Hermanns Akte

Eine Gruppe junger Männer in Tarnanzügen waren auf der Jagd. Es sollte der letzte Ausflug dieser Art sein, denn im März endete die Jagdsaison. Der Wald lag noch unter einer dicken Schneeschicht, nur auf einer baumlosen Anhöhe schmolz der Schnee bereits.
Die Jagdhunde schossen hoch zum Hügel und bellten unaufhörlich, als die Männer die ihnen folgten, oben ankamen entdeckten sie eine Leiche. Vielmehr das, was von der Leiche übrig geblieben war, denn die Tiere hatten das Fleisch bis auf die Knochen abgenagt. Neben den weiß-grauen Knochen lagen Kleidungsstücke verstreut, die vermutlich von dem Toten getragen worden waren. Der Mensch musste, nach der Kleidung zu beurteilen- es war ein Holzfällerhemd, eine grobe Baumwollhose, eine leichte Regenjacke, Sandalen und eine Schildmütze- spätestens im Herbst hier gelandet sein.
Die Jäger riefen die Polizei.

Meine erste und sehr eindrucksvolle Begegnung mit Hermann hatte ich in der ersten Klasse.
Ich saß an diesem Tag allein auf der Schulbank, denn meine Freundin, mit der ich eigentlich zusammen saß, war nicht zum Unterricht erschienen. Kurz vor dem Unterrichtsbeginn plumpste eine übel riechende Gestalt zu mir auf die Bank. Während ich fieberhaft überlegte, wie ich mich verhalten sollte, kam die Lehrerin in die Klasse und forderte uns auf ruhig zu werden und Platz zu nehmen. Hermann machte es sich auf der schmalen Bank bequem, ich dagegen rutschte immer mehr zur Bankkannte hin und war bereit jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen. Der besagte Augenblick war da, als Hermann seelenruhig zwei dicke Läuse aus seinem Haar beförderte, diese auf den Tisch setzte und zum Wettlauf anheuerte.
In wilder Panik lief ich auf die Lehrerin zu. Die Lehrerin befahl Hermann seine Beschäftigung zu unterbrechen, das Ungeziefer ans Messer zu liefern (d.h. mit dem Daumennagel zu zerquetschen) und die Klasse zu verlassen.
Zu Hause wurde ich von Mama, nachdem ich ihr von Hermanns flinken Tierchen berichtet hatte, auf Überläufer untersucht. Zum Glück waren Hermanns Läuse Orts treu geblieben und somit gab Mama Entwarnung.

Hermann fiel das Lernen sehr schwer und er hatte mindestens sechs Jahre die erste Klasse besucht. Sein Vater meinte scherzhaft, dass sein Sohn ein gewissenhafter Schüler sei, er hüpfte nicht einfach aus einer Klasse in die andere , sondern bliebe so lange in einer Klasse bis er alles, aber auch wirklich alles begriffen habe. Und das könne schon mal dauern.
Hermann hatte während seiner gesamten Schulbildung nur so viel begriffen, dass er seinen Namen schreiben und bis 10 zählen konnte. Wenn er allerdings sein Können nur im Fach Musik beweisen hätten müssen, so wäre seine Versetzung zu keiner Zeit in Gefahr gewesen.
Singen konnte er.
Ich musste mal mit ihm das Lied ,,Junger Trompeter`` singen und die Lehrerin war so angetan von unserem Duett, dass sie uns mit einem,, sehr gut´´ nach Hause entließ.

Als Hermann in die Pubertät kam und den Unterricht störte, wurde er von der Schule verwiesen.
Da er aber noch zu jung war, um einer geregelten Arbeit nachzugehen, fing er an in privaten Haushalten zu arbeiten, mal jätete er Unkraut, mal erntete er Kartoffeln, mal waren es Stallarbeiten.
Mit 16 Jahren wurde Hermann in der Kolchose als Hilfsarbeiter eingestellt und da lernte er auch das Schnaps trinken. Jeden Monat, nachdem er seinen Lohn erhalten hatte, zog es ihn in die große Welt hinaus. Seine große Welt war eine Kleinstadt in ca. 100 km Entfernung. War das Geld aufgebraucht, nahm er seine Arbeit wieder auf.

Als Hermann erwachsen wurde, ließ er wieder von sich reden. Und zwar wurde seit Tagen von einem Polizeibeamten berichtet, der die Strecke von uns bis in die Stadt nach Verkehrssündern kontrollierte und hohe Strafgelder kassierte. Auffällig war, dass der Polizist alle Dorfbewohner durchwinkte, aber bei allen anderen Fahrern keinerlei Erklärungen gelten ließ. Eines Tages hatte dieser fleißige Polizist einen Wagen mit einem hohen Beamten angehalten und ein astronomisches Bußgeld verlangt. Als der Beamte den Ausweis des Kontrolleurs sehen wollte, hatte dieser plötzlich die Flucht ergriffen. Woher Hermann seine Uniform hatte, blieb ein Rätsel.

In den 1990 Jahren erreichte eine Auswanderungswelle auch unser Dorf. Hermann reiste mit seinen Eltern nach Deutschland aus und freute sich über sein neues, aufregendes Leben. Aber nach einem Hausverbot in allen im Umkreis von 10 km liegenden Läden, Kneipen, Tankstellen und einem Besuch in der Ausnüchterungszelle, fand er sein neues Leben nicht mehr so aufregend und beschloss Deutschland den Rücken zu kehren. Er zog zu Fuß los und erreichte einen Monat später das Dorf in der Sibirischen Steppe.

Doch auch hier, in seiner Heimat, hatte sich vieles verändert. Um sein Elternhaus herum war eine hohe Mauer entstanden, im Hof bellte ein großer Hund, keiner bot ihm ein Essen an, alles war so fremd geworden. Nachdem Hermann aus der Molkerei, wo er nachts eingestiegen war, einen großen Behälter Rahm mitgehen hatte lassen und zu Geld gemacht hatte, wurden ihm zwei Möglichkeiten aufgezeichnet; entweder er verschwindet ober er kommt in den Knast.

Hermann verschwand. Er verschwand so gründlich, dass sein Vater, der ihn Heimholen wollte, ihn nicht finden konnte. In der Stadt stieg währenddessen die Obdachlosen Zahl um eine weitere Person an.

Hermann klaute, trank und schlief seinen Rausch unter der Brücke aus. Eines Tages, im Winter, wurde er mit starken Erfrierungen vor einer Kirche gefunden. Die frommen Männer, die ihn entdeckten und ins Krankenhaus brachten, kümmerten sich auch nach dem Krankenhausaufenthalt um Hermann. Sie schafften es eine Rente zu beantragen, einen Platz in einer betreuten Wohnung zu bekommen und auch die Betreuung so einzurichten, dass Hermann nur einen Teil seiner Rente zur Verfügung hatte und mit dem Rest des Geldes die Miete, die Kleidung und das Essen bezahlt wurde.
Nun schien das Schicksal es gut mit Hermann zu meinen. Er musste nicht mehr frieren, nicht hungern, hatte nette Leute um sich. Doch seine Lust auf Abendteuer blieb ungebremst, sobald er seine Rente in der Tasche hatte, zog es ihn zum Bahnhof, zu den Menschen, die da in den dunklen, nach Unrat riechenden, Unterführungen hausten.

Als Hermann nach drei Tagen, nachdem er samt Rente zum Bahnhof gegangen war, nicht in seiner Wohnung auftauchte, wurde die Polizei benachrichtigt. Die Männer, mit denen Hermann zur Letzt gesehen wurde behaupten alle samt, Hermann sei noch am gleichen Abend zurück in seine Wohnung gegangen.

Hermann wurde als vermisst gemeldet.



In der Tasche der Regenjacke, die neben der Leiche lag, wurde ein Ausweis gefunden.

Die Akte Hermann wurde geschlossen.
 
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