Heimkehr

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Frodomir

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Heimkehr

Heute weiß ich es besser. Mutter hätte dich stehen lassen sollen. Draußen vor der Tür. Aber schon saßt du bei uns am Tisch. Ich musterte dich. Hast du mir etwas mitgebracht? Ich sah zwei Kreuze. Eins aus Metall an deiner zerschlissenen Uniform, ein anderes aus Holz, das du in deiner Hand verstecken wolltest. War das mein Geschenk? Ich fragte nach. Du gabst mir eine Ohrfeige. Du schriest irgendetwas von einem erfrorenen Kameraden. Mutter senkte den Kopf. Als ich weinte, schriest du noch lauter. Bis ich stumm wurde. Mutter schickte mich auf mein Zimmer. War ich jetzt ein Mann, weil ich nicht mehr weinen konnte?

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Später schenktest du mir tatsächlich etwas. Ich glaube, Mutter wollte das so. Es war eine Armbanduhr. Ich war unendlich stolz und prahlte damit vor meinen Kumpels. Auf der Rückseite entdeckten wir eine ungeschickt eingeritzte Gravur in einer fremden Schrift. Ich fragte dich nach der Bedeutung. „Irgendein russischer Mist!“, murmeltest du. Dann schriest du wieder urplötzlich los, dieses Mal irgendetwas von Undankbarkeit. Irgendein Ivan wäre für mein Geschenk elendig verreckt und ich würde noch Fragen stellen. Ich rannte auf mein Zimmer. Seit diesem Tag glaube ich an den Tod.

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Bis zu deinem verging mein halbes Leben. Am Ende throntest du in deinem Bett, kleckertest mit Erbsensuppe aufs Laken und kommandiertest Mutter und mich durch unsere Stube. Täglich um zwanzig Uhr regtest du dich über die Nachrichten auf. Nur als sie verkündeten, dass in den Schulen jetzt wieder die fremde Sprache gelernt werden müsste, bliebst du ganz still. Da ergriff Mutter so überraschend wie sanft deine Hand. Dass du sie für einen Augenblick nicht wegzogst, ließ mich nie mehr los.

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Als an der Grenze die ersten Städte brannten, warst du bereits tot. Zu deiner Beerdigung kamen keine Gäste. Nur ein Pfarrer verdiente sich ein paar Münzen. Meine Mutter, die sich ihr Leben lang um dich gesorgt hatte, warf dir deinen Orden mit ins Grab. Dass sie dabei nicht weinte und sogar eigenartig lächelte, ertrug ich nicht. Mich durchfuhr der Impuls, sie zu schlagen und anzuschreien, damit sie die richtigen Gefühle zeigte. Erst später begriff ich, dass sie an deinem Grab zum ersten Mal richtig fühlen konnte.

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Mein Einberufungsbefehl kam mit den Knüppeln der Militärpolizei. Wir fuhren in einem Transportwaggon an die Front. Neben mir saß ein Junge, nicht älter als vierzehn. Er war einer anderen Einheit zugeteilt. Mehr erfuhr ich nicht, er war fast stumm vor Angst. Ich suchte irgendeinen Trost, aber fand auch keine Worte. Als sein Zug absitzen musste, packte er meinen Arm. Ich musste den Augenkontakt vermeiden, um meine Tränen zu unterdrücken. Da nahm ich meine Uhr vom Handgelenk und schenkte sie ihm. Der Junge brachte kein Dankeschön heraus. Ich zeigte ihm die Gravur auf der Rückseite. „Weißt du, was das bedeutet?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Für meinen deutschen Bruder in Dankbarkeit!“ - „Für meinen deutschen Bruder.“
Der Junge wurde unsanft aus dem Abteil gezogen, ich blickte ihm nicht hinterher. Wir fuhren weiter. Nach einigen Kilometern erreichten wir meinen Frontabschnitt. Ich griff in meine Tasche, umklammerte ein altes Holzkreuz und kehrte zurück in den Krieg.
 

wiesner

Mitglied
Hallo Frodomir,

Dir ist ein beachtliches Prosastück gelungen! Ein wenig im Stil an Wolfgang Borchert erinnernd.

Gruß
Béla
 

Ubertas

Mitglied
Hallo Frodomir,

mein kleines Spatzenhirn erinnert sich daran, deine Geschichte bereits gelesen zu haben. Sie gefiel mir schon damals ausgesprochen gut. Jetzt steckt sie auch noch im richtigen Gewand.
Das hast du wunderbar verfeinert.
Dir gelingt in jeder Zeile nicht lediglich Vorstellung, sondern Gefühle auszulösen. Unaufdringlich und dadurch nah.
Großartig ist nur ein Wort.

Lieben Gruß ubertas.
 

Mimi

Mitglied
Lieber Frodomir,

diese Geschichte hat mich tief berührt.
Die schmerzhaften Generationenverstrickungen, die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn und die Weitergabe von Krieg und Trauma über Generationen sind meisterhaft erzählt. Besonders das Detail mit der Uhr und ihrer Gravur finde ich sehr gelungen – ein Symbol für eine Hoffnung, die sich am Ende doch in der nächsten Runde des Krieges verliert. Deine Sprache ist eindringlich, die Bilder bleiben haften.

Ein starker, bewegender Text.

Gruß
Mimi
 

Frodomir

Mitglied
Hallo wiesner,

vielen Dank, dass du meinen Text gelesen hast. Den Bezug zu Wolfgang Borchert hast du gut erkannt, sein "Draußen vor der Tür" hat mich schon während der Schulzeit enorm beeindruckt.

Danke für dein Kompliment und deine Sterne.

Liebe Grüße
Frodomir

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Hallo ubertas,

dein Gehirn scheint viel größer zu sein, als du denkst, denn es hat viel Potenzial für Fantasie. Denn diese Geschichte kannst du noch nicht gelesen haben, da ich sie völlig neu geschrieben habe ;) Aber evtl. hast du auch in der Schule Wolfgang Borchert gelesen und es hat dich daran erinnert.

Ich danke dir jedenfalls herzlich für deine freundliche Bewertung und dafür, dass mein Text in dir etwas ausgelöst hat.

Liebe Grüße
Frodomir

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Hallo Mimi,

auch dir danke ich herzlich für deinen Kommentar. Es berührt mich, dass meine Geschichte dich berühren konnte. Der ein oder andere mag es vielleicht lächerlich finden, aber als ich den Part mit der Uhr geschrieben habe, habe ich geweint wie ein Schlosshund. Irgendwas wollte mit dieser Geschichte auch in mir verarbeitet werden. Und, wenn ich diesen Gedanken noch teilen darf. Ich hatte dabei noch eine Erkenntnis. Ich dachte mir, vielleicht ist es besser, den Frieden zu zeigen, als vor dem Krieg zu warnen.

Ganz herzlichen Dank für deine anerkennenden Worte und deine Bewertung!

Liebe Grüße
Frodomir

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Hallo petrasmiles,

es freut mich sehr, dass dir mein Text zusagt. Möge sein Ende nie wieder eintreten.

Vielen Dank auch für deine freundliche Bewertung.

Liebe Grüße

Frodomir

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Hallo Nika, hallo SilberneDelfine,

ich danke euch herzlich für eure freundlichen Bewertungen.

Liebe Grüße
Frodomir
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Manfred,

ich danke dir für deine Bewertung und dafür, dass du meinen Text empfohlen hast :)

Liebe Grüße
Frodomir
 

Ubertas

Mitglied
Oh Frodomir oh Frodomir, was schwanet mir!
Nach akribisch vorgenommener Detektivarbeit in den Windungen meines Spatzenhirns glaube ich, jetzt die Antwort zu kennen.
Erstens: ich habe deinen Text kurz nach deiner Veröffentlichung gelesen, daher das Text-Dejavu. Zweitens: danach einen ebenfalls inhaltlich sehr guten Beitrag, dem noch die äußere Struktur fehlte, an anderer Stelle. Irgendwann geriet der Spatz in den Ventilator und ich zu felsenfester Überzeugung dank falsch gebildeter Erinnerung.
Ergebnis: Vogelschlag!
Ich bitte um Entschuldigung für entstandene Fragezeichen. Vorsorglich habe ich einen Termin beim Ornithologen vereinbart.
Dein Werk "Heimkehr" hat alle Sterne und Empfehlung verdient!
Ich freue mich für dich.
Lieben Gruß ubertas
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Frodomir,
ich schließe mich dem Lob der Vorschreiber an. Ich frage mich nur, warum du so konsequent das Präteritum benutzt. Für mich liest sich das stellenweise als würde ein eisenbeschlagenes Rad über das Kopfsteinpflaster rumpeln.
Gruß Bo-ehd
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Ubertas,

das klingt, als bräuchte deine Kuckucksuhr ein bisschen Öl. Beim nächsten Friseurbesuch die Kopfmassage dazubuchen und der Laden läuft wieder ;)

Liebe Grüße
Frodomir

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Hallo Bo-ehd,

vielen Dank für deinen Kommentar. Wir scheinen unterschiedliche ästhetische Empfindungen zu haben, denn ersetzte ich das Präteritum durchs Perfekt, vielleicht auch nur an einigen Stellen, würde das dem Stil des Textes meiner Ansicht nach nicht bekommen. Im Präteritum bleibt der Text extrem komprimiert, die Struktur des Perfekts würde diesen Eindruck nur unnötig verwässern und den Text langweiliger machen.

Liebe Grüße
Frodomir
 

Ubertas

Mitglied
Gewiss, gewiss!
Hier könnte ein extra breit grinsendes Smiley stehen, wenn die Verfasserin ein Android Update zulassen würde.
Aber, aber: Heimkehr steht immer noch da und ich kann es wieder lesen! Das freut mich.
Hab WD40 ins Kuckucksuhrenwerk gesprüht.
Lieben Gruß und einen entspannten Abend!
ubertas.
 



 
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