oder anders gesagt: Ich weiß zu schätzen, was ich nicht stattdessen tun muss.<<
>>Ja, das kann ich verstehen<<. Hans Hansen starrte wieder aufs Wasser. >>Ich hab damals dieses wunderschöne Mädel in Rotterdam kennengelernt. Ich war schon über dreißig, und sie noch keine zwanzig, aber wir haben den Altersunterschied überhaupt nicht gemerkt. Wir lagen fast drei Wochen in Rotterdam, und es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich hab jede freie Minute mit ihr verbracht.<<

Hans Hansen nahm seine Mütze ab, wischte sich mit einem Taschentuch über den Kopf und setzte sie wieder auf. >>Wir sind dann ausgelaufen, aber etwas von mir blieb in Rotterdam. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Sie.<< Er sah mich an. >>Klingt wie aus ´nem Groschenroman, nicht wahr?<<
>>Liebe ist immer kitschig. Und das muss sie auch sein.<<

Hans Hansen lächelte. >>Ich mag dich, Keno.<< Er zog den rechten Ärmel seines blauen Norweger-Pullis hoch. >>Schau mal. Das hab ich mir damals stechen lassen.<< Auf seinem Arm war amateurhaft ein Herz tätowiert. In dem Herz stand: H + O.
>>Das ist kitschig<<, sagte ich.
Hans Hansen lachte und stieß mir mit seinem Ellenbogen freundschaftlich in die Seite. >>Das hatte jeder damals.<<
>>Jeder mit deiner Freundin?<<
Ich bekam einen kräftigen Schubs, und wir lachten.

>>Und wie ging es weiter?<<, fragte ich teils aus Höflichkeit, teils aus Interesse.
>>An Bord soff ich noch mehr als sonst. Plötzlich war alles anders. Ich dachte nur noch an sie, hatte keinen Spaß mehr mit den Jungs. Die Arbeit wurde müßig, und Müßiggang ist aller Laster Anfang, wie du ja weißt.
Wenn wir irgendwo festmachten, ging ich meist nicht mal mehr zu den Huren. Und nicht zu wissen, was sie gerade trieb, machte mich wahnsinnig. Also ob es ihr gut ging, meine ich, nicht … nicht was -<<
>>Ich versteh schon.<<
>>Ich schrieb ihr einen Brief nach dem anderen. Und jeden von ihr, las ich hundert Mal und behütete sie wie einen Schatz. Und in dem einen stand’s dann drin.<< Hans Hansen sah mich an. >>Du kannst es dir sicher denken, nicht wahr?<< Ich nickte. >>Weißt Du, wo mich der Brief erreichte?<<

Ich bewegte meinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück.

>>In Rio de Janeiro. Wir ankerten mitten im Paradies. Das war 1979. Wir lagen am Strand zwischen den ganzen Strandschönheiten – solche Frauen hast du noch nicht gesehen -, hatten Geld wie Heu und es gab kein Aids. Ich war zweiunddreißig und erfuhr, dass ich Vater werde.
>>Gibt sicherlich bessere Zeitpunkte.<<
>>Das kannst du wohl sagen.<< Hans lachte. >>Und was hab ich gemacht? Hab alles hingeschmissen und hab den nächsten Flug nach Amsterdam genommen.<< Hans Hansen machte ein Pause. >>Interessiert Dich das überhaupt, Keno?<<
>>Ja. Nur wenn man weiß, dass es kein Happy End gibt, kommt halt ein wenig Wehmut auf.<<

Ich wirkte wohl etwas teilnahmslos, weil ich die ganze Zeit überlegte, ob es eine Nutte war, die er in Rotterdam geschwängert hatte. Und nicht ganz unabhängig davon fragte ich mich, ob er überhaupt sicher sein konnte, dass es sein Kind war. Aber welche Rolle spielte das schon? Frau bleibt Frau und Kind bleibt Kind. Liebe wertet nicht.

>>Am Anfang war es auch richtig schön; ich hatte ja einiges gespart, und wir lebten in Saus und Braus. Aber ich trank immer mehr. Und das war der Anfang vom Ende.<<
Hans Hansen erzählte mir sehr detailliert vom Anfang und Ende und dem Dazwischen. Es wirkte auf mich, als würde er Zeugnis ablegen. Es war die Geschichte eines alkoholkranken Mannes, der alle Stadien der Sucht durchlaufen hatte, bis er ganz unten angekommen war. Und nur wenige, die ins Bodenlose fallen, finden Halt und rappeln sich wieder auf. Aber Hans Hansen war einer von ihnen. Er packte sich am eigenen Schopf, setzte seine Mütze wieder auf und trampte zurück in die alte Heimat.

Zu erkennen, dass die eigene Frau und das eigene Kind besser ohne einen dran sind, nimmt einen der vordersten Plätze der schmerzlichen Erkenntnisse auf dieser Welt ein, wie Hans mir sagte. Nicht im Wortlaut, aber so ungefähr.

Er zog zu seinen Eltern, machte eine Entziehungskur und bekam einen Job als Werftarbeiter. Trotz seines Lebenswandels, wollte sie nichts ihm zu tun haben und hielt ihm das Kind vor. >>Vielleicht hätte ich mehr kämpfen sollen, aber ich habe es akzeptiert.<< Sie hatte einen neuen Mann, und dieser Mann sollte jetzt der Vater sein. >>Liebe funktioniert nur gegenseitig, aber Geld funktioniert auch einseitig. Bis zu ihrem Tod hab ich ihr jeden Monat so viel davon geschickt, wie ich konnte. Ich hab fast nichts für mich behalten, und das störte mich nicht. Es war Teil meiner Buße.<<

>>Warum erzählst Du mir das alles, Hans?<<

>>Ich hab sonst niemand, Keno. Ich bin ganz allein. Es gibt niemanden. Ich hab ein paar Skatfreunde und einen Nachbarn, den ich öfters besuche – er ist nicht mehr gut zu Fuß, musst Du wissen-, aber das war’s. Mit meinen Arbeitskollegen wurd ich nie warm. Aber das lag an mir - ich hasste mich und die Arbeit. Das Grundstück hier<< - Hans Hansen machte eine ausladende Handbewegung - >>ist alles, was ich hab und alles, was mir lieb ist. Versteh mich nicht falsch – ich bin nicht verbittert, ich bin gern allein. Einsam kann man nur unter Menschen sein, wie man so schön sagt. Verstehst Du das?<<

>>Besser als Du denkst.<<

>>Darf ein alter Mann Dir einen Rat geben, Keno?<<
>>Klar.<<
>>Mach was aus Deinem Leben. Du bist noch jung, aber auch nicht mehr so jung. Das Leben geht so schnell vorbei. Und wenn Du nicht aufpasst, bist Du ein einsamer alter Mann, der fremden Leuten Geschichten von damals erzählt.<< Er lächelte mich an. Es war das traurigste Lächeln, das ich jemals sah. Ich legte meinen Arm um ihn, und er legte seinen Kopf an meine Schulter. Schweigend betrachteten wir den Sonnenuntergang. Zwei einsame Seelen, die für einen Augenblick ihr gemeinsames Schicksal miteinander teilten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Vitelli,

ich durchforste gerade die Kurzgeschichten und bin hier bei dir hängengelieben.

Ich habe mal den ersten Teil zitiert und einige Stellen markiert.

Hans Hansen hatte sich das Grandcafé als Treffpunkt ausgesucht, und dieser Treffpunkt war gut gewählt. Das gut besuchte Café lag mitten im Herzen der Stadt, und zwar genau dort, wo sich beide Fußgängerzonen kreuzten. Unzählige Stühle und Tische säumten den alten Springbrunnen inmitten des großen Platzes nahe des Rathauses. Wer hier saß wollte sehen und gesehen werden. Neben den Touristen waren es vor allem die jungen Mädels, die mit ihren riesigen Sonnenbrillen auf den Präsentiertellern dieser Stadt Platz genommen hatten - wer dort saß, wollte sehen und gesehen werden.

Ich stand am Rand des Platzes und arbeitete mit meinen Augen systematisch einen Tisch nach dem anderen ab. Hans Hansen war noch nicht da. Ich schaute nach oben zur Rathausuhr: Es war 15:43 Uhr; um 16 Uhr sollte das Treffen stattfinden. Als ein Tisch im zentralen Bereich frei wurde, nahm ich Platz. Ich legte meine Lederjacke auf den freien Stuhl neben mir und lehnte mich genüsslich zurück, um die Sonne zu genießen. Eine hübsche Kellnerin kam und ich bestellte ein Bier.

Ich bemerkte Hans Hansen ein paar Minuten später. Er schlich um den Platz herum und versuchte sich dabei betont unauffällig zu verhalten, womit er natürlich genau das Gegenteil erreichte: Er sah auf seine Uhr, band sich scheinbar seine Schnürsenkel und schaute durch reflektierende Schaufensterscheiben.

Die Kellnerin kam mit meinem Bier. Sie sagte irgendwas Nettes, und ich erwiderte irgendwas Nettes. Ich zahlte, und sie freute sich über das üppige Trinkgeld. Während ich das Restgeld in der Hosentasche verstaute, nahm Hans Hansen zwei Tische neben mir Platz. Er sah sich um.
Einige Worte wiederholen sich recht häufig in diesen wenigen Zeilen.
  • Platzes, Platz, Platzes, Platz, Platz --> Für den Platz (Ort) und für das sich hinsetzen. Vielleicht könntest du einige "Platz nehmen" durch "hinsetzen" ersetzen.
  • Unterstrichen habe ich zwei Sätze, die sich fast 1:1 wiederholen. Einen davon könntest du streichen.
  • sah und schauen --> könnte man teilweise durch "blicken" oder anders ersetzen
  • "Tisch" kommt 23 mal vor. Einige könnte man ersetzen, z.B.: "kam an seinen Tisch" --> kam zu ihm; oder: "stellte das Bier auf den Tisch"--> stellte das Bier ab; oder: "schaute demonstrativ unter den Tisch" --> schaute auf den Boden/suchte den Boden ab (um ein weiteres "schauen" zu vermeiden)
Vielleicht kannst du damit etwas anfangen und magst den Text systematisch nach Ähnlichem abgrasen.

Schönen Tag und
LG, Franklyn
 



 
Oben Unten