Heißhunger

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VeraL

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Kennen Sie das? Dieses Gefühl, dass Sie einfach nicht anders können? Ich behaupte, dass jeder ihn kennt: Diesen brennenden Heißhunger, der einen an nichts anderes denken lässt. Dann kauft man gläserweise saure Gurken oder wandert um Mitternacht zum Kühlschrank, um das letzte Stück Torte zu verputzen. Manchmal hört dieses Gefühl aber nicht auf. Man muss es wieder und wieder tun. Deswegen sollten Sie mich nicht verurteilen. Ich bin schon genug gestraft, denn ich habe nicht nur meine Gesundheit verloren, auch meine Freunde und das Vertrauen, das man in mich gesetzt hat, sind weg. Wie es dazu kam? Nun, es fing harmlos an.

Ich war neu und am Anfang hatte ich ein schlechtes Gewissen. Mir war klar, dass das, was ich tun wollte, sich nicht gehört für jemanden in meiner Position. Außerdem war es Diebstahl. Als ich sie zum ersten Mal sah, wollte ich es tun. Wochenlang schaffte ich es, mich zusammenzureißen. Aber schnell suchte ich nach Ausreden. Das tut doch jeder mal, dachte ich mir. Außerdem würde es niemand merken. Es sollte eine einmalige Angelegenheit werden. Ich wollte es ausprobieren. Wissen, wie es sich anfühlt, wie es schmeckt. Es war großartig. Alles in mir prickelte. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht alle auf einmal zu verschlingen. Nur eine, sagte ich mir. Es war ein Fehler. Natürlich. Denn jetzt wollte ich dieses Erlebnis wiederholen. Wieder und wieder. Niemand hatte mich verdächtigt, es würde erneut gut gehen. Wenn ich es nur nicht zu oft tat.

Ich setzte mir Grenzen. Ein Mal im Monat würde ich mir eine genehmigen. Das würde nicht weiter auffallen. Ich hielt mich daran. Wirklich. Doch dann merkte eine meiner Nachbarinnen etwas. Sie sagte nichts, sie starrte mich nur wissend an. Sie erzählte es den anderen. Ich hörte, wie die Nachbarn im Waschkeller über mich tuschelten. Ich schämte mich so. Am liebsten wäre ich verschwunden oder hätte etwas gesagt. „Glaubt ihr wirklich, ich würde so etwas tun. Ernsthaft? Beweist das erstmal.“ Oder: „Kommt schon, jeder von euch hat es getan.“ Oder: „Na und? Was geht es euch an? Ihr seid nur neidisch, weil ich mich traue, meine Träume zu leben und ihr nicht.“

Doch ich schwieg und fraß alles in mich hinein. Die Wut auf mich selbst und die Hilflosigkeit. Alle Gefühle drehten sich in mir, der Wirbelsturm wurde größer und wilder. Ich konnte ihn nicht mehr kontrollieren. Je wütender der Wirbelsturm in mir wurde, desto öfter musste ich es tun. Wenn die anderen mich nicht so angeschaut hätten, wäre es nicht so weit gekommen. Aber ihre Blicke wurden immer vorwurfsvoller. Es reichte nicht mehr, es jede Woche zu tun, ich verschlang sie bei jeder Gelegenheit. Es blieb nicht bei einer oder zwei. Manchmal nahm ich drei oder vier. War ich gierig? Vielleicht. Ich habe gehört, dass so etwas vorkommen kann, wenn man nicht genug Liebe bekommt. Ich wurde nie geliebt. Ich sollte nur funktionieren und die gewünschte Leistung auf Knopfdruck erbringen. Wäre ich mehr beachtet worden, hätte ich all das nie getan.

Ich funktionierte überraschend lange. Ich tat, was von mir erwartet wurde, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Feierabend kannte ich nicht. Die Angst, erwischt zu werden trieb mich an. Wenn ich schon ein Dieb war, wollte ich wenigstens bei meiner Arbeit brillieren. Wollte unentbehrlich sein. Natürlich hatte ich Schmerzen. Man kann das nicht exzessiv tun, ohne zu leiden. Irgendwann wurde jede Bewegung zur Qual. Ich konnte das Stöhnen und Ächzen nicht länger unterdrücken. Meine Nachbarn schauten mich selbstgefällig an. Das hat er jetzt davon, dachten sie. Ich sagte mir, ich habe ein wenig Freude verdient, wenn ich schon so leide.

Dann flog ich auf. Ich war zu gierig gewesen, hatte zu viele genommen. Wer außer mir hätte es sein sollen? Wer hätte die Gelegenheit gehabt? Niemand. Sie kam und sah mich gründlich an. Sie fluchte und beschimpfte mich. Dabei war sie selbst mitschuldig. Warum hatte sie sie mir gegeben? Sie musste doch wissen, wie verführerisch das war. Keine Entschuldigung habe ich von ihr gehört. Kein Wort des Dankes für meine Arbeit. Außer dieser klitzekleinen Sache, diesem Fehler, habe ich immer zuverlässig gearbeitet. Es hat mir nichts genutzt. Morgen werde ich abgeholt. Vor aller Augen. Dann ist es endgültig vorbei. Ach ich wünschte, ich könnte es noch ein letztes Mal tun. Es richtig genießen. Aber dazu wird sie es nicht kommen lassen. Auch sonst wird mir niemand eine zweite Chance geben, so kaputt wie ich bin. Und wer will schon einen Trockner, der Socken frisst?
 

aliceg

Mitglied
Hallo VeraL,

also, du kannst in dieser 'Flunker'-Story die Leser mit der Ich-Form hervorragend auf falsche Spuren leiten.

Spannung aufbauen und uns somit zappeln lassen sind weitere Elemente, die vortrefflich gelungen sind.

Mit der Logik darf man's zwar nicht allzu genau nehmen, war wahrscheinlich auch gar nicht beabsichtigt.

Für's Erzählen alleine auch fünf Sternchen von mir!
lg aliceg
 



 
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