Heilversuch

LucieBach

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Vor der Haustür sehe ich viele Mädchen und Frauen. In vorderster Front eine Frau wie ein Baum, hochgewachsen und aufrecht steht sie da.
“Hello, I am Olena.“ Ich nehme alle in den Arm, was sonst soll ich tun? Wir stottern herum, Schulenglisch klebt an unseren Zungen und Olena klaubt sich fremdländisch klingende Englischvokabeln aus dem Mund. Wir setzen uns und Olena beginnt ohne Umschweife zu berichten.

Sie kämen aus einer idyllischen Stadt mit viel Grün. Ihr Name klingt lustig, ich vergesse ihn sofort. Die Familien seien dort benachbart. Als in der Nacht Bomben in die Nachbarhäuser einschlugen und es nebenan brannte, scheuchten die Mütter ihre Kinder in Natalias Auto. Sie flohen in das einige Kilometer entfernte Krankenhaus. Am nächsten Morgen wollten sie zurück, aber ihre Stadt war von russischen Soldaten abgeriegelt worden, niemand konnte mehr hinein oder heraus. In einem Signal-Kanal hieß es, eine Ivanna helfe ukrainischen Familien. So machten sie sich vor drei Tagen auf den Weg hierher. Ihre Ehemänner, Natalias Hund und Olenas Katze mussten sie hinter sich lassen. Auch ihr Hab und Gut blieb zurück, wortwörtlich besitzen sie nur, was sie in jener Nacht am Leibe trugen. Auf dem langen Weg quer durch ihr Heimatland kämpften sie mit anderen Flüchtenden um die letzten Waren in den Supermärkten. Hier ein Paar Schuhe, dort eine Decke und immer wieder Schokoriegel, etwas anderes bekamen sie nicht hinunter. Eine Nacht verbrachten sie in einer ewig währenden Autoschlange an der Grenze zu Polen. Alle schliefen und wenn es ein Stück weiterging, weckten sich die Fahrerinnen gegenseitig: “Come on, girls!“ Natalia fuhr drei Tage und Nächte durch, weil Olena nur mit automatik zurechtkommt. Sie hätten Filme von Zuhause, fällt Olena ein. Wir sehen zertrümmerte Häuser, überall Rauch. Philipp steht auf und beginnt zu kochen. Immerhin umfasst dieser Haushalt nun nicht mehr vier, sondern zehn Personen. In den folgenden Tagen wird er damit beschäftigt sein, Nahrungsmittel heranzuschaffen und in zwei warme Mahlzeiten am Tag zu verwandeln. Für jedes wärmende Essen sind die Familien unendlich dankbar.

Ihre Eltern berichten, russische Kämpfer hätten ihre Panzer in den Blumenbeeten der Vorgärten geparkt, dann seien sie in die Häuser marschiert und hätten die Radios und Fernseher zerschossen. Nun halten sie die Eltern und Freunde als Schutzschild in der Stadt fest, damit die Ukrainer sie nicht beschießen. Olenas Eltern hätten besoffene Russen gehört, die brüllten, dass sie alle töten müssen. Philipp strafft seine Schultern und beginnt den Tisch abzuräumen.

In den nächsten Tagen verwickeln sich die Kinder in kollektive Tollerei, Kreischen ist schließlich international. Unseren Garten verwandelt die wilde Horde in eine pulsierende Oase inmitten des scheintoten Stadtteils. Nur Illya starrt vor sich hin. Schließlich schnappt er sich unseren Fußball und umarmt ihn so fest, als wolle er etwas aus ihm herausquetschen.

Sie sind offen wie Säuglinge, die ihren Müttern nackt auf die Brust gelegt wurden und über keinerlei Abwehrspannung verfügen. Das öffnet auch uns. Wir verschmelzen zu einem zehnköpfigen Wesen und mäandern durch die Gegenwart. Wir essen, reden, essen und schlafen. Die Tage fließen ineinander, uferlos, keiner von uns vermag sie zu zählen. Ich sprenge den Garten mit meiner Liebe, ich versuche zu heilen, obwohl ich ahne, dass dieser Krieg unheilbar ist.

Sie haben schlechte Nachrichten, flüstert Olena. Letzte Nacht hätte eine befreundete Familie mit ihren beiden Kindern versucht, im Auto aus der Stadt zu fliehen. Die russischen Soldaten hätten das Feuer sofort eröffnet. Nur den Vater hätten ukrainische Ersthelfer reanimieren können. Olena versucht, das Weinen zu unterdrücken. Ihr Körper zittert.
“We don´t want the children to see us cry.” Ich umarme sie, doch ihr Zittern wird so stark, dass ich sie lieber loslasse. Philipp und ich treiben sechs Kinder in den Garten, wenigstens weinen sollen die Frauen können.

Wir lesen von Bomben und wir sehen den Rauch, aber der Krieg, von dem die Medien berichten, ist etwas anderes als das, was uns Zuhause erzählt wird. Das hier wäre der Superlativ von Krieg.
„Sowas passiert heutzutage nicht mehr, auch nicht im Krieg“, meint Philipp. Olena erzählt uns viel in diesen Tagen, wir merken nicht mehr, dass es auf Englisch ist. Vergewaltigte Frauen würden sterbend in die Büschen geschmissen werden. Es gebe Gerüchte über Menschensafaris. Philipps Blick wird hart, ich bitte ihn, nach den Kindern zu sehen.

Wir sind fahrig geworden und vergessen ständig, was wir gerade wollten. Tausend Gedanken sausen durch meinen Kopf, keinen denke ich zu Ende. Ob Schock ansteckend ist? Der WhatsApp Status meiner Freundinnen füllt sich mit fröhlichen Urlaubsbildern. Das ukrainische Schiff liegt an unserer Kriegsinsel vor Anker, die Außenwelt schwimmt an uns vorbei. Jemand hat unser Haus in Klarsichtfolie eingewickelt, hier drinnen sind wir einander so nah, dass verschwommen ist, wer wessen Schmerz fühlt. Es klingelt, irritiert öffne ich die Tür, ich werde von der Sonne geblendet. Der Paketmann hinterlässt ein kleines Loch in der Folie. Um hindurch zu klettern, übernehme ich den Einkauf.“ Ehrlich gesagt ist mir scheißegal, ob die Spülmaschinentabs mit oder ohne Entkalker sind, will ich vor einem surrealen Supermarktregal schreien. Meine Prioritäten haben sich verschoben, sie passen nicht mehr her.
„Wenigstens vorbereiten hätte ich uns müssen, damit wir uns hätten abgrenzen können.“ Ich liege auf unserem Bett und weine.
„Man kann sich nicht abgrenzen, wenn man den Krieg ins Haus lässt“, sagt Philipp. Er hat recht. Der Krieg überrollt dich wie ein Panzer.

Eine giftige Masse wabert auf meiner Brust und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Ich recherchiere Trauma-Übertragung, aber ich sehe keine schlimmen Bilder vor einem inneren Auge. Meine eingeschnürte Brust hat keine Existenzberechtigung, ich kann nur nicht aufhören, an den wiederbelebten Vater zu denken.

Nach den Ferien hüpfen wir in unsere alten Leben. Wir gehen zur Arbeit und die Kinder in die Schule.
„Und, wie waren eure Ferien?“, fragt mich die Mutter von Mattis Kumpel.
„Wir haben zwei ukrainische Familien aufgenommen, das ist heftig, aber auch schön.“
„Wir waren im Centerpark, das war auch super.“
Beim Einkaufen treffe ich den Vater von Levins Klassenkameradin. Er hält Smalltalk, aber ich will diese Klarsichtfolie abziehen, die uns von allem trennt.
„In den Ferien haben wir zwei ukrainische Familien aufgenommen“, setze ich an.
„Ich gucke überhaupt keine Nachrichten mehr“, erwidert er.

Olena und ich sitzen in der Küche. Ihre Eltern wurden evakuiert, fällt ihr ein. Auf dem Weg aus der Stadt seien sie an Leichen vorbeigefahren, auch an einer abgetrennten Hand. Zum Glück ist Philipp nicht hier. Ob sie am Nachmittag mit uns Schwimmen gehen, frage ich. Sie würden gerne, lacht sie, aber sie hätten keine Schwimmsachen. Das sind so Sachen, die häufiger passieren. Unsere Einheit ist zerfallen und unsere Welten driften auseinander. Wir leben wieder das Leben einer saturierten Familie und sie das von Flüchtlingen eines Krieges.

Sie besuchen über das Wochenende Natalias Eltern, die nun in der Nähe untergekommen sind. Am Sonntag warnt Philipp mich: „Da ist was in den Medien.“ Am Abend erkenne ich den Namen ihrer Heimatstadt – er betitelt jede Nachrichtenseite. Ich lese die halbe Nacht, zwanghaft sichte ich alle Fotos. Eine Straße voller Leichen, gefesselt, ihre T-Shirts wurden ihnen über die Köpfe gezogen. Zwei Familien, die in ihren Autos auf der Flucht erschossen wurden, tote Frauen in den Büschen. Jedes verdammte Detail aus Olenas Erzählungen finde ich in den Berichten über Butscha. Bisher wurden über hundert tote Zivilisten gezählt, die Spitze eines noch vernebelten Eisberges. Völkermord, Kriegsverbrechen, Genozid – das in Wahrheit Untaufbare hätte unsere ukrainischen Familien treffen können. Stattdessen lieferten sie exklusive Live-Berichte von Augenzeugen. Aus abgeschottetem Kriegsgebiet frei Haus, schneller als die BILD erlaubt. Dieses Unfassbare, das hier seit Wochen sein Unwesen treibt, tragen internationale Journalisten nun ungleichzeitig in die Welt. Ein Stück Klarsichtfolie löst sich und die Außenwelt dockt wieder an.

”In Butscha was a butcher”, begrüßt mich Ala und ich finde den Namen ihrer Heimatstadt nicht mehr lustig. Ich streichle Olenas robusten Rücken, der unter meinen Händen erbebt.

Spätestens jetzt feiert jede gute Geschichte ihren Wendepunkt. Die Geflüchteten bekommen keinen. Auf die Hormonexplosion des Überlebens folgt das Nichts einer unendlichen Geschichte. Der chronifizierte Krieg ist reizlos geworden, nach dem Aufschrei über Butscha suhlen sich die Medien wieder in Corona. Die Welt zuckt ratlos mit den Schultern, bevor sie zurück in ihre kugelsichere Weste schlüpft. Die Geflüchteten aber schweben reglos zwischen den Welten, einem offenen Ende entgegen. Die Geflüchteten aber treiben reglos zwischen den Welten, einem offenen Ende entgegen. Und inzwischen ein ganzes Stück entfernt, da paddeln wir stumm vor uns hin. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben.[1]

[1] In Anlehnung an Ludwig Wittgensteins letzten Satz im Tractatus Logico-Philosophicus 1921: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
 



 
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