Herbsthymne

Markus Veith

Mitglied
Herbsthymne


Der Herbst klemmt mir bunte Geschenke hinter die Sonnenblende.
Ich verspüre Lust, selbst ein Herbst zu sein. Mich unentschlossen umzukleiden, immer wieder andere Farben anzuprobieren. Bis sie mir nicht mehr passen. Bis ich farblich so vollgesogen und bunt ermattet bin, daß ich all die Farbenfülle abstreife, um an ihr nicht zu ersticken.
Stürmisch um die Häuser will ich reiten. Schreiend und jauchzend. In der Geschwindigkeit enttauchen und ertrinken und wieder erleben und aufsteigen, um sogleich alles Weltlich über mich herschwappen zu lassen, und von mir schleudernd zu verachten.
Ach, Herbst. Warum läßt das Volk dich zwischen Kalt und Warm verhungern? Die Menschheit freut sich nicht auf dich. Sie geifert nach den geschenkenden Weihnachten, wo sie Kauftempel stürmen kann - so schnell und so streßfrei wie möglich. Sie freut sich auf die Miseror-Spendentüten, die man stopfen oder übersehen kann, auf straßenrußige Schneemänner und auf die trübe leuchtenden Augen ihrer smog-hustende Kinder, die man dann versorgen kann. Dunkelhäutige Nikoläuse grinsen auf den Grußkarten mit dem jüngsten Familiensproß im Arm. Mit Grüßen an die ganze restliche Sippschaft, deren Abwesenheit man hoffendlich so herbeiführt.
Sie giert nach Krokussen, die durch weiß erdrückte Bachquellen auf bunten Agfacolorfotos hervorbrechen wie eben geschlüpfte Küken. Sie hängt künstliche Blütenbäume und Plastikkarnickel in alle Ecken der Wohnung und seufzt sich warm an der im Stadtpark gekappten Blumenpracht, die klägliche Wurzeln in die heimischen Vasen reckt. Sie leidet den kirchlichen Festen entgegen. Läßt trotzdem nichts "Sündiges" aus. Stopft sich mit Eiern aus, bis ihr Cholesterinspiegel in bedrohliche Bereiche schwindelt und schwört, danach nun wirklich mit den guten Vorsätzen vom Jahresbeginn anzufangen.
Sonnige, warme und hoffendlich bräunende Ferieninseln reißen die Menschenmassen an sich. Füllen sich mit überfüllten Abfülltheken. Das Wetter hat sich - wie gewohnt - artig nach den Wünschen der Menschheit gerichtet. Diese verflucht sie - wie gewohnt - ebenso artig. "Muß das denn wieder so heiß sein?" So bleibt alles beim Alten. Jeder ist zufrieden. Weg vom heimischen Fenster (wo seltsamerweise nie Unterhosen an Wäscheleinen hängen) und doch irgendwie zu Hause. Vor allem hat man die Dunkelbräune erreicht, um glaubhaft beweisen zu können, wie viel man doch von Land und Leuten gesehen hat. Was der Diavortrag 'made in Spain' noch zusätzlich unterstützt.
Ach, mein Herbst. Unter den Jahreszeiten bist du das Aschenputtel, das Schmuddelchen, das nur zu Hochzeiten hinter einem warmen Ofen hervorkommt und sich im goldenen Kleid den Blicken der Menschheit zeigt. Für mich bist du die Jeansjacke unter den Jahreszeiten.
Dem Frost bist du zu dünn und der Wärme bist du zu dick. Du erscheinst trist und unfein. Man zieht dich in Gesellschaft nun mal nicht an. Also genießt man dich mit Freuden und allein. Und doch - erst wenn man dich einige Male er-tragen hat, bist du warm und gemütlich, schleifst und zerrst nicht mehr, sondern läßt dich genießen und versöhnend stimmen. Schmiegst dich - wie ein 'enfant terrible', das Streicheleinheiten benötigt - windig und stürmisch an die Schultern derer, die dich liebgewonnen haben.
Du bist der brave Diener, der der Welt die Tafel deckt, um sie, wenn sie leergegessen ist, wieder abzuräumen. Man bedankt sich zwar, doch flucht man auf dich. Die Rechnung bringt jemand anderes und sie läßt uns kalt erschauern. Das Trinkgeld bekommt noch ein anderer. Der lächelt jedoch nur schön und dekoriert für die nächsten Gäste.
Doch trotz allem Unbenehmen liebst du deine Geschwister.
Brav nimmst du das Zepter der Zeit entgegen und nur widerwillig gibst du es wieder ab, weil du weißt, was folgt. Wir trügerisch sie ist, die kalte Weisheit. Deine Weisheit ist die Warnung.
"Nehmt, was ich euch gebe!" rufen deine Winde. "Nehmt, rafft zusammen, bevor es um euch herum zerklirrt." Doch wer hört? Wer muß denn noch hören? Die Winter sind warm geworden und die Menschen freuen sich auf Kälte, weil mit ihr die Feste und Geschenke kommen. Du hast keine Feste. Dich nimmt nicht einmal die richtige Kälte wahr. Du bist für sie nur die Ungemütlichkeit.
Der junge Spund Frühling. Er ist froh, daß er dich loswird. Nicht nur das: Er ist glücklich, überhaupt nichts mit dir zu tun haben zu müssen. Weit weg von dir und dir doch so nahe, liegt er schläfrig als dein Gegenteil zwischen Kälte und Wärme, freut sich an sich selbst und läßt sich an sich selbst erfreuen, weil während ihm all die wieder lebendig werden, denen du den erholsamen Schlaf gebracht hast.
Und der Sommer? Er verachtet dich. Du machst seine Arbeit zunichte. All die Freude, die Parties, die Flirts und Versprechen, die Erinnerungen und die Urlaubfotos, - alles läßt du unwirklich erscheinen. So, als sei all dies nie gewesen und könne auf diesem Globus auch nie mehr möglich sein. Dein erster Raureif macht den Gedanken, an jenen Stellen im Gras auch mal in der Sonnenwärme geschwitzt zu haben, vollkommen unglaubhaft.
Zumindest der Winter sollte dich mögen; wo du ihm doch eigentlich so ähnlich bist. Mit kalten Fingern Hand in Hand könnte er mit dir gehen. Doch ist er wohl zu weise. Mit seinem hachnäsigen, naseweisen Weiß sieht er dich als einen Vorarbeiter, einen Wegbereiter der wahren Kälte, als Vortrupp, der ihm den Weg ebnet. Du bist für seine Exellenz nur ein Schüler, den er machen läßt, um ihm anschließend zu zeigen was wahre Kälte, was echtes Wintertum bedeutet. Zumindest nicht dein Spätsommer-Matsch-Gemisch. Du bist der Lehrling, der es nach all der Zeit immer noch nicht gelernt hat.
Aber mußt du es lernen? Willst du es lernen?
Dir reicht die Liebe der kleinen Gemeinde, die dich erwartet. Deren Begeisterung du in den windroten, lächelnden Gesichtern und den dunklen, braunen oder grünen Augen siehst. Unsere kalten Nasen halten wir trotz des Schnupfens tief in dich hinein und inhalieren den Duft von bunt-feuchtem Laub. Wir sind die ersten, die dicke Pullover und Handschuhe anziehen, um sie in den Sonnenstrahlen deiner Nachmittage wieder von sich zu legen. Die das vom Windstoß gefällte Laub wie deine weichen Schauer auf sich niederregnen lassen. Du zerrst uns an den mit Freuden zausenden Haaren. Du willst uns mit deiner rauhen Stimme berauschen und singst uns die Ohren rot.
Mit meinem Herbst will ich Liebesgedichte an den Frühling schreiben, an das Gefühl, jemanden nie erreichen zu dürfen. In weißen Aphorismen mit ihm über den Winter dikutieren und mit ihm in den warmen Erinnerungen der Sommernächte schwelgen.
Mit ihm will ich das langweilig blaue Himmelseinerlei wolkig schmauchen. Schäfchen auf die große Weide treiben, die bis zum irdischen Horizont reicht, und beobachten, wie sie vom Wind geschoren werden und sich zu Wattefetzen ziehen lassen.
Ich will mir seine Früchte sammeln - Kastanien, Hagebutten, Bucheckern, Kürbisse -, um Tee und Brei aus ihnen zu kochen und im Satz zu lesen, was das Nächste mir bringt. Alles will ich von ihm lernen.
Und einst will ich mich zur Ruhe legen, in meinen Herbst, in der Hoffnung, den Winter zu verschlafen. Und wenn ich im Frühjahr erkranke, so weiß ich, daß ich auf den Herbst warten darf, um in ihm sterben zu dürfen.
Und dann, wenn ich einst tot sein werde, - dann will ich selbst ein Herbst sein.
Und ich werde ein guter Herbst sein.
 

Juni

Mitglied
Hach...

*Nehmt, was ich Euch gebe, rufen Deine Winde*...

...und ich dachte schon, ich bin die Einzige , die das hört.

Wunderschön Markus.
Der Herbst war schon immer meine liebste Jahreszeit, lange bevor ich anfing den grellen lauten Frühling zu mögen.

Juni
 
G

Guest

Gast
Ich habe den Frühling lieber, weil ich mein Geburtstag im Frühling habe. Aber so schön, wie Du den Herbst beschreibst!
 



 
Oben Unten