roughingthepasser
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Wie geht es dir?, hatte ich ihn gefragt, und er hatte, nach einer Sekunde oder auch dreien, Gut gesagt. Dann nochmal Gut, einige Momente später, etwas leiser. Es klang wie eine Frage auf seine eigene Antwort. In die Augen hatte er mir dabei nicht geblickt. Und damit hatte sich das eigentlich auch schon erledigt. Ich hatte ihn abgeholt, wie früher, und wir waren zu dem kleinen Parkplatz am Waldrand gefahren, wo Birken und Eichen die Schotterfläche säumten, wie früher. Es war eine stille Fahrt gewesen, wir hatten uns begrüßt, kein Smalltalk, Schweigen. Ich konnte die Narbe an seinem Handgelenk sehen, als ihm beim Einsteigen der Ärmel seines Sweaters hochgerutscht war. Schillernd rot hatte sie sich von seiner bleichen Haut abgehoben, quer über das dürre Handgelenk. Schnell hatte er sie wieder verdeckt, und ich tat, als hätte ich sie nicht gesehen.
Nun gingen wir Seite an Seite am Wald entlang. Wo der Feldweg von tiefen Furchen durchzogen war, stand noch das Wasser vom Regen der vergangenen Tage. Heute strahlte die Sonne von einem Himmel, an dem sich ein dünner Wolkenschleier gen Horizont zog. Ich machte einen großen Schritt über eine besonders schlammige Pfütze. Jan ging außen herum. Er hatte die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen und ging tonlos neben mir her. Das Schweigen war laut, so laut. Es war warm für die Jahreszeit, der Wind blies einen Wirbel bunter Blätter von den Bäumen und verteilte sie über die für die Wintersaat bereiteten Äcker. Wie buntes Konfetti tanzten die abgestoßenen Blätter durch die Luft, Konfetti in gelb und rot, orange und ocker, siena und lehm. Wie auf einem Kindergeburtstag. Eine Bö erfasste das Laub vor uns, und wir standen in einem Wirrwarr von Farbe und Bewegung und Rascheln und Rauschen. Nur das niemand lachte. Ich schaute ihn von der Seite an. Er hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass nur die Spitze seiner spitzen Nase hervorspitzte. Die Hände hatte er tief in der Bauchtasche seines alten Sweaters vergraben. Er hatte ihn sich vor Jahren gekauft, weil ihm der Schriftzug darauf gefallen hatte. Rebel, stand darauf, in einer Schrift, die wohl an Graffiti erinnern sollte. Nun hing er ihm weit um die hageren Schultern.
Wie geht es dir, wirklich? Warum hast du mich nicht angerufen, bevor du es getan hast? Wie war es in Ansbach? Hätte ich ihn fragen wollen, hätte ich ihn fragen sollen. Doch wir gingen nur stumm nebeneinander her. Ich blinzelte in die Sonne, als aus den Tiefen des Waldes der Schrei eines Vogels durch die Stille des Vormittags zu uns drang. Ich blieb stehen und schaute zwischen Eichen und Buchen, Birken und Eschen, Fichten und Tannen in den Wald hinein. Eine Elster?, fragte ich mich leise und doch so laut, dass er mich hören musste. Er hatte ein paar Schritte weiter angehalten. Eichelhäher, sagte er bloß, ohne sich umzudrehen. Sicher? Klingt für mich wie eine Elster. Er zuckte die Schultern und ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Mit Vögeln kannte er sich aus, Vögel hat er immer geliebt. Der Eichelhäher, der natürlich keine Elster war, rief zum zweiten Mal. Ich schaute auf seinen Rücken, seine hängenden Schultern, schloss kurz die Augen, blickte nach oben. Am Himmel hing wie schwerelos ein Flugzeug, es zog zwei dicke Kondensstreifen hinter sich her. Strahlend silbrig glitzernd warf es die Sonnenstrahlen zurück. Er war genauso weit weg, genauso wenig greifbar wie dieser verdammte Flieger in Gott weiß wie vielen Tausend Metern Höhe. Sprachlosigkeit angesichts des Sprachlosmachenden. Schweigen dort, wo früher Worte waren.
Erschöpft setzte ich mich in Bewegung, die lichter werdenden Bäume wogten leise im Ostwind, ich hatte bald zu ihm aufgeschlossen. Er ging so langsam. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir alles miteinander geteilt. Damals zu Schulzeiten. Sein Vater hatte auch damals schon zu viel getrunken, seine Schwester auch damals schon zu viel experimentiert, mit Gras und Pilzen und Acid. Wir gingen nebeneinander, im Gleichschritt fast, und doch war der Takt ein anderer, wir waren aus dem Takt geraten. Wir hatten uns seltener gesehen, seltener geschrieben, seltener telefoniert. Und wenn wir doch einmal geredet hatten, hatte er mir nicht mehr alles erzählt. Nur noch das meiste. Dann etwas weniger, noch weniger, schließlich nichts mehr. Ich hatte das nicht gewollt, er hatte das nicht gewollt. Neue Arbeit, neue Stadt, neues Umfeld. Ich war beschäftigt gewesen. Zu beschäftigt. Ich hatte über Bekannte erfahren, dass er sich verändert hat in letzter Zeit. Seit wann genau, was heißt in letzter Zeit? Ich wusste es nicht.
Wir gingen nebeneinander her, schweigend. Der Weg machte eine Biegung, an einer rot und gelb leuchtenden Hecke entlang. Stieglitze und Spatzen und Kohlmeisen saßen auf den kahler werdenden Ästen, tirilierten wie im Frühling. Rechter Hand lag der Wald, still und beruhigend. Fünfzig oder sechzig Meter weiter vorne teilte sich der Weg. Der eine Pfad führte zwischen Feldern und Wiesen in die Hügel, der andere zwischen die Bäume. Er blickte auf, wurde langsamer und blieb stehen, schaute auf die Gabelung. Ich wartete, die Sonne wärmte mein Gesicht, der Wind kitzelte meine Nase. Er stand reglos da, fast eine Minute lang. Lass uns umkehren, sagte er dann so leise, dass ich die Worte erst für ein Flüstern des Windes gehalten habe. Jetzt schon, wir sind noch nicht mal am – Lass uns umkehren, unterbrach er mich. Bitte. Ich schaute auf die Kapuze, die meinen Freund verbarg, meinen besten Freund, früher. Fragte mich, ob – Die Sonne blendet mich, der Wind ist kalt, und überall diese braunen, toten Blätter. Er drehte sich um und lief los, ohne meine Antwort abzuwarten, ohne mich anzusehen. Wieder schaute ich ihm nach. Wir gingen zurück, wir fuhren zurück, wir verabschiedeten uns. Drei Tage später schrieb er mir eine Nachricht. Er löschte sie jedoch, bevor ich sie lesen konnte. Meinen Anruf hat er nicht angenommen. Auch beim zweiten ein paar Stunden später war sofort die Mailbox dran. Kurz darauf hat er sich wieder die Pulsadern aufgeschnitten, längs diesmal. Niemals denselben Fehler zweimal machen, diesen Satz hat er oft gesagt. Früher.
Nun gingen wir Seite an Seite am Wald entlang. Wo der Feldweg von tiefen Furchen durchzogen war, stand noch das Wasser vom Regen der vergangenen Tage. Heute strahlte die Sonne von einem Himmel, an dem sich ein dünner Wolkenschleier gen Horizont zog. Ich machte einen großen Schritt über eine besonders schlammige Pfütze. Jan ging außen herum. Er hatte die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen und ging tonlos neben mir her. Das Schweigen war laut, so laut. Es war warm für die Jahreszeit, der Wind blies einen Wirbel bunter Blätter von den Bäumen und verteilte sie über die für die Wintersaat bereiteten Äcker. Wie buntes Konfetti tanzten die abgestoßenen Blätter durch die Luft, Konfetti in gelb und rot, orange und ocker, siena und lehm. Wie auf einem Kindergeburtstag. Eine Bö erfasste das Laub vor uns, und wir standen in einem Wirrwarr von Farbe und Bewegung und Rascheln und Rauschen. Nur das niemand lachte. Ich schaute ihn von der Seite an. Er hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass nur die Spitze seiner spitzen Nase hervorspitzte. Die Hände hatte er tief in der Bauchtasche seines alten Sweaters vergraben. Er hatte ihn sich vor Jahren gekauft, weil ihm der Schriftzug darauf gefallen hatte. Rebel, stand darauf, in einer Schrift, die wohl an Graffiti erinnern sollte. Nun hing er ihm weit um die hageren Schultern.
Wie geht es dir, wirklich? Warum hast du mich nicht angerufen, bevor du es getan hast? Wie war es in Ansbach? Hätte ich ihn fragen wollen, hätte ich ihn fragen sollen. Doch wir gingen nur stumm nebeneinander her. Ich blinzelte in die Sonne, als aus den Tiefen des Waldes der Schrei eines Vogels durch die Stille des Vormittags zu uns drang. Ich blieb stehen und schaute zwischen Eichen und Buchen, Birken und Eschen, Fichten und Tannen in den Wald hinein. Eine Elster?, fragte ich mich leise und doch so laut, dass er mich hören musste. Er hatte ein paar Schritte weiter angehalten. Eichelhäher, sagte er bloß, ohne sich umzudrehen. Sicher? Klingt für mich wie eine Elster. Er zuckte die Schultern und ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Mit Vögeln kannte er sich aus, Vögel hat er immer geliebt. Der Eichelhäher, der natürlich keine Elster war, rief zum zweiten Mal. Ich schaute auf seinen Rücken, seine hängenden Schultern, schloss kurz die Augen, blickte nach oben. Am Himmel hing wie schwerelos ein Flugzeug, es zog zwei dicke Kondensstreifen hinter sich her. Strahlend silbrig glitzernd warf es die Sonnenstrahlen zurück. Er war genauso weit weg, genauso wenig greifbar wie dieser verdammte Flieger in Gott weiß wie vielen Tausend Metern Höhe. Sprachlosigkeit angesichts des Sprachlosmachenden. Schweigen dort, wo früher Worte waren.
Erschöpft setzte ich mich in Bewegung, die lichter werdenden Bäume wogten leise im Ostwind, ich hatte bald zu ihm aufgeschlossen. Er ging so langsam. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir alles miteinander geteilt. Damals zu Schulzeiten. Sein Vater hatte auch damals schon zu viel getrunken, seine Schwester auch damals schon zu viel experimentiert, mit Gras und Pilzen und Acid. Wir gingen nebeneinander, im Gleichschritt fast, und doch war der Takt ein anderer, wir waren aus dem Takt geraten. Wir hatten uns seltener gesehen, seltener geschrieben, seltener telefoniert. Und wenn wir doch einmal geredet hatten, hatte er mir nicht mehr alles erzählt. Nur noch das meiste. Dann etwas weniger, noch weniger, schließlich nichts mehr. Ich hatte das nicht gewollt, er hatte das nicht gewollt. Neue Arbeit, neue Stadt, neues Umfeld. Ich war beschäftigt gewesen. Zu beschäftigt. Ich hatte über Bekannte erfahren, dass er sich verändert hat in letzter Zeit. Seit wann genau, was heißt in letzter Zeit? Ich wusste es nicht.
Wir gingen nebeneinander her, schweigend. Der Weg machte eine Biegung, an einer rot und gelb leuchtenden Hecke entlang. Stieglitze und Spatzen und Kohlmeisen saßen auf den kahler werdenden Ästen, tirilierten wie im Frühling. Rechter Hand lag der Wald, still und beruhigend. Fünfzig oder sechzig Meter weiter vorne teilte sich der Weg. Der eine Pfad führte zwischen Feldern und Wiesen in die Hügel, der andere zwischen die Bäume. Er blickte auf, wurde langsamer und blieb stehen, schaute auf die Gabelung. Ich wartete, die Sonne wärmte mein Gesicht, der Wind kitzelte meine Nase. Er stand reglos da, fast eine Minute lang. Lass uns umkehren, sagte er dann so leise, dass ich die Worte erst für ein Flüstern des Windes gehalten habe. Jetzt schon, wir sind noch nicht mal am – Lass uns umkehren, unterbrach er mich. Bitte. Ich schaute auf die Kapuze, die meinen Freund verbarg, meinen besten Freund, früher. Fragte mich, ob – Die Sonne blendet mich, der Wind ist kalt, und überall diese braunen, toten Blätter. Er drehte sich um und lief los, ohne meine Antwort abzuwarten, ohne mich anzusehen. Wieder schaute ich ihm nach. Wir gingen zurück, wir fuhren zurück, wir verabschiedeten uns. Drei Tage später schrieb er mir eine Nachricht. Er löschte sie jedoch, bevor ich sie lesen konnte. Meinen Anruf hat er nicht angenommen. Auch beim zweiten ein paar Stunden später war sofort die Mailbox dran. Kurz darauf hat er sich wieder die Pulsadern aufgeschnitten, längs diesmal. Niemals denselben Fehler zweimal machen, diesen Satz hat er oft gesagt. Früher.
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