Hermes, Deal am Straßenrand

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GerRey

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Wenn ich nicht schon am Donnerstag in der Nacht aus Wien anreisen wollte, kam ich meist freitags gegen 10 Uhr vormittags bei unserer Wohnung, die in der Nähe der roten Kirche von Poštorná lag, mit dem Bus an, in den ich am Bahnhof von Břeclav eingestiegen war. Wie üblich auf Reisen passierten auch mir manchmal seltsame Dinge, die dann in der Nacht nicht so angenehm waren. Aber auch am Tag lässt der Gott der Reisenden Hermes seine Schützlinge manchmal nicht ungeschoren davonkommen, war er denn nicht auch der Gott der Diebe und der Redekunst?

Zu den Zeiten, als die Züge noch vom Zoll kontrolliert wurden, fuhr ich öfter mit der letzten Bahn nach Hause, um eine Nacht mehr mit meiner Frau zu verbringen und die anschließende Morgenstimmung mit der Familie zu genießen. Das war schön, den Beginn des Tages gemeinsam zu verbringen, und nachdem meine Frau ins Büro und der Junge in der Schule waren, den Vormittag für mich zu haben. Einmal passierte in der Nacht davor bei der Anreise, eine merkwürdige Begebenheit, die mich eine Weile insgeheim beschäftigte - mehr als ich zugeben wollte!. Ein österreichischer Bursche hatte im Rausch seinen Ausstieg verschlafen und war von einer tschechischen Zollbeamtin, die diesen Teil des Zuges zu kontrollieren hatte, unsanft geweckt worden. Da dieser junge Mann keinen Pass und kein anderes Reisedokument bei sich hatte und dies in meiner unmittelbaren Nähe geschah, bot ich mich an, zwischen ihm und der Zöllnerin zu dolmetschen, soweit es meine bescheidenen Sprachkenntnisse zuließen, die aber dennoch mehr waren als das Aneinandervorbeireden beider Akteure. Ich trat bis auf ausreichende Höhrweite heran, um nicht weiter als nötig ins Geschehen gezogen zu werden. Für den Burschen, der nur schwer zur Besinnung kam, wurde es zunehmend ernster. Die Zollbeamtin war eine schwarzhaarige, schöne Frau, etwa Ende zwanzig, Anfang dreißig. Obwohl ihr Körper füllig war - besonders in ihrer Oberweite - strahlte ihre Strenge eine Erotik aus, die dem Burschen zu imponieren begann.

“Spiel dich nicht mit ihr”, sagte ich zu ihm. “Sie meint, was sie sagt. Du hast nicht das Recht, ohne Pass tschechischen Boden zu betreten. Der Zug wird in Břeclav versperrt. Sie sagt, dass sie dich von der tschechischen Stadtpolizei einsperren lassen, wenn du nicht über Nacht im Zug bleibst und mit diesem morgen früh nach Österreich zurückfährst. Verhalte dich also besser ruhig!”

Er nickte und versprach, keine Blödheiten zu machen. Ich übersetzte das der Zollbeamtin, so gut ich es vermochte, aber diese sah mich nur einen langen Augenblick stumm und ausdruckslos an - was fast schon bedrohlich wirkte - und ging dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, im Zug weiter. Was hatte dieser merkwürdige Blick in dem schönen, ebenmäßigen Antlitz zu besagen? Irgendwie war es ein Zeichen, das eine Veränderung einleitete.

Obwohl ich diese Zöllnerin nie wieder sah, reiste ich anschließend lieber bei Tag aus Wien an, und zu dieser Tageszeit, die man noch mehr dem Morgen als dem Vormittag zurechnen konnte, war es im Bus auch nicht so voll. Nur einige Frühaufsteherinnen schleppten bereits ihre Einkäufe nach Hause, um zeitgerecht mit dem Kochen zu beginnen, weil sie zu Mittag Teile ihrer Familie zum Essen erwarteten. Im Bus unterhielten sie sich in ihrer einfachen Umgangssprache, sodass ich mit meinen mangelnden Tschechischkenntnissen problemlos mitlauschen konnte Meist ging es darin um ihren Alltag und den Wunderlichkeiten, die dieser manchmal zu bescheren vermochte. Diese kurzen Geschichten bereicherten mir das Gemüt, sodass ich gerne mit ihnen einen Teil der Strecke - nur drei, vier Stationen - verbrachte.

Die Bushaltestelle, an der ich aussteigen musste, lag schräg gegenüber des Hauseingangs auf der anderen Straßenseite der “třída 1. máje”, die ich überqueren musste, und dafür wollte ich nicht den weiter weg führenden Teil des Weges bis zur roten Kirche hoch laufen, wo es an der Kreuzung den nächstgelegenen Fußgängerübergang gab. Also schlängelte ich mich hinter dem Bus, der die Station wieder verließ, nachdem ich ausgestiegen war, durch den Verkehr der stark befahrenen “třída 1. máje”, die Poštorná mit Břeclav verbindet und auf der es - schon bei Břeclav - drei gegenüberliegende Supermärkte gibt (unter der Straße fließt auch der Hochwasserkanal am Ortseingang von Postorna durch), um glücklich die andere Straßenseite zu erreichen und von dort nur noch ein paar Meter bis zum Hauseingang zu haben, hinter dem ein kühler und schattiger Gang direkt zu unserer geräumigen Wohnung führte, die L-förmig dem Lärm der “třída 1. máje” auswich und ihre Fenster in eine Nebenstraße und auf einen Innenhof richtete, in dem einstöckigen, alten, aber doch eben frisch renovierten Haus, das in den 20er oder 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts - also noch vor der Kommunistischen Zeit - einst eine Genossenschaftsbank gewesen sein mochte, wie es die stolze Fassadenverzierung, in der sich wahrscheinlich örtlich ansässige Zünfte widerspiegelten, versprach und auch der Dicke der Wände unseres Badezimmers entsprach, das einst ein Tresorraum gewesen sein konnte. So zumindest verstiegen sich unserer Vermutungen, wenn wir bewundernd über das Haus und seinen außergewöhnlichen Stil sprachen.

Bei einer solchen Überquerung der Straße hupte mich einmal ein Auto an, als ich bereits auf der drüberen Seite angekommen war. Verwundert blickte ich mich um. Neben mir hielt ein viertüriger Mercedes mit slowakischem Kennzeichen. Darin 4 Insassen, die wie Zigeuner aussahen. Das Beifahrerfenster öffnete sich.

“Benzinka?” fragte mich der etwa dreißigjährige Mann und grinste mich freundlich an.

Weil mir mehrere Worte der tschechischen Sprache fehlten, um ihm den Weg richtig zu beschreiben, versuchte ich zwischendurch mit Händen, Füßen und Deutsch zu erklären, dass sie aus Poštorná raus und hinter dem Überschwemmungsgebiet rechts die Straße zum Krankenhaus abbiegen müssten, wo am Eck eine “Bezinka” sei.

Plötzlich stieg der Kerl - ein Hühne! - aus und fragte mich, ob ich Geld bei mir hätte. Obwohl die Straße stark befahren war, wurde mir doch etwas mulmig. Schließlich wusste ich nicht, was er noch wollte - nickte aber dann dennoch. Er ging mit mir zum Kofferraum des Mercedes und zeigte mir dann eine Tasche mit einigen Feldstechern aus sowjetischen Militärbeständen, wie ich an den roten Sichel-Hammer-Zeichen, die sich auf den Ferngläsern befanden, erkennen konnte. Dabei deutete er mir an, geschäftsmäßig den Kopf seitlich neigend, wieviel Geld ich ihm für einen Feldstecher geben wollte.

“Zwanzig Euro”, sagte ich. “Mehr habe ich nicht bei mir.”

Da wurde er wütend, tat, als ob ich ihn verscheißern wollte. Für solche Geräte hätte man einen anständigen Preis zu zahlen!

Ich zuckte mit den Achseln.

“Dann eben nicht”, sagte ich und wandte mich wieder dem Gehsteig zu.

“Počkaj, priateľ! Ukáž mi to!”

So schnell waren wir Freunde geworden, dass er jetzt auch noch den Inhalt meiner Geldbörse sehen wollte, in der tatsächlich nur zwei Zehner steckten, weil ich am Bahnhof das Haushaltsgeld für meine Frau bereits in Tschechische Kronen gewechselt hatte und dieses Geld, wie es meine Angewohnheit war, wenn ich schnell weiter wollte, nun in meiner Hosentasche steckte, vor seinen forschenden Blicken verborgen. Filzen würde er mich doch hoffentlich nicht wollen!

Er nahm die zwei Zehner aus der Geldbörse, die ich ihm aufgefächert hinhielt, und beugte sich damit in den Wagenschlag hinein, worauf er sich mit seinen Kumpanen zu beraten schien, weil sie, den Verkehrslärm übertönend, aufgebracht laut wurden, als würden sie wegen des schlecht verhandelten Preises streiten. Im ersten Moment fürchtete ich, der Verhandler wollte zu den anderen ins Auto springen und mit den 20 Euro abhauen, ohne das Sichtgerät herauszurücken! Aber sie blieben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerade und gaben mir, nachdem sie ihr kurzes Streitgespräch beendet hatten, die Ware - nicht ohne mir anzudeuten, welch ein scheiß Geschäft sie wegen mir abgeschlossen hätten und dass ich sie dabei sauber abgezogen hätte, was ja wohl auch - bis zu einem gewissen Grad - stimmte!

Dann fuhren sie los, während ich mit dem Feldstecher nach Hause eilte, um nachzusehen, ob das Gerät auch funktionierte. Ihr übertriebenes Gehabe hatte mich ein wenig misstrauisch gemacht. Aber mit dem Feldstecher ließ sich problemlos ins nachbarliche Badezimmerfenster linsen, und da der Junge in der Schule und und meine Frau in der Arbeit waren, beschäftigte ich mich eine Weile damit, mich nach der drallen Blondine von Gegenüber auf die Lauer zu legen und das neu erstandene Ding einzuweihen. Später, nachdem mich meine Frau mit einem anderen betrogen und ich ein Verhältnis mit einer um 18 Jahre jüngeren, verheirateten Lehrerin begonnen hatte, kam der Feldstecher zu dem Vater meiner neuen Geliebten, der solche Geräte sammelte. Wie ich mochte er die Musik von Jethro Tull gerne und brannte mit seinem Bruder ein höllisches, zwetschkernes Feuerwasser, dem sie selber gern und ausgiebig zusprachen. Da brauchte man dann oft schon eine etwas stärkere Optik, um mit der Umwelt mitzuhalten, wie ich ebenso ausgiebig in Erfahrung bringen durfte.
 

rainer Genuss

Mitglied
Hallo GerRey,
ich freue mich, wieder von dir zu lesen, diese Reisegeschichte faszinierte mich, dann öffnete sich recht abrupt die Abteiltür und ich wurde in Breclav hinausgeschoben, wo ich am Bahnsteig stehend mit noch so viele Fragen zurückblieb: irgendwie versperrt sich mir der rechte Blick auf den roten Faden deiner Heimkehrgeschichten.
Ein Höhepunkt ist der stechende Blick der schönen Zollbeamtin?
Ist das eine Redewendung: "spiel dich nicht mit ihr"?

Dann die Reise deines erluxten, russischen Fernglases?
Das wirkt insgesamt recht ulkig und erfrischend auf mich
Gut unterhalten und rätselnd grüßt
rainer
 

GerRey

Mitglied
Hallo rainer Genuss!

Ich danke dir fürs Lesen und Besprechen.

Nun hätte ich vielleicht wie in einer altgriechischen Tragödie einen Absatz einschieben können, der die Absicht der Götter verrät. Aber das war mir zu unmodern. Eigentlich handelt es sich darum, dass einen die Dinge auch einholen, wenn man ihnen aus dem Weg zu gehen versucht. Den roten Faden weben also die Götter (Hermann Hesse spricht von der goldenen Spur, die einmal an der Oberfläche und ein andermal unterirdisch verläuft). Wir erfahren nur, wohin die Götter führen.

In einem Brief an eine Freundin hatte ich die Geschichte mit dem Feldstecher beschrieben. Als ich später diese Briefnotizen zu einer Geschichte umwandelte, fiel mir die Begebenheit mit dem betrunkenen Burschen und dem rätselhaften Blick der Zöllnerin ein, die ich dann verwenden wollte. Aber wie das zusammenfügen? Zuerst reist er nachts nach Hause - passiert das mit dem Betrunkenen. Dann fährt er lieber bei Tag, um solchen Begebenheiten auszuweichen - und die Geschichte mit dem Feldstecher passiert. Damit naht das Ende. Die Beziehung stand unter keinem guten Stern.

"Spiel dich nicht" ist eine Redewendung aus meinem Wortschatz, der sich durch meine vorstädtische Umgebung gebildet hat - der aber auch in einem weiteren Umkreis des Wienerisch/Österreichischen zu finden sein mag?

Gruß

GerRey
 



 
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