Herr Kunterbunt

Nikolai Crow

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Herr Kunterbunt



Entschuldigt, werte Leser, aber darf ich so frei sein und euch einen kurzen Moment eurer Zeit berauben? Habt ihr eigentlich jemals die Geschichte von Herrn Kunterbunt vernommen? Wenn ihr nun mit einem kurzen, aber dafür ausdrucksstarken Ja antwortet, sage ich nur „Löblich“ und ziehe meinen Hut vor euch. Diejenigen, die meine Frage jetzt vehement verneinen, kann ich getrost beruhigen, denn euch – und all die, die die Geschichte schon kenne und sie trotzdem noch einmal hören wollen – werde ich sie erzählen, diese kleine und dennoch überaus wichtige Fabel, von der man noch das ein oder andere lernen kann.

Vor einigen Jahren, Jahrzehnten oder vielleicht schon Jahrhunderten, lebte ein Mann mit dem Namen Kunterbunt. Wenn ich nur ein einziges Wort für seine Beschreibung verwenden dürfte, wie würde es wohl lauten? Speziell? Vielleicht … Sonderbar? Nein. Diese Worte haben einen viel zu negativen Klang, der den Leuten nur ein schlechtes Bild beschert. Möglicherweise schillernd, denn es wäre nicht gelogen, doch war auch diese Beschreibung viel zu oberflächlich und platt. Am besten wäre das Wort … Individuell? Ja! Individuell bringt es auf den Punkt.

Herr Kunterbunts Haare waren dunkelblau wie das Meer und seine Nägel hübsch lackiert – entweder Neongrün, glänzend Schwarz oder Rosa, was sich je nach Lust und Laune änderte. Wie für einen eleganten Gentleman üblich besaß er natürlich einen Zylinder, auf dem das Symbol eins Totenkopfes prangte und in dem eine große rote Feder steckte, die von einem dunkelblauen Tuch gehalten wurde, das einmal rund um den Hut gewickelt worden war. Passend dazu trug er einen nachtschwarzen Mantel, der bereits mehr als bloß einmal hier und dort geflickt worden war, und eine gelbe Polyesterweste über einem violett gefärbten Hemd, dessen Farbe etwas zwischen Butterkäse- und Quietscheentchen Gelb seien musste. Als Schuhwerk benutze Herr Kunterbunt ein paar alte Latschen, die schon seit Ewigkeiten ausgetreten waren und sich genau deshalb so bequem anfühlten. Zur guter Letzt möchte ich noch von seiner silbernen Taschenuhr reden, die stets an seiner Weste hing und die bei jeder vollen Stunde das Krächzen eines Raben wiedergab, sowie von seinem Gehstock aus reinem Ebenholz, dessen Knauf den Kopf eines östlichen Drachens darstellte.

Dies war die Erscheinung des Herren Kunterbunt, der auf diese Art zu seinem recht ungewöhnlichen – in diesem Fall aber passenden – Namen gekommen war. Eine solch exzentrische Erscheinung bedeutete bestimmt, dass er auch eine nicht minder stark exzentrische Persönlichkeit besaß, oder? Falsch gedacht, meine verehrten Leser und Zuhörer. Der gute Herr Kunterbunt war weder frei von Vorurteilen noch lief er von früh morgens bis tief in die Nacht mit einem Dauergrinsen herum, während er stets die pure Heiterkeit an seine Mitmenschen verteilte, als besäße er sie in einem ungesunden Übermaß. Auch Herr Kunterbunt kannte gute, wie schlechte Tage und besaß eine breite Palette an Gefühlen. Er war nicht anders als wir. Rasende Wut und tiefe Traurigkeit waren ihm nicht fremd, ebenso wenig wie der Schmerz und die Wärme der Liebe oder die belebende Kraft des Frohsinns. Er hatte Ziele und Wünsche, Begierden und Gelüste, Sorgen und Ängste, Träume und Freuden, Stärken und Schwächen.

Nun fragt sich wahrscheinlich manch einer von euch, warum ich überhaupt von diesem Mann mit seinem ulkigen Aussehen und der völlig durchschnittlichen Persönlichkeit, die sich wie Hund und Katze benahmen, erzähle. Was soll denn an Herrn Kunterbunt so besonders sein? Eine durchaus berechtigte Frage, die ich nur allzu gern beantworten will. Offen gesagt, habe ich dies bereits getan, wenn auch recht grob und leicht zu übersehen. Die Rede ist von seiner Individualität, seiner Fähigkeit, er selbst zu sein. Zumindest wäre dies die Antwort in Kurzform, aber ich denke – besonders für alle, die diese Geschichte noch nicht kennen – dass die längere Antwort, wohl die angemessenere Wahl darstellt.

Der gute Herr Kunterbunt lebte in einer Welt der stumpfen Gleichheit, die im völligen Kontrast zu seiner Person stand. Seine Mitmenschen trugen alle denselben makellosen, aber tristen grauen Anzug, zusammen mit der gleichen blutroten Krawatte und den schwarzen Lackschuhen. Dazu hatten alle den gleichen gegelten Scheitelhaarschnitt und zwei graue Augenpaare in einem bleichen Gesicht, die unaufhörlich streng dreinschauten. Diese Aufmachung galt aber nicht nur für die Erwachsenen Männer, meine werten Leser, denn ansonsten wäre es ja keine kollektive Erscheinung. Die Frauen und die Kinder trugen ebenfalls diese Tracht und besaßen diesen Blick. Gemeinsam lebten sie dann als strenge Familie in einem Haus mit Wänden in feinstem eierschalenweiß und grauen Spitzdach – genau wie ihre Nachbarn und die Nachbarn, ihrer Nachbarn und immer so weiter und so weiter.

Es war eine trostlose Welt, wo ein jeder das Spiegelbild des anderen war. Ein langweilig perfektes Weltbild wie aus dem Bilderbuch, das unter einem lauten Klirren zerbrach, sobald Herr Kunterbunt die Bühne betrat. Ein Makel für die Menschen, deren Blicke, in Anwesenheit des ungewöhnlichen Mannes, stets eine Note gestrenger wurden. Missmutig sahen man ihn vollen allen Seiten an, während gehässige Kommentare und Verwünschungen flüsternd über verzogene Lippen tanzten.

Tagein, tagaus, war Herr Kunterbunt diesem Martyrium ausgesetzt und das für viele, viele Jahre, bis es einfach unerträglich wurde. Tapfer hatte er sich gewehrt, doch am Ende musste auch er kapitulieren. Die Worte und Blicke, die ihn zu einem Gebrandmarkten machten, der von der Herde ausgestoßen worden war, hatten ihn schließlich gebrochen und so tat er das einzig augenscheinlich Vernünftige, dass ihm in den Sinn kam: Er passte sich der Masse an.

Seine auffälligen Kleider wichen dem gleichen Anzug seiner Mitmenschen, zusammen mit der gleichen Krawatte, den gleichen Schuhen und denselben gegelten Scheitelhaarschnitt.

Das Einzige, womit Herr Kunterbunt sich schwertat, war der strenge Blick, denn in seinen Augen lag anstelle dessen eine tiefe Traurigkeit, die alle anderen Gefühle überschattete.

So trat der einst individuelle Herr Kunterbunt der gesichtslosen Menge bei, die seine Mitmenschen bildeten. Er wurde zu einem von vielen. Ein weiterer Tropfen im Ozean, ohne Namen und ohne Identität, in der Bedeutungslosigkeit der Gleichheit. Auf diese Weise führte Herr Kunterbunt nun sein weiteres Leben und das über viele Jahre hinweg, wobei auch seine Augen mit Voranschreiten der Zeit stets grauer und strenger wurden, wie ihm eines Tages auffiel.

In einem Spiegel oder vielleicht war es auch nur das Abbild eines anderen Menschen, wurde er sich seines strengen Blickes bewusst und zudem wurde ihm klar, was genau sich dahinter verbarg. Die Strenge in seinen Augen war nur die Fassade, hinter die man nur zu blicken vermochte, wenn man sie selbst sein Eigen nannte. Er war unzufrieden. Nein, das stimmt nicht ganz. Er war nicht nur unzufrieden, sondern unglücklich bis tief ins Mark. Das Unglück war aber nur das Endprodukt seiner Schöpfer: Hass, Trauer und Neid. Er hasst es, wie er aussah, hasste es, wie er sich benahm und hasste, was er dachte. Er hasste sich und er hasste die Welt, die ihn zu dem gemacht hatte, der er nun war. Ein Zustand, der ihn zutiefst traurig machte und ihn in ein tiefes, dunkles Loch hinab zog.

Mit dieser Erkenntnis wurde Herrn Kunterbunt plötzlich einiges klar, denn dieser Blick gehört nicht allein ihm. Es war der Blick, den alle besaßen und die alle dasselbe fühlten. Jeder in dieser Gesellschaft hasste, wer er war, wie er aussah, was er dachte und was er tat. Sie alle hassten und trauerten und waren neidisch beim Anblick derjenigen, die sich weigerten, sich selbst aufzugeben und sich denen in der Masse zu beugen, die zu feige waren, um sie selbst zu sein. Neid und Hass, das waren die Gefühle, die sie verbargen, verleugneten oder ignorierten, bis sie schließlich daran zerbrachen. Denn zum Schluss war dies ihr Schicksal, wenn die letzten Körner vom Sand der Zeit durch ihre Stundengläser rannen und ihnen bewusst wurde, dass ihre letzten Tage angebrochen waren und sie sich wünschten, sie wären sich selbst treu geblieben, um in den Genuss der Glückseligkeit zu kommen.

Ein Schicksal, das Herr Kunterbunt nicht mit ihnen teilen wollte. Er wollte nicht in seinen letzten Atemzügen die grauenhafte Schmach der Reue empfinden, sondern dem Tod mit einem zufriedenen Lächeln gegenübertreten. Wenn missbilligende Blicke, gehässiges Tuscheln hinter vorgehaltener Hand und boshaftes Grienen der Preis dafür war, so würde er ihn gern bezahlen, solange er nur endlich wieder glücklich seien konnte.

In Windeseile kehrte Herr Kunterbunt seinem jetzigen Leben den Rücken und wurde zu dem Mann von einst, der er vor vielen Jahren gewesen war. Der Mann mit den bunten Kleidern, dem Gehstock, Zylinder und ausgetretenen Latschen, in denen er sich endliche wieder wie er selbst fühlte, was seine Seele von einer bedrückenden Last befreite. Er fühlte sich erstarkt und zufrieden, wie schon seit einer geraumen Ewigkeit nicht mehr und wie er auch nie wieder gefühlt hätte, hätte er nicht den Mut gehabt, er selbst zu sein. Es war eben jener Mut, der auch andere dazu inspirierte, ihre Wünsche, Gedanken, Gefühle und Ambitionen nicht länger zu verleugnen und die Ketten, die sie hielten, zu zersprengen.

Herr Kunterbunts Gefühle des Glücks reichten bis ins hohe Alter, ehe er lächelnd und federleicht die Hand des Sensenmannes entgegennahm. Doch sein Ableben, das kann ich euch mit Gewissheit sagen, werte Leser, war kein Grund zu Trauer, denn er starb zufrieden und glücklich, was nur wenige von sich behaupten können.

Was soll uns also das Leben von Herrn Kunterbunt lehren? Die Antwort ist klar und dennoch so unglaublich wichtig, obwohl sie oft vergessen wird. „Sei immer du selbst und steh dazu“, lautet die Antwort, doch lass dich nicht täuschen. Es ist kein Muss so schrullig auszusehen wie Herr Kunterbunt, sondern einfach nur die Person zu sein, die man ist, denn dies ist der Schlüssel für Glück und Zufriedenheit.
 



 
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