Heavy Metal (1)

Heavy Metal



1.

Es war Dienstag, draußen schien die Sonne, die zweite Doppelstunde war fast vorbei, das Schuljahr auch. Noch einmal würden darauf Sommerferien folgen, und dann das letzte, das dreizehnte Jahr.

An der Tafel stand der Notenspiegel: keine sechs, zwei Fünfen, vier Vieren, acht Dreien, zwei Zweien, eine Eins. Herr Mann schritt die halbleeren Reihen ab und händigte die schwarzen Klausurhefte aus. Siebzehn Schüler waren noch übrig in seinem Deutsch-Leistungskurs. Manche würdigte er keines Blickes, wenn er das Heft vor ihnen ablegte; er wartete auch nicht ab, bis sie es aufgeschlagen hatten. Neben anderen blieb er kopfschüttelnd stehen, bis sie sich zu seiner Benotung durchgeblättert hatten. Kaum einer traute sich, zu ihm aufzusehen. Als er bei Arndt angekommen war, erhellten sich seine finsteren Züge.

„So habe ich mir das vorgestellt.“ Herr Mann nickte anerkennend.

Arndt sah ihm direkt ins Gesicht, ohne sein Lächeln zu erwidern.

Herr Mann wartete, ob er das Heft aufschlagen würde, aber Arndt steckte es unbesehen in seinen Bundeswehr-Rucksack. Herr Mann ging kopfschüttelnd weiter durch die Reihen.

Als er am Pult angekommen war, wandte er sich dem Kurs zu und richtete sich auf wie ein Redner in einem Sandalenfilm. Arndt stellte sich ihn mit Brustpanzer und Flügelhelm vor und musste grinsen. Herr Mann trug, solange das kollektive Gedächtnis der Schule zurückreichte, den Spitznamen „Hermann, der Cherusker“, obwohl sein Äußeres wenig gemein hatte mit der hünenhaften Bild, das allen voran er selbst immer wieder von diesem vermeintlichen Urvater der Deutschen zeichnete. Einige hielten ihn für einen Fascho, viele für einen weltfremden Spinner, manche für einen genialen Satiriker. Arndt gehörte zu letzteren.

„Bevor Sie sich gleich in der Pause wieder allerlei geistlosen Vergnügungen hingeben“, hub Herr Mann an, „sollten Sie sich wenigstens einmal anhören, was alles aus den Aufgaben, die ich Ihnen gestellt habe, herauszuholen gewesen wäre. Herr Liesner, wenn Sie die Freundlichkeit hätten, die anderen an Ihren Ausführungen zu Kleist teilhaben zu lassen“

Unwillig zog Arndt sein Heft wieder aus der Tasche. Er glaubte, gesehen zu haben, wie Luise mit den Augen rollte. Um ihn her wurde getuschelt. Er räusperte sich laut und anhaltend, während er sein Heft aufschlug. Er sah mehrere rote Anmerkungen am Rand seines Textes: „Brillant“; „Sehr gelungen“; „gut beobachtet“. Er setzte an, aber seine Stimme versagte gleich. Irgendwas hing seit Tagen in seinem Hals und wollte nicht heraus. Er räusperte sich erneut und spürte, dass ihn mittlerweile alle ansahen.

Endlich kamen die Worte: „Auf den ersten Blick erscheint es erstaunlich, dass ein Text, den ein preußischer Adliger vor über zweihundert Jahren über einen sächsischen Pferdehändler, der noch einmal dreihundert Jahre früher gelebt und gewirkt haben soll, für uns Heutige noch relevant sein sollte. Und doch zählt Kleists „Michael Kohlhaas“ immer noch zu den am häufigsten zitierten Werken einer Zeit, die diesen radikalen Dichter selbst kaum zu würdigen wusste…“

Die Pausenglocke erlöste Arndt und seine erzwungenen Zuhörer.

Beim Rausgehen spürte Arndt, wie seine Mitschüler Abstand hielten. Keiner seiner Freunde besuchte diesen Kurs. Nur Luise - vor der hätte er gerne ein souveräneres Bild abgegeben. Aber die ignorierte ihn, egal was er machte. Von daher: was soll’s, dachte er.

Er ging mit federnden Schritten, von denen er damals noch dachte, sie würden ihn lässig erscheinen lassen, über den Schulhof – dorthin, wo der Übergang vom Altbau zum Neubau eine Überdachung bildete, und die Betonsäulen, die ihn stützten einen gewissen Sichtschutz. Arndt staunte immer wieder, wie gut der Teil der Schule, der vom Anfang des Jahrhunderts stammte, den vielen Tausend Schülern widerstanden hatte, die sich schon durch ihn gewälzt hatten: die hölzernen Geländer waren vom Schweiß unzähliger Handflächen nachgedunkelt und glatt geschliffen, das Linoleum auf den Treppenstufen war vom Getrampel eines Jahrhunderts etwas eingesunken, aber die hohen Räume hatten ihre sakrale Würde bewahrt. Im kaum zwanzig Jahre alten Neubau dagegen war die styroporene Deckenverkleidung durchlöchert von allem, was sich irgendwie als Geschoss eignete, die Wände waren verschmiert, die Fenster milchig, und die Hitze im Sommer unerträglich; wann immer Unterricht in diesen Teil der Schule verlegt wurde, schien seine Qualität zwangsläufig nachzulassen.

Die anderen Langhaarigen erwarteten ihn schon: Andi H, Andi T und Timo, seine drei Musketiere; mit ihnen konnte er - d’Arndtagnon - es gegen die Horden von Poppern, Schleimern und Normalos aufnehmen, die sie an diesem Spießergymnasium umringten. Er begrüßte sie reihum mit eisernem Handschlag.

„Und - bereit für den Kontest am Freitag?“ fragte Timo.

Er ging Arndt kaum bis zum Kinn, sodass dieser immer auf die Poren schauen musste, wo die fettigen blonden Strähnen aus der Kopfhaut entsprangen. Egal welches Wetter war, Timo trug immer die gleiche speckige schwarze Lederjacke, auf deren Rückseite er mit weißer Farbe ein „Anarchie-A“ gesprüht hatte.

Arndt lachte. „Klar, wir spielen euch alle an die Wand.“

„Wart’s ab, bis du meinen neuen Verstärker siehst“, sagte Timo, „endgeiles Teil, sage ich dir.“ Er ließ eine kleine Luftgitarren-Demonstration folgen, und ahmte dabei mit der Stimme ein verzerrtes Gitarrenriff nach.

„Schon gut, wir glauben dir“, sagte Andi T.

Das stimmte nicht. Niemand glaubte Timo irgendetwas. Timos bloße Existenz an dieser Schule war schon unglaublich genug. Über sein Leben kursierten wilde Gerüchte. Soweit die anderen wussten, lebte er in einer betreuten Wohngruppe. Von seiner Mutter wurde gesagt, sie sei eine Prostituierte. Sein Vater war mal ein prügelnder Alkoholiker, mal ein Politiker, der versuchte, seinen unehelichen Sohn zu verheimlichen. Timo selbst schien die Gerüchte eher noch befeuern als ihnen entgegentreten zu wollen. Seine Noten waren nie gut; aber auch nie schlecht genug, um ihn loszuwerden. Als Gitarrist der Hardcore-Band „Maniac Manson“ genoss er ein gewisses Ansehen unter den wenigen männlichen Oberstufenschülern, deren Interessen sich nicht in Sportwagen, Fußball, Lacostepullovern und Dieseljeans erschöpften. Was er spielte, schien Arndt zwar abgekupfert von den Idolen der Szene, aber sauber und schnell; es stand damit in augenfälligem Kontrast zu seinem übrigen Auftreten.

„Habe ich euch eigentlich schon die Flyer für die Demo am Samstag gegeben?“, fragte Andi T.

Er kramte in seiner Batiktasche.

„Demo am Samstag?“, sagte Timo, „Alter, du hast keine Vorstellung, wie ich mich wegschädeln werde, wenn das Konzert am Freitag vorbei ist: da kann ich am Samstag nirgends hin.“

Andi T.s Züge verfinsterten sich: „Als ob du jemals bei irgendeiner Demo gewesen wärst; dabei geht es genau um Leute wie dich.“

„Was soll das denn heißen, Leute wie mich?“ Timo machte einen bedrohlichen Schritt auf Andi T zu und wollte nach dessen Dreadlocks greifen. Andi T wich zurück. Arndt ging dazwischen.

„Cool bleiben, Timo! Andi, was meintest du, wofür demonstriert ihr?“

„Bedingungsloses Grundeinkommen.“

Timo fing an zu lachen. „Bedingungsloses Grundeinkommen? Wer hat sich denn so eine Kacke ausgedacht?“

„Boah, du hast echt sowas von keine Ahnung“, sagte Andi T.

„Das Wochenende drauf ist übrigens Party bei mir.“ Alle sahen Andi H. an, der bisher nur dagestanden und versonnen in die Gegend geguckt hatte.

„Na, das ist ja mal ne richtig gute Nachricht“, sagte Timo, „bei dir zuhause, mit Pool und allem?“

„Scheint so.“

„Was wird denn gefeiert? Hast du Geburtstag?“

„So sieht’s aus.“

Andi H.s Eltern waren beide Anwälte, hieß es. Auf jeden Fall hatten sie ein fettes Haus, eher schon ein Anwesen mit Park hintendran - und einen überdachten Pool. Andi H. hatte nicht einfach nur ein Zimmer in dem Haus; er auch noch ein Atelier, wo er auf riesige Leinwände von Hieronymus Bosch inspirierte Bilder malte, von denen allein zwei über den Kunst-LK ihren Weg in die Treppenhäuser der Schule gefunden hatten, sodass nahezu jeder Schüler sie kannte. Es hieß außerdem, es gebe keine Droge, die Andi H nicht schon ausprobiert habe. Nur als Inspiration für seine Kunst, natürlich. Als einziger der Gruppe hatte Andi H. auch schon mit mehreren Mädchen der Schule etwas gehabt. Er sprach allerdings nie darüber. Er sprach überhaupt nicht viel; aber wenn, dann immer in dem gleichen liebenswürdigen Ton, egal wer vor ihm stand. Wenn Andi H. zu einer Party einlud, dann war klar, dass jeder kommen würde, der irgendwie darauf hoffen konnte, hereingelassen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Luise unter den Gästen sein würde, war damit sehr hoch. Der Gedanke beflügelte Arndts Phantasie.

Es klingelte.

„Kommt ihr nach der sechsten noch mit in den Laden?“ fragte Andi T.

Andi H. nickte. Timo zuckte mit den Schultern. „Mal gucken“, sagte er.

Andi T sah Arndt an. „Ich bin raus“, sagte der, „ich muss noch zum Arzt.“

„Zum Arzt, Alter“, fragte Timo, „hast du Sackratten, oder was? Hatte ich auch schon mal, juckt scheiße, oder?“

Die anderen wendeten sich angewidert ab.

„Was ist los mit euch“, rief Timo, „kann ich was dafür, dass ihr alle noch Jungfrauen seid?“



2.

„Jetzt kitzelt‘s mal ein bisschen“, sagte der HNO-Arzt.

Ohne eine Reaktion abzuwarten, rammte er Arndt einen Kunststoffschlauch mit einem Licht am Ende in die Nase. Arndt ächzte. Er krallte sich in die Lehnen des Untersuchungsstuhls, der verdächtige Ähnlichkeit mit seiner Vorstellung eines Elektrischen Stuhls besaß. Am liebsten hätte er Dr. Wehner, diesen viel zu braun gebrannten, in eine Wolke von wahrscheinlich sehr teurem Aftershave gehüllten Typen in seinem Poloshirt, diese Tennisbekanntschaft seiner Mutter (sie wird doch wohl nicht..), diesen Mercedes-mit-Ledersitzen-Fahrer, mit aller Kraft, und mit Händen und Füßen gleichzeitig, von sich weg gestoßen. Aber er blieb sitzen. Die Blamage wollte er seiner Mutter dann doch nicht antun.

„Jetzt entspann dich mal ein bisschen - bist doch schon ein großer Junge! Je besser du dich entspannst, desto schneller sind wir fertig“, dröhnte Wehners Baritonstimme viel zu dicht vor seinem Gesicht, während sich das Endoskop wie ein räuberischer Wurm in seine Halsweichteile bohrte.

Wahrscheinlich würde er gleich die falsche Abzweigung erwischen und im Hirn landen. Arndt fühlte den kalten Schweiß, der sich auf seiner Stirn zu immer größeren Tropfen zusammenzog. Das noch offene Nasenloch hatte sich vor Schreck verschlossen. Er konnte nur noch an dem Ding in seinem Hals vorbeihecheln.

„Oh-oh“, sagte der Arzt, „genau das habe ich befürchtet.“

Arndt starrte hilflos in das Dieter-Bohlen-Gesicht. Endlich glitt der Schlauch rasch den ganzen Weg zurück, den er sich vorgebohrt hatte. Arndt musste gleichzeitig husten und niesen – und verschluckte sich noch dabei. Es dauerte mehrere Sekunden bis er wieder ein paar leise Worte herausbekam.

„Was haben Sie gesehen?“, fragte er.

„Schreiknötchen“, antwortete Dr. Wehner. „Was machst du mit deiner Stimme, Junge? Sowas, kriegen normalerweise Lehrer oder Fußballtrainer, wenn sie es jahrelang mit dem Gebrüll übertreiben.“

„Ich singe in einer Band“, krächzte Arndt.

„So was habe ich mir schon gedacht“, sagte der Arzt, „ich glaube, deine Mutter hat mir sogar davon erzählt.“

Lass meine Mutter aus dem Spiel, dachte Arndt.

„Also: singen fällt fürs Erste flach. Und wenn sich das Ganze etwas beruhigt hat, würde ich dir dringend raten, Gesangsunterricht zu nehmen. Da lernst du, wie du es in Zukunft vermeiden kannst, deine Stimmbänder zu vergewaltigen.“

Arndt starrte stumm auf das übergroße anatomische Schnittbild an der Wand hinter Dr. Wehner. Es schien das gesamte Betätigungsfeld des HNO-Arztes zu umfassen, seine ganze schleimige kleine Welt. Gesangsunterricht! Hatte man je von einem Death Metal-Frontmann gehört, der Gesangsunterricht nahm? Arndt schob eine Haarsträhne aus seinem Gesicht.

„Kennst du den hier?“, fragte ihn der Arzt.

Der alte Mann auf dem signierten Portraitfoto, das an der gegenüberliegenden Wand hing, kam Arndt irgendwie bekannt vor, mehr nicht.

„Das ist Mick Jagger von den Stones. Der steht seit über 30 Jahren auf der Bühne; das muss man erstmal schaffen. Ich kann dir versichern, der gibt auch gut Acht auf seine Stimme. Vor zwei Jahren war ich in Köln dabei. Voodoo Lounge. Geiles Konzert, kann ich dir sagen. Die Karten sind natürlich ein bisschen teuer für dein Alter. Im September kommt das nächste Album raus, dann gehen sie bestimmt wieder auf Tour. Also: Stimme schonen, viel trinken, und wenn es in sechs Wochen noch nicht besser ist: wiederkommen. Und grüß deine Mutter schön!“

„Okay“, sagte Arndt.

Er ging am Wartezimmer vorbei. Erst jetzt erkannte er in der Wandmalerei dort das Rollings-Stones Plattencover mit der herausgetreckten Zunge wieder. Der Arzt schien ein echter Fan zu sein. Auch auf der Stereo-Anlage im Wohnzimmer hatte neulich eine Stones-CD gelegen, über die er sich gewundert hatte. Von seinem Vater war die bestimmt nicht; der hörte nur Klassik.

Ein älteres Ehepaar saß im Wartezimmer, die Frau sehr füllig, der Mann so abgemagert, dass sich die Haut über seinem Schädel spannte. Der Mann saß leicht vornübergebeugt, so als sei schon das Sitzen eine Anstrengung. Das Hemd hatte er ein Stück aufgeknöpft. Da, wo der faltige Hals ins Brustbein überging steckte eine Art Ventil, durch das sein Atem pfiff. Seine Frau blätterte in einer zerfledderten älteren Ausgabe des „Stern“. Neue Zeitungen würden sich nicht lohnen, hatte Dr. Wehner Arndt erklärt, als er ihn aus dem Wartezimmer abholte. Die würden ohnehin sofort geklaut. Arndt war da gerade in einen alten „Geo“-Artikel über Kannibalen in Papua vertieft gewesen.

Die Sprechstundenhilfe hob ihre angeklebten Wimpern nicht von dem Karteikasten, den sie durchsuchte, als Arndt an ihr vorbeiging, aber als er sich nochmal umdrehte, ertappte er sie dabei, dass sie ihm nachgeschaut hatte. Sie schenkte ihm ein falsches Lächeln, das er ebenso falsch erwiderte. Ich wette, der sucht sich seine Mitarbeiterinnen nach ihren Bewerbungsfotos aus, dachte Arndt. Er versuchte, sich die Frau ohne Dauerwelle und mit ihrer echten Haarfarbe vorzustellen.

Die Einkaufspassage, über der die Praxis lag, führte an einem Aquariengeschäft vorbei. Guppys, Neonfische und Skalare drängten sich in kleinen Becken im Schaufenster an ihren Sprudelsteinen vorbei. Viel Trinken, hatte der Arzt gesagt. Er stellte sich vor, wie er eines der Aquarien aus der Halterung nahm und komplett austrank, mit Fischen und allem; einfach nur wegen der Gesichter, die die Verkäufer machen würden. Er überlegte, ob er seinem kleinen Bruder einen Fisch für sein Aquarium mitbringen sollte; vielleicht lieber nicht – Johan hatte sehr genaue Vorstellungen davon, welche Fische zu denen in seinem Becken passten. Außerdem war es wahrscheinlich eine dumme Idee, einen Fisch in der Tüte mit zum Proberaum zu nehmen; sie bliesen die Tüten im Geschäft zwar immer mit reinem Sauerstoff auf, aber allein der Krach war bestimmt nicht gut für das Tier. Hört so ein Fisch überhaupt etwas, fragte er sich. Zumindest die Druckwellen aus den Verstärkern würde er wohl spüren und denken, es sei ein Erdbeben.

Arndt trat aus dem Halbdunkel der Passage hinaus ins Sonnenlicht, das von den hellen Pflastersteinen der Fußgängerzone zurückgeworfen wurde und ihn blendete. Er überquerte die Straßenbahnschienen nahe der Haltestelle, wo sich gerade zwei Bahnen kreuzten; eine unübersichtliche Situation. Ihm fiel der Bruder eines Bekannten ein, der von einer Straßenbahn erfasst worden war, als er mit lauter Musik auf den Ohren durch die Einkaufsstraße lief. Man erzählte sich, dass „Highway To Hell“ aus seinen Kopfhörern weiterschepperte, während sie die Bahn erst aufbocken mussen, um ihn darunter hervorzuziehen. In der Zeitung stand damals, er sei „noch am Unfallort seinen Verletzungen erlegen“.

---

Im Schlecker war Arndt der einzige Kunde. Die Kassiererin beobachtete ihn misstrauisch, während er die Regalreihen nach einem Heilmittel für seine Heiserkeit absuchte. Schreiknötchen - wer hatte sich dieses miese Wort ausgedacht?

Er verließ die Drogerie mit einer Eineinhalb-Liter-Plastikflasche stillem Mineralwasser, einer Kamille-Mundspülung und einem Glasfläschchen mit japanischem Minzöl, das – laut Aufschrift - innerlich wie äußerlich angewendet werden konnte. Er schüttete sich ein paar Tropfen von dem Öl in den Mund, der sich sofort komplett vereist anfühlte. Das Wasser, mit dem er nachzuspülen versuchte, machte es sogar noch kälter; außerdem schmeckte es widerlich süß. Nach ein paar Schlucken schraubte Arndt die Flasche wieder zu und stopfte die ganze Schleckertüte in seinen Rucksack. Dann stieg er in die Straßenbahn und fuhr nach Langendreer.



3.

Am S-Bahnhof stieg er aus und folgte dem Fußweg unterhalb der Gleise.

Als er am Morgen zur Schule aufgebrochen war, waren die Wiesen noch reifbedeckt gewesen, und er hatte sich die Kapuze seines erst am Vortag über den Versandhandel des Metal Hammer eingetroffenen Kreator-Pullovers so tief ins Gesicht gezogen, dass er dessen fabrikneuen Geruch dauernd in der Nase hatte. Jetzt, am Nachmittag, trug er ihn um die Hüften geknotet, und es war ihm trotzdem noch zu heiß.

Unterwegs räusperte er sich immer wieder laut, wie er es in der letzten Zeit ständig musste. Er wurde das belegte Gefühl im Hals einfach nicht mehr los. Das Gebohre des Arztes hatte es eher noch schlimmer gemacht, und auch das kalte Gefühl, das von dem Minzöl geblieben war, machte es nicht besser.

Um abzukürzen nahm er einen kleinen Trampelpfad durch die Brennnesseln, der ihn direkt auf das Gelände des Containerbahnhofs führte. Für jeden, der sich fragte, an welchen postapokalyptischen Ort er da geraten war, stand es nochmal in weißen Lettern auf der roten Querstrebe des monströsen Ladekrans, so groß, dass man es sogar von der S-Bahn aus lesen konnte: CONTAINERBAHNHOF.

Nur wenige der Gleise wurden noch genutzt, manche waren schon komplett mit Unkraut überwuchert. Die Gerüchte mehrten sich, dass dort bald gar nichts mehr verladen werden würde.

Beim Überqueren der Fläche musste Arndt den Blick immer auf dem Boden halten. Eh man sich versah, konnte man in eines der tiefen Löcher im Asphalt treten, über ein herumliegendes Metallteil stolpern, oder an einer verborgenen Schiene hängenbleiben.

Olli war das passiert, als sie im Winter im Dunkeln aus dem Proberaum gekommen waren. Da hatten sie schon einiges geraucht und getrunken gehabt, und Olli war der Länge nach hingestürzt, wie ein gefällter Baum. Sie hatten gegrölt vor Lachen - bis sie kapierten, dass Olli tatsächlich verletzt war. In den Tagen danach hatte Olli sich zum Schlagzeugspielen immer einen Drumstick als Schiene mit Panzerband an das dick geschwollene Handgelenk gewickelt, aber irgendwann hatte er solche Schmerzen gehabt, so dass er doch noch zum Arzt gegangen war. Er war mit einem Gips wiedergekommen. Speiche gebrochen, hatte der Arzt ihm gesagt, sechs Wochen kein Schlagzeug spielen. Olli hatte sich genau drei Tage daran gehalten. Dann hatte er trotz Gipsarm wieder drauf losgedroschen, als ob „Morgen“ kein denkbarer Begriff für ihn sei. Zweimal war der Gips dabei gebrochen. Dem Arzt hatte er beim ersten Mal erzählt, er sei von Unbekannten angegriffen und verprügelt worden, und beim zweiten Mal war er tatsächlich dreist genug gewesen, zu sagen, er sei auf einer Bananenschale ausgerutscht. Irgendwann war der Arm trotzdem verheilt.

Was sind dagegen so ein paar beschissene Knötchen im Hals, dachte Arndt.

Er erreichte die leer stehende Lagerhalle, in deren Kellern sich die Proberäume befanden. Er ließ seinen Blick über die vollgesprühten Wände schweifen, entdeckte aber kein neues Tag. Um die schwere stählerne Schiebetür zu öffnen, musste er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hebel hängen. Kaum hatte sich die Tür einen Spalt breit geöffnet, dröhnten schon Schlagzeug- und E-Gitarrenklänge herauf, gedämpft durch mehrere Brandschutztüren und den schweren fleckigen Vorhang, der am unteren Treppenabsatz von der Decke hing.

Die ersten Stufen musste Arndt sich noch hinuntertasten, bevor sich seine Augen ausreichend an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.

Hinter dem Vorhang stand die Luft. Ein atemberaubendes Gemisch aus kaltem Rauch, verschüttetem Bier, in Verstärkern verglühtem Staub, altem Schweiß und feuchten Wänden.

Arndt machte dieser Geruch sofort Lust, so richtig aufzudrehen, bei der Probe.

Im Flur musste er noch über kaum zu erkennende Haufen von Elektroschrott steigen. Die benachbarten Proberäume waren alle verschlossen, und kein Laut drang durch die Stahltüren.

Arndt stopfte sich noch schnell zwei Papierkügelchen aus dem letzten unbenutzten Zipfel eines Taschentuchs in die Ohren; dann schob er die Brandschutztür auf und trat in den Proberaum.

Carsten hatte sich gerade mit noch eingesteckter Gitarre zu seinem Verstärker umgedreht, um einen Regler zu verstellen; er ignorierte dabei die Rückkopplungen und das deswegen entstandene Geschrei der anderen. Der einzige, der sich nicht an dem Geschrei beteiligte, war Mike, der Rhythmusgitarrist. Er saß auf dem ekligen Ledersofa neben der Tür und baute eine der perfekt geformten Tüten, für die er berühmt war.

Olli hatte sich von seinem Schlagzeugschemel erhoben und seinen mächtigen Oberkörper gefährlich weit über seine Trommeln gebeugt. Weil er aber trotzdem nicht an Carsten herankam, schien er bereit, seinen Drumstick nach ihm zu werfen.

Auch Rafael hatte schon seinen Bass an die mit Eierkartons verkleidete Wand gelehnt, um Carsten von seinen Rückkopplungen abzubringen.

Carsten verhinderte die drohende Gewalt gerade noch rechtzeitig, indem er sich von seinem Verstärker wegdrehte.

Die Rückkopplung verstummte. Carsten bediente den Fußschalter und schlug einen A-Powerchord an, den der Verstärker in ein verzerrtes Donnern verwandelte. Das Grinsen in Carstens Gesicht verriet, dass er erheblich zufriedener mit dem Sound war. Vor Freude schickte er gleich noch einen kleinen Metallica-Lick hinterher. Erst dann blickte er auf. Er sah Arndt an, der die Tür hinter sich geschlossen hatte, und gegen sie gelehnt stehen geblieben war.

„Da bist du ja endlich“ sagte Carsten, „wo warst du denn so ewig?“

Als ob wir nicht schon oft genug auf dich gewartet hätten, dachte Arndt.

„Musste noch was erledigen“, sagte er.

„Hast du den Text von ‚Slave saliva‘ jetzt drauf?“, fragte Carsten.

„Ja sija“, sagte Arndt.

„Okay, dann lasst uns…“

Noch ehe Carsten seinen Satz beenden konnte, drosch Olli bereits auf seine Snare ein.

Es dauerte, bis Olli merkte, dass die anderen nicht einsetzten.

Irgendwann sah er erstaunt zu Carsten hoch, der wild vor ihm herumfuchtelte.

„Können wir uns mal darauf einigen, dass du erst den Takt vorgibst, wenn ich dir das Zeichen gegeben habe?“, sagte Carsten.

„Welches Zeichen nochmal?“, fragte Olli.

„Daumen hoch“, sagte Carsten. Dann sah er, dass alle grinsten.

„Boah, ihr könnt mich alle mal!“ rief er, „es ist keine Woche mehr bis zum Auftritt, und wir haben unser Set noch nicht ein Mal fehlerfrei durchgespielt!“

„Krieg dich wieder ein, Mann“, sagte Mike, nachdem er sich wie in Zeitlupe vom Sofa erhoben und seine Gitarre umgehängt hatte, „weiß doch jeder: je beschissener die Proben, desto besser der Auftritt.“

„Ich würde sagen: das gilt nur für die Generalprobe“, sagte Rafael, der seinen Platz am Bass wieder eingenommen hatte, „wenn jede Probe beschissen läuft, wird’s beim Auftritt nicht besser.“

„Könnt ihr jetzt mal aufhören zu labern“, sagte Carsten, „sonst können wir den Auftritt auch gleich absagen.“

„Absagen? Hast du sie noch alle?“ sagte Olli, „das ist vielleicht unsere einzige Chance, mal vor so vielen Leuten zu spielen!“

„Ich jedenfalls habe keinen Bock, vor so vielen Leuten zu verkacken“, sagte Carsten, „also los!“

Er sah sich um. Alle standen an ihren Plätzen. Auch Arndt hatte mittlerweile seinen Rucksack hinter das Sofa gestopft und machte sich an der Höheneinstellung des Mikrofonständers zu schaffen. Carsten reckte den Daumen in die Höhe. Nichts passierte.

„Olli?“ Carstens Stimme überschlug sich.

Ollis Kopf tauchte über der bass drum auf.

„Augenblick“, sagte er, „das Pedal hat sich verhakt.“

Er tauchte wieder hinter die Trommel. Dabei rutschte ihm das T-Shirt Richtung Achseln und gab den Blick frei auf die einzelnen schwarzen Haare auf seinem weißen Rücken und den Übergang in die Pofalte. Die anderen betrachteten interessiert dieses verstörende Bild. Nur Mike schielte zu der fertig gedrehten Tüte hinüber, die auf dem braun gefliesten Wohnzimmertischchen vor dem Sofa liegengeblieben war.

Olli schrie plötzlich auf und kam hinter der Trommel hervorgeschnellt.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte Carsten.

„Finger geklemmt“, sagte Olli.

„Zeig mal“, sagte Rafael. Er stellte seinen Bass auf den Ständer zurück.

Olli hielt ihm die Hand über das Schlagzeug hinweg hin. Die Kuppe seines rechten Zeigefingers sah übel gequetscht aus. Unter dem Nagel wurde es dunkel.

„Kann sein, dass man das entlasten muss“, sagte Rafael.

„Entlasten?“, fragte Olli.

„Ein Loch in den Nagel machen, damit das Blut abfließen kann“, sagte Rafael.

„Vergiss es“ sagte Olli, „kommt, lasst uns spielen!“

Ohne Carstens Zeichen abzuwarten, gab er vier Schläge vor. Diesmal setzten alle ein. Die Druckwelle erfasste Arndt von hinten. Er hielt mit der linken Hand den Ständer und mit der rechten das Mikrofon umklammert, während er den Blick auf das imaginäre Publikum vor ihnen gerichtet hatte, das in Wirklichkeit nur aus einem an die Wand genagelten Ziegenschädel bestand. Den Schädel hatte Arndt im Sommer des Vorjahres gefunden, bei einer Hüttentour durch die Alpen mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder ( - seine Schwester hatte es vorgezogen, mit einer Freundin und deren Familie nach Ibiza zu fliegen). Sein Bruder hatte ihn angebettelt, ihm den Schädel zu schenken, aber er hatte sofort gewusst, wo dieser Schädel hingehörte. Mike hatte ihm dann noch eines Tages diese Glibberaugen aus dem Scherzartikelladen in die leeren Höhlen geklebt, und seitdem sah er richtig verboten aus.

Die Wand aus Lärm, die die vier anderen hinter ihm errichteten, schien ihn auf den Schädel zuzuschieben. Jetzt musste er nur noch aufspringen und sich tragen lassen. Er holte tief Luft, und dann kam er, der Schrei, so tief, so böse, so kaputt! Der geballte Hass auf diese ganze kranke Welt lag darin - perfekt! Wegen dieser Schreie hatten sie ihn in die Band geholt. Das konnte keine noch so treibende Bassline, kein noch so dreckiges Gitarrenriff, keine noch so galoppierende double bass rüberbringen, diese alles niederreißende negative Energie, die aus seinen Schreien quoll. Damit würden sie die Moshpit zum Toben bringen und alle Mitbewerber des 20-Jahre-Werkstatt-Witten-Band-Kontests hinter sich lassen.

Schreiknötchen up your arse, Dr Wehner, dachte Arndt, während er Strophe um Strophe, Chorus um Chorus textsicher - wenn auch nicht immer rhythmisch auf den Punkt - herunterröhrte.

Plötzlich verstummte das Schlagzeug. Einer nach dem anderen kam raus, und das ganze Klangungetüm fiel in sich zusammen wie einer dieser Papierdrachen aus China, dem die Träger abhandengekommen sind.

„Was ist denn jetzt schon wieder, Olli?“, fragte Carsten.

„Alter, mein Finger tut scheiße weh - ich kann so nicht weiterspielen“, sagte Olli.

„Ey, du konntest mit einem gebrochenen Arm spielen, und memmst jetzt hier rum wegen einem gequetschten Finger?“

Olli schaute auf den Boden.

„Zeig noch mal“, sagte Rafael.

Die Kuppe des Zeigefingers war mittlerweile fast doppelt so dick wie die übrigen.

„Ernsthaft, da muss ein Loch rein“, sagte Rafael, „ ich hab das mal bei meinem Vater gesehen; der hat sich voll mit dem Hammer auf den Finger gehauen. Nachdem er sich das Loch in den Nagel gemacht hat, hat er einfach weiterarbeiten können.“

Mike war auf einmal auch ganz interessiert: „Alter, der hat sich selber ein Loch in den Nagel gemacht – wie das denn?“

„Mit einer heißen Büroklammer.“

„Das soll funktionieren?“

„Ja sicher, ich hab ihm dabei zugeguckt.“

„Krass.“

„Yep.“

„Vergesst es!“, sagte Olli, „ich lass mir doch von euch Stümpern kein Loch in den Nagel brennen!“

„Okay“, sagte Rafael, „das war es dann wohl für heute mit der Probe.“

„Dann könnten wir vielleicht endlich mal die Tüte rauchen, die ich mit so viel Liebe für uns gedreht habe“, sagte Mike.

„Boah, habt ihr sie noch alle?“ Carsten sah ungläubig in die Runde. „in drei Tagen ist der Auftritt; wir können maximal noch ein Mal proben – wir können jetzt nicht aufhören!“

Mike ließ sich auf das Sofa fallen und griff nach der Tüte.

„Nur weil du morgen unbedingt Fussball gucken willst, brauchst du heute nicht so rumzustressen“, sagte er.

Carsten sah fassungslos in die Runde.

„Alter, es geht hier nicht um irgendein Fussballspiel – der BVB steht im Champions League-Finale: ist euch eigentlich klar, was das heißt?“

„Ist mir scheißegal“, sagte Mike, „ich interessiere mich nicht für Fussball.“

Rafael setzte sich neben Mike aufs Sofa und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Mensch Mike, jetzt versetz dich doch mal an Carstens Stelle – wenn jetzt statt Fußball die Skate-Weltmeisterschaften im Fernsehen übertragen würden…“

Mike sah immer unzufriedener aus. „Die werden aber nicht übertragen, zumindest nicht in bei ARD und ZDF. Da brauchst du schon alle Kabelsender, wenn du die gucken willst, das können wir uns zuhause nicht leisten…“

„Der BVB hat doch eh keine Chance gegen Turin“, fiel Olli ein.

„Ach, ihr habt doch keine Ahnung“, sagte Carsten, schnallte die Gitarre ab und wollte sie gerade in den Koffer packen.

„Warte“, sagt Olli, „du bist dir wirklich sicher mit der Nadel, Rafael?“

„Hundert pro“, sagte Rafael.

„Okay, scheiß drauf, dann mach.“

„Hat jemand eine Büroklammer?“

„Ich habe eine Sicherheitsnadel“, sagte Arndt.

„Noch besser“, sagte Rafael.

Arndt gab ihm die Sicherheitsnadel, die er als Ersatz für seinen abgerissenen Hosenknopf benutzt hatte. Die Hose war sowieso so eng, dass sie auch ohne Knopf nicht rutschte.

„Wer hat Feuer?“, fragte Rafael.

Mike hielt ihm sein Plastikfeuerzeug hin.

„Warte, ich hab was Besseres“, sagte Olli. Er kramte mit der gesunden Hand in den Taschen seiner Kutte.

„Wenn schon, dann mit Style.“ Er gab Rafael ein Benzinfeuerzeug aus Metall, in das ein Totenkopf und Ollis Initialien eingraviert waren.

„Krass, wo hast du das denn her?“, fragte Carsten. Sie standen jetzt alle im Kreis um Olli herum, der immer noch auf seinem Schlagzeughocker saß.

„Hab ich mir von meinem ersten Azubigehalt gegönnt“, sagte Olli.

„Ach, und ich dachte schon, da wäre eine Frau im Spiel“, sagte Carsten.

Olli schaute auf seinen gequetschten Finger und sagte nichts.

Rafael schützte seine Finger mit einem Brillentuch, während er die Sicherheitsnadel erhitzte. Als sie rot zu glühen begann, sagte er zu Olli:

„Leg deine Hand da drauf!“

„Auf die Snare? Bist du irre? Die saue ich mir doch nicht ein.“

„Von mir aus, dann auf deinen Schoß!“

Olli hatte die Hand kaum auf dem Schoß abgelegt, da fasste Rafael den Zeigefinger und bohrte die glühende Nadelspitze in den Fingernagel.

Olli sog die Luft zwischen den Zähnen ein, verkniff sich aber einen Schrei. Ein dunkler, fast schwarzer Blutstropfen quoll aus dem Loch im Nagel. Rafael wischte den Tropfen mit dem Brillentuch auf und drückte dann noch einmal mit der stumpfen Seite der Sicherheitsnadel auf den Fingernagel. Es kam noch mehr dunkles Blut.

Olli stöhnte erleichtert.

„Boah, ist das schön, wenn der Schmerz nachlässt!“, sagte er.

---

Die nächsten zwei Stunden probten sie konzentriert. Bis auf das Kreator-Cover lief das 5-Song-Set schon ziemlich rund. Arndts Kehlkopf fühlte sich wie eine einzige offene Wunde an. Zuletzt krächzte er mehr, als dass er brüllte, aber die Einsätze stimmten, und die mit möglichst vielen bösen Worten gespickten, entfernt an elisabethanisches Englisch erinnernden Paarreime, die er sich als Texte zu ihren Eigenkompositionen zurechtgezimmert hatte, konnte Arndt mittlerweile auch auswendig. Zeilen wie: „Hark, the living corpses rise up yonder - raise thy splitten cross and bow in wonder!” waren sein ganzer Stolz, und er spürte, dass auch die anderen ihn dafür bewunderten.

Nachdem sie „Extreme Aggression“ wenigstens einmal halbwegs passabel durchgedroschen hatten, fand Mike, es sei jetzt endgültig Zeit für die Tüte auf dem Tisch. Selbst Carsten hatte jetzt keine Einwände mehr.

„Habt ihr schon gehört, dass Motörhead dieses Jahr nach Wacken kommen?“ fragte er mit gepresster Stimme, während er versuchte, den Rauch möglichst lange in der Lunge zu halten. Er reichte die Tüte an Rafael weiter.

„Wacken ist für mich gestorben, seit sie die Onkelz da letztes Jahr haben auftreten lassen“, sagte Rafael.

„Jetzt sag bloß, du glaubst auch, dass das Faschos sind“, sagte Carsten.

„Keine Ahnung, was die sind, aber zu ihren Konzerten kommen auf jeden Fall die falschen Leute“, sagte Rafael.

„Als ob du dir aussuchen kannst, wer zu deinen Konzerten kommt“, sagte Carsten.

„Es kommt schon drauf an, was für Signale du sendest“, sagte Rafael.

„Uihuihuih…“ Mike ließ einen Finger über seinem Kopf kreisen und ahmte eine Sirene nach. Olli bekam einen Lachflash, nach und nach stimmten alle ein. Mike drehte die nächste Tüte.



Irgendwann standen sie draußen am Eingang des Bahnhofsgeländes. Arndt wusste nicht mehr, wie sie dort hingekommen waren. Seine Ohren fiepten trotz der Papierkügelchen immer noch von dem Lärm, den sie veranstaltet hatten. Sie verabschiedeten sich, indem sie die Hände wie zum Armdrücken verschränkten. Mike war der erste, der die Gruppe auf seinem Skateboard verließ. Carsten sah ihm kopfschüttelnd nach:

„Wann rafft der eigentlich mal, dass Metal und Skaten nicht zusammengehen?“

Dann stieg er selbst auf seine Vespa und fuhr davon.

Die anderen grinsten.

„Als ob Vespa fahren und Metal besser zusammengingen“, sagte Rafael.

„Soll ich euch mitnehmen?“, fragte Olli.

Rafael und Arndt sahen einander an, dann in Ollis kaninchenrote Augen.

„Lass ma, vielen Dank“, sagte Rafael, „wir müssen ja in eine ganz andere Richtung.



Ollis Golf II Diesel stotterte ordentlich, bis er ansprang. Olli parkte erstaunlich sicher aus und fuhr dann in perfekt gerader Linie davon.

Rafael und Arndt sahen ihm nach.

„Krass, dass der noch geradeaus fahren kann“, sagte Rafael.

Sie lachten wie über einen gelungenen Witz.



Auf einmal waren sie schon auf halbem Weg zur Bushaltestelle. Immer wieder schien es Arndt, als wüchse das blühende Gebüsch zu ihrer Linken in den Weg hinein, bis er merkte, dass er es war, der vom Weg abkam und in die Büsche lief. Mehrmals hielt er dabei inne und bestaunte die Weißdornblüten, die in der Abenddämmerung von sich aus zu strahlen schienen. Rafael schien keine Notiz von diesen Verirrungen zu nehmen.

„Schon nach neun und immer noch hell“, krächzte Arndt, als er sich erneut im Weiß der Blüten verlor.

„Hast du gerade was gesagt?“, fragte Rafael.

Sie mussten schon wieder lachen.

„Alter, was ist mit deiner Stimme los?“, fragte Rafael.

„Nix, wieso?“ flüsterte Arndt.

„Ey, du übertreibst es auch immer bei den Proben!“

„Quatsch.“

„Ernsthaft, wir brauchen deine Stimme am Freitag, nicht heute!“

„Du klingst schon wie Carsten“, flüsterte Arndt.

„Kann ja sein, aber Carsten hat manchmal auch recht!“

„Ich dachte, du findest Carsten bekloppt.“

„Carsten ist auch bekloppt, aber er kann wirklich gut Gitarre spielen. Und er hat recht, wenn er sagt, dass wir mehr proben und weniger kiffen müssen.“

Sie mussten schon wieder stehen bleiben vor Lachen.

„Sag mal, spielst du eigentlich irgendein Instrument“, fragte Rafael unvermittelt.

„Ein bisschen Klavier, wieso?“

„Ach nur so. Hast du ein Keyboard?“

„Nee.“

„Besorg dir doch mal eins. Wir könnten echt noch ein paar mehr Sounds gebrauchen.“

„Mehr Sounds?“ Arndt sah ihn ungläubig an. „Alter, wir spielen Death Metal - was willst du denn da noch für Sounds reinpacken?“

Rafael stöhnte. „Genau das ist das Problem mit euch Metal-Heinis, ihr seid total engstirnig. Als ob irgendein Prophet verkündet hätte: du darfst nichts spielen, was nicht E-Gitarre, Bass oder Schlagzeug ist!“

„Alter, was redest du da? Ihr Metal-Heinis? Bist du nicht selber einer – und spielst du nicht auch nur Bass?“

„Ja, aber nicht nur mit Euch, zufällig. Ich hab noch zwei andere Projekte, die nichts mit Metal am Hut haben.“

„Wie schön für dich. Dann kannst du ja mit denen „mehr Sounds“ ausprobieren.“

„Ach, vergiss es einfach, war nur eine Idee. Übrigens finde ich, dass du noch an deinen Einsätzen arbeiten musst.“

„Ja, weiß ich“, flüsterte Arndt.

An der Bushaltestelle packte Rafael seinen Walkman aus. Arndt tat es ihm gleich. Die Scheinwerfer strahlten sie bedrohlich an, als der Bus aus der Unterführung kam. Mit gesenkten Köpfen hielten sie dem Busfahrer ihre Monatstickets hin, und der nickte nur, ohne hinzusehen.

Sie fuhren schweigend nebeneinander, Musik auf den Ohren, und überließen es dem Hanf, wohin er ihre Gedanken trug. Am Wittener Busbahnhof trennten sie sich. Rafael fuhr weiter nach Durchholz, wo seine Eltern einen Resthof aufgetan hatten, der ihnen geeignet schien, ihre sechs Kinder großzuziehen, die Vorzüge alter Schaf- und Ziegenrassen kennenzulernen, ungespritztes Gemüse anzubauen und in den seltenen Mußestunden Rudolf Steiner zu lesen. Dort hatte die Band die ersten Male zusammen geprobt; bis Rafaels Mutter ihnen nahegelegt hatte, sich einen anderen Ort zu suchen, weil der Krach Rafaels kleine Geschwister und die Tiere verstörte.

Arndt nahm den 320er nach Rüdinghausen. Dort lebte er seit dem Umzug aus Tübingen mit seinen Eltern, seiner ein Jahr älteren Schwester und seinem kleinen Bruder in einem Reihenmittelhaus, dessen Fassade mit schwarz lackiertem Holz verkleidet war, wie es in den 80er Jahren Mode gewesen war. Das Haus war erst wenige Jahre alt gewesen, als sie einzogen. Die Vorbesitzer hatten sich kurz nach dem Einzug getrennt.

Im Vorgarten begnügte sich seine Mutter damit, die immergrünen Bodendecker in Schach zu halten. Der gärtnerische Ehrgeiz ihrer Nachbarn ging ihr ab. Im Haus sah es anders aus; da konnte sie ihre schwäbische Herkunft nicht verleugnen; Arndts Zimmer bildete die einzige Bastion gegen Staubsauger, Wischmopp und Fensterleder.

Arndt gab sich große Mühe, die Haustür leise zu öffnen, um direkt nach oben in sein Zimmer verschwinden zu können. Er wusste, dass seine roten Augen ihn verraten würden. In der Diele roch es nach dem Zitrus-Duftstein im Gästeklo.

Auf der Wendeltreppe versuchte Arndt, sein ganzes Gewicht auf das Geländer zu verlagern; er stützte sich mit beiden Händen darauf, damit die Holzstufen nicht so laut knarrten. Es war mühsam und dauerte lange, so nach oben zu kommen.

„Was machst du da?“ Johan stand auf dem oberen Treppenabsatz und hatte ihn offenbar während seiner ganzen Turneinlage beobachtet.

Arndt strauchelte vor Schreck und konnte sich gerade auf einer der am lautesten knarrenden Stufen abfangen.

„Boah, was erschreckst du mich so, du kleiner Sack! Warum bist du überhaupt noch wach? Morgen ist Schule.“

„Ich war schon im Bett, aber ich wollte mir noch was zu trinken holen – was ist mit deinen Augen los?

„Wieso?“

„Die sind voll rot.“

„Das ist, weil ich Heuschnupfen habe.“

„Echt? Das wusste ich gar nicht.“

„Geh ins Bett!“

„Lass mich erstmal vorbei, ich hab noch Durst.“

Arndt war erleichtert, als er endlich die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte. Dabei waren die Wände so dünn, dass man trotzdem jedes Geräusch hörte. Er machte kein Licht an, zog nur die engen Hosen aus und legte sich ins Bett.

Wenig später klopfte es an seiner Tür. Er blieb still. Es klopfte nochmal. Er rührte sich nicht. Er erkannte seine Mutter am Geräusch ihrer Pantoffeln auf dem Korkboden, die sich von seiner Tür entfernten.



4.

Als er es das nächste Mal an der Tür klopfen hörte, war es schon hell draußen. Seine Zunge war ein klebriger Brocken in seinem ausgedörrten Mund.

„Arndt? Aufstehen, du musst zur Schule“ Die Stimme seiner Mutter klang durch die leichte Tür so klar, als stehe sie direkt neben ihm am Bett. Arndt tastete nach seiner Hose. Er sprang aus dem Bett, und es wurde ihm so schwarz vor Augen, dass er fast wieder zurückfiel. Er konnte sich gerade noch an der Wandschräge abfangen.

„Arndt?“

Er versuchte zu antworten, bekam aber keinen Ton heraus. Er quetschte sich in seine enge Hose und öffnete die Tür.

Seine Mutter trat einen Schritt zurück. Sie war so viel kleiner als er, mittlerweile.

„Da bist du ja“, sagte sie, „ich wollt grad scho anfange mir Sorge zu mache.“ Wie immer, wenn sie verunsichert war, schwäbelte sie noch mehr als sonst.

„Du musst hier dringend mal lüfte, und zieh dir bitte was Frisches an!“

„Ja, Mama“, flüsterte Arndt, „ich komm gleich.“

Er zog die Tür wieder zu. Hinter der Tür hörte er seine Mutter mit Susanne reden, die es damit vor ihm ins Bad geschafft hatte.

Er öffnete das Fenster. Die klare Luft von draußen bohrte sich wie ein Kristallschwert in den dichten Mief seines Zimmers. Die Kälte ließ ihn schaudern. Er roch den kalten Rauch, der sich in seinem neuen Pullover verfangen hatte. Er hängte den Pullover zum Lüften über das Fensterbrett.

Susanne hatte sich im Bad eingeschlossen. Um aufs Klo zu können, musste Arndt nach unten und am Frühstückstisch vorbei, wo Johan noch im Schlafanzug seine Cornflakes löffelte. Neben Johan saß sein Vater schon im Anzug über eine dichtbedruckte Fotokopie gebeugt und unterstrich mit einem Bleistift einzelne Passagen. Beide ignorierten Arndts Erscheinen auf der Treppe, und er schlurfte grußlos an ihnen vorbei aufs Klo.

„Papa, kannst du am Samstag mit mir ins Kino gehen?“, hörte er seinen kleinen Bruder sagen. Das Haus war so hellhörig, dass er auch noch auf dem Klo jedes Wort verstand.

„Was läuft denn?“ fragte sein Vater. Arndt war sich sicher, dass er dabei nicht von seinem Artikel aufschaute.

„Der neue Film mit Jim Carrey“, sagte Johan.

„Ah.“

„Kannst du?“

„Nein, ich bin bei einem Kongress am Wochenende. Frag Mama.“

„Hab ich schon. Die kann auch nicht.“

Die Klospülung verschluckte den Rest des Gesprächs. Arndt sah sich im Spiegel an, während er die Hände wusch. Die Haare hingen ihm in verknoteten Strähnen in sein blasses Gesicht. Er zählte mindestens drei neue Pickel. Er fing das kalte Wasser aus dem Hahn mit den Händen auf, klatschte es sich ins Gesicht und verrieb es auf seinem Bartflaum. Dann hängte er sich schräg mit dem Gesicht unter den Wasserhahn und trank. Das Wasser strömte in seinen Mund wie ein Fluss, der nach der Trockenzeit in sein Bett aus aufgeplatzten Schlammkrusten zurückkehrt. Er trank und trank, bis es sich schwer und kalt in seinem Bauch anfühlte. Als er sich erneut im Spiegel ansah, war schon etwas Farbe in seine Wangen zurückgekehrt. Im Gästeklo gab es keinen Kamm, also versuchte er mit den Fingern die gröbsten Knoten zu lösen. Noch ein Tag ohne Waschen, und er würde Timo Konkurrenz machen können. Er fingerte ein Haargummi aus der Hosentasche und band sich einen Pferdeschwanz.

Arndt setzte sich an den Frühstückstisch. Aus der Küche kam das vertraute Zischen des letzten Kaffeetropfens aus dem Filter, der auf der Warmhalteplatte verdampfte, als seine Mutter die Kanne aus der Maschine nahm. Oben duschte Susanne immer noch. Das Wasser gurgelte durch das Abflussrohr hinter der Wand.

Seine Mutter blieb vor dem Vater stehen.

„Noch Kaffee, Schätzle?“, fragte sie. Wie sie da so stand, schlank, aufrecht, weiße Bluse, enge Jeans, die Haare frisch frisiert, das Gesicht fertig geschminkt, fragte sich Arndt, ob seine Ahnung doch stimmte, ob sie wirklich etwas mit diesem Doktor Wehner hatte. Wenn, dann war sein Vater selbst schuld, so wenig, wie er sie beachtete.

„Mmmh“, sagte sein Vater. Er unterstrich noch einen letzten Satz, dann sah er endlich auf. „Unfassbar, was Momper für einen Blödsinn über den Ruhraufstand schreibt.“ Er schüttelte den Kopf und legte den Artikel beiseite.

„Dem werde ich Samstag einen einschenken, diesem Revisionisten!“

„Denk an deinen Blutdruck, Jochen!“ Die Mutter strich dem Vater über die Wange.

Dann wandte sie sich Arndt zu:

„Na, was hat denn der Doktor Wehner zu deinem Hals gesagt?“

„Kehlkopfkrebs“, krächzte Arndt.

Alle sahen ihn an.

„Ok, schlechter Witz. Ich muss einfach nur meine Stimme ein bisschen schonen, weiter nix.“

„Vielleicht hat sich auch der Satan persönlich deine Stimme geholt - zum Dank für dein beklopptes Gebrüll!“ Susanne kam die Treppe im rosa Bademantel mit einem Handtuch um den Kopf herunter. Sie schob eine Duftwolke vor sich her.

„Schön, dass du auch schon aus dem Bad kommst“, krächzte Arndt.

Johan sprang auf und spurtete die Treppe hoch ins Bad. Keine drei Minuten später kam er fertig angezogen wieder hinunter, seinen Tornister auf dem Rücken, und verließ das Haus als erster.



Arndt musste rennen, um den letzten Einsatzbus vor Schulbeginn noch zu erreichen. Wie immer quoll der Bus über vor Schülern. Arndt musste sich halb um den Riesentornister eines Fünftklässlers wickeln, damit die Tür noch hinter ihm zuging. Hinten, auf einem der umkämpften Sitzplätze, sah er Luise mit einer Freundin sitzen. Sie schien ihm seltsam unberührt von dem Gedränge um sie her, eine geborene Herrscherin, umringt von niederem Volk. Die Freundin hatte sich ihr zugewandt und erzählte etwas, während Luise weiter nach vorn sah und lächelte. Arndt versuchte krampfhaft, nicht zu ihr zu schauen, ertappte sich aber immer wieder beim Starren. Er hatte keine Ahnung, wie er sich ihr jemals nähern sollte. Wo lernte man sowas eigentlich? Wieso gab es Jungs – und nicht immer die hübschesten – die es einfach drauf hatten, sich für Mädchen interessant zu machen? Von seinen näheren Bekannten taugte keiner als Vorbild: er wollte nicht wahllos auf das Gesetz der großen Zahl vertrauen wie Timo oder Carsten; Andi H. brauchte gar nichts zu machen: die Frauen kamen zu ihm; Mike schien sich überhaupt nicht für Mädchen zu interessieren; Andi T. und Olli stellten sich ähnlich ungeschickt an wie er selbst. Er ging noch einmal alle Bekannten an der Schule, alle Aktivitäten, alle Vorlieben Luises, von denen er wusste, durch und verglich sie mit seinen: sie nur Mädchenfreunde bis auf diesen komischen Markus, der Formationstanz machte und lieber mit Mädchen abhing, er nur die paar durchweg männlichen Anhänger der Alternativkultur, die es an der Schule gab, sie Volleyball, er Basketball, sie Pop, er Metal - Schnittmenge gleich null. Außer dem gemeinsamen Schulweg verband sie wirklich nur der Deutsch-LK. Da war er zwar der erklärte Liebling des Lehrers, aber das machte ihn nicht gerade zum Star bei seinen Mitschülern, auch wenn viele von ihnen dankbar schienen, dass er Herrn Manns Aufmerksamkeit von ihnen abzog.

An der Holzkamp-Gesamtschule, auf halbem Weg in die Stadt, leerte sich der Bus spürbar. Arndt erkämpfte sich einen Platz auf einem Vierer mit Blick nach hinten. Das Sitzpolster war noch warm von seinem Vorgänger. Wenn er jetzt geradeaus schaute, sah er Luise direkt ins Gesicht.

Plötzlich beugte sich Luise zu ihrer Schultasche hinunter, zog einen Collegeblock heraus und fing an etwas zu zeichnen. Das konnte sie gut; Arndt wusste das von den Bildern aus ihrem Kunst-LK, die neben denen von Andi H. in einem der Flure hingen. Nach wenigen Strichen war sie fertig und zeigte ihrer Freundin das Ergebnis. Beide lachten auf einmal übertrieben. Arndt ahnte etwas; er sah schnell aus dem Fenster - plötzlich sehr interessiert an Matratzen-Outlets und Änderungsschneidereien.



4.

Das Basketballtraining war zu Ende. Arndt freute sich noch immer über den Drei-Punkte-Wurf, der ihm kurz vor Abpfiff des Spiels am Trainingsende geglückt war. Obwohl er es nicht gewagt hatte, seine Stimme einzusetzen, um die Aufmerksamkeit seiner Mitspieler zu erregen, hatte Michael ihm mehrere schöne Pässe gegönnt.

Arndt blieb als einziger noch zum Duschen in der Umkleide. Er genoss es jedes Mal, dass hier nicht nach drei Minuten jemand an die Badezimmertür pochte und ihn aufforderte, sich zu beeilen. Und das Wasser blieb auch warm, egal wie lange man duschte. Er massierte sich wieder und wieder die Kopfhaut durch, räkelte sich, fing sogar an, die Mozartsonate zu pfeifen, die er gerade auf dem Klavier übte. Irgendwann hörte er den Hallenwart vor der Tür rumoren und wusste, dass es Zeit war.

Als er aus der Turnhalle kam, bildeten die Pappeln am Sportplatz schon eine schwarze Palisade vor einem feurigen Abendhimmel. Das Fußballspiel im Fernsehen musste bald vorbei sein. Er lief trotzdem noch ans andere Ende der Innenstadt zu Ollis Wohnung, weil er wusste, dass Rafael und Mike zum Fußballgucken dorthin gefahren waren. Ollis Wohnung befand sich in dem selben Haus, in dem auch seine Eltern wohnten, die im Erdgeschoss die „Alte Post“ bewirtschafteten. Olli verdiente sich immer noch ein Zubrot zu seinem Azubigehalt bei ihnen, indem er am Wochenende bis zur letzten Runde hinter dem Tresen stand.

Jetzt, am Mittwoch, hatten sich nur einige Stammgäste um den Fernseher, der über dem Tresen hing, versammelt. Sie folgten gebannt, von gelegentlichen Aufschreien durchbrochen, dem letzten Viertel der zweiten Halbzeit. Arndt lugte durch die geöffnete Eingangstür und versuchte, den Spielstand zu erkennen. Es gelang ihm aber nicht. Er wollte nicht näher heran, um nicht von den Stammkunden in ein Gespräch verwickelt zu werden. Dann musste er eben unvorbereitet zu Olli rein. Der Kneipengeruch verfolgte ihn ins Treppenhaus. Arndt fragte sich, ob die Scheiben auf dem Treppenabsatz schon immer so gelb gewesen waren, oder ob das vom Nikotin kam. In dem Dämmerlicht, das die Scheiben durchließen, kämpften ein paar Wolfsmilchgewächse in Plastiktöpfen um ihr Überleben. Olli wohnte unterm Dach. Arndt hatte nach dem gelungenen Trainingsspiel noch genug Elan, um immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ollis Türklingel klang ähnlich schrill wie die Schulglocke; Arndt erschrak jedes Mal, wenn er sie drückte. Trotzdem musste er mehrere Male schellen, bis Olli endlich aufmachte. Der Dunst, der Arndt entgegenkam, war noch dichter als unten an der Kneipentür. Olli war so groß, und die Decken in der Dachgeschosswohnung so niedrig, dass Arndt immer wieder den Impuls hatte, Olli zu warnen, dass der sich nicht den Kopf stieß. Aber Olli schien die Dimensionen der Wohnung so verinnerlicht zu haben, dass er auch im breitesten Zustand nirgendwo aneckte. Und breit war Olli eigentlich immer, wenn er nicht arbeiten musste. Auch jetzt waren seine Augen klein und rot und sahen durch Arndt hindurch, während er grinsend zur Seite trat, um ihn durchzulassen. Arndt hatte schon Rafaels Fahrrad unten an der Laterne entdeckt, und jetzt sah er Mikes Skateboard im Flur an der Wand lehnen - alles wie erhofft. Rafael und Mike lagen auf Ollis Doppelbett, an dessen Fußende der große alte Röhrenfernseher stand, den Olli samt Eichen-Fernsehtisch von seiner Uroma geerbt hatte. Olli schob sich wieder zwischen die beiden anderen. Rafael begrüßte Arndt mit gespreiztem Zeige- und Ringfinger. Mike starrte angespannt auf den Bildschirm. Arndt blieb vor dem Fernseher stehen und sah nach dem Spielstand.

„Krass, 2:1 für Dortmund - da weiß ich aber, wer gerade voll abgeht beim Public Viewing“, sagte Arndt

„Bis eben stand es sogar 2:0“, sagte Rafael.

„Wer hat die Tore geschossen?“

„Beide Riedle.“

„Krass.“

Arndt hoffte, dass es nicht auffiel, dass er den Namen Riedle noch nie gehört hatte. Erstaunt sah er zu Mike hinüber, der sich an den Nägel kaute.

„Alter, du bist ja voll
dabei - seit wann bist du so geil auf Fußball?“

„Boah, geh aus dem Bild, Alter, ich glaubs nicht! Ich hab um einen Kasten gewettet, dass Turin gewinnt, todsicheres Ding, habe ich gedacht. Wenigstens haben sie gerade den Anschlusstreffer gemacht. Vielleicht komm ich ja doch noch drum herum!“

In diesem Moment erscholl ein kollektiver Schrei aus vielen offenen Fenstern und aus der Kneipe unten. Die Jungen wandten sich wieder dem Bildschirm zu.

„Fuck, 3:1“ rief Mike, „ich kauf maximal Hansa - was anderes kann der sich abschminken!“

„Jetzt freu dich doch mal ein bisschen“, sagte Rafael, „das ist Dortmund, Mann, unsere Nachbarstadt, und die gewinnen gerade die Champions Leage!“

„Ach, scheiß Champions League, weißt du wieviel Geld die dafür kriegen,dass sie so ein bisschen auf dem Rasen herumlaufen? Und wie lange ich für so einen verfickten Kasten Bier malochen muss?“

„Oh, du Armer“, sagte Rafael.



Plötzlich flatterte etwas Schwarzes durch das Zimmer, prallte immer wieder von den Wänden ab und brummte dabei immer panischer.

Mike sprang vom Bett auf und fuchtelte mit den Armen.

„Was ist das? Mach das weg!“

Arndt versuchte dem erratischen Flug des Wesens zu folgen. Endlich landete es neben der riesigen Totenkopfflagge an der Wand über Ollis Bett.

„Krieg dich wieder ein“, sagte Arndt, „ist nur ein Falter.“

„Aber was für einer.“ Rafael war um das Bett herumgegangen und betrachtete den zitternden, fein behaarten Hinterleib des Insekts. „Ich wusste gar, nicht, dass es so große Motten gibt.“

„Ach, das ist noch gar nichts“, sagte Arndt, „ich war mal auf Bali, da fliegen nachts ganz andere Viecher rum.“

Rafael und Mike sahen ihn so seltsam an, dass er sich sofort wünschte, nichts gesagt zu haben. Olli starrte weiter durch den Fernseher hindurch.

Rafael schob seine Brille ein Stück nach unten und sah sich den Falter über die Brille hinweg genau an.

„Krass, der hat einen Totenkopf auf dem Rücken. Und jetzt denkt er wahrscheinlich, deine Flagge ist sein großer Bruder.“

Arndt kam auch näher.

„Sieht wirklich wie ein Totenkopf aus“, sagte er.

„Der ist bestimmt giftig“, sagte Mike.

„Quatsch“, sagte Rafael.

Er stieß den Nachtfalter mit dem Fingernagel an, und der flog sofort wieder in irren Schleifen durch das Zimmer.

„Vielleicht können wir ihn fangen und rausschmeißen“, sagte Arndt.

„Der kommt doch sofort wieder rein“, sagte Rafael.

„Wir könnten das Fenster zumachen“, sagte Arndt

„Das Fenster bleibt offen“, sagte Olli und griff neben sich. Als der Falter sich das nächste Mal zum Ausruhen auf die Wand setzte, ließ Olli mit einer Bewegung, die schneller war, als es ihm irgendjemand in seinem Zustand zugetraut hätte, einen der riesigen Filzpantoffeln, in denen er so gerne durch die Wohnung schlurfte, auf das Tier niedergehen. Ein öliger schwarzer Fleck blieb an der Wand zurück.

„Na endlich“, sagte Mike.

„Boah, bist du widerlich“, sagte Rafael.

„Scheiß-Viecher“, sagte Olli.

„Ey, der hat dir doch nichts getan.“

Arndt war fassungslos. Er hätte Olli am liebsten angeschrien, aber erstens wollte er nicht, dass die anderen mitbekamen, wie es um seine Stimme stand, und zweitens hatte er ein bisschen Angst vor Olli.

„Selbst schuld, wenn er hier reinfliegt“, sagte Olli.

Da ertönte der Schlusspfiff aus dem Fernseher. Draußen wurde gejubelt.

„Fuck“, sagte Mike, „fuck, fuck, fuck, fuck, fuck.” Er verschwand im Flur und kam kurz darauf mit seinen Drehutensilien zurück.



Sie rauchten, während im Fernsehen Gespräche mit Experten über die Fußballsensation liefen - selbst in den Tagesthemen tauchten Bilder von der Siegesfeier in der Dortmunder Innenstadt auf. Die vier lagen kreuz und quer auf Ollis Bett, jeder mit seinem eigenen Film beschäftigt. Als das Schrillen der Türklingel durch das Gespinst aus Hanfrauch und Fernsehgeplapper schnitt, schreckten die drei Gäste hoch, nur Olli blieb unbeeindruckt liegen. Arndt schleppte sich zur Tür. Er hatte kaum die Klinke heruntergedrückt, da taumelte Carsten in die Diele.

„Borussia, wir folgen dir“, grölte Carsten, und stolperte dabei über Mikes Skateboard. Er fing sich noch einigermaßen gekonnt ab, blieb dann aber einfach sitzen und grölte weiter. Arndt war schwindlig. Er hätte sich gerne zurück zu den anderen ins Bett gelegt, wusste aber nicht, wie er an dem grölenden Carsten vor ihm vorbeikommen sollte. Schließlich machte er doch einen Versuch, sich an Carsten vorbeizuschieben, indem er sich an der Wand Halt suchte. Als er es fast geschafft hatte, grapschte Carsten nach Arndts T-Shirt, zog ihn zu sich hinab und zwang ihn, in sein verschwitztes Gesicht zu sehen.

„Hast du das gesehen?“ Carstens Aussprache war feucht und der Bier- und Knoblauchgeruch aus seinem Mund war kaum zu ertragen. „Hast du das gesehen?

„Ja, super Spiel, Carsten.“

„Super Spiel? Alter ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Er äffte Arndt nach: „Super Spiel, super Spiel! – Alter, es war geil, es war endgeil, es war göttlich, verstehst du, die Jungs sind Götter!“

„Ja, du hast recht, und jetzt lass mich bitte los.“

Carsten stieß Arndt von sich weg. „Boah, ihr habt alle so was von keine Ahnung, das ist echt unglaublich. Habt ihr überhaupt jemals in eurem Leben Fußball gespielt?“

„Komm, erzähl es uns nochmal!“, rief Rafael vom Bett aus herüber.

„Was?“, fragte Carsten.

„Erzähl uns nochmal, wie sie dich fast beim BVB genommen hätten, nach dem Probetraining!“, sagte Rafael.

„Arschloch“, sagte Carsten und blieb in der Diele sitzen.
 
Zuletzt bearbeitet:

xavia

Mitglied
Spannende Geschichte. Ich kann mich gut in Arndt hineinversetzen, zittere um das Konzert am Freitag.
Einen Einwand habe ich:
Ollis Wohnung befand sich in dem gleichen Haus
Da würde mir »im selben Haus« besser gefallen.
Ich freue mich schon auf den zweiten Teil.
LG Xavia.
 
Liebe Xavia,
es freut mich sehr zu hören, dass ich die Spannung für dich zumindest schon mal bis zur Hälfte halten konnte. Und danke für die kleine Korrektur, es ist selbstverständlich das selbe Haus:)
Viele Grüße aus dem Pott

Felix
 



 
Oben Unten