Hinter Gittern

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Abends der Weg durch die Stadt Richtung U-Bahnstation Tottenham Court Road. London stinkt unter seiner nebelschweren Dunstglocke aus Abgasen, Fäkalien, Körpergerüchen und Parfüm. Oder duftet die Stadt vielmehr verheißungsvoll? Hinter all den wahrnehmbaren Eindrücken stecken Geschichten und Geheimnisse.
Marlen steigt in das U-Bahngewölbe hinab, viele Gesichter, jedes ein Leben, Gedanken, ein Entwurf. Und wieder bemächtigt sich ihrer die Gedankenfessel mit strikter Gewalt. Der Begriff der Realität beschäftigt sie. Wirklichkeit. Wirklichkeit sei nicht das bloß Gelebte. Das direkt Wahrnehmbare machte den Menschen allein nicht aus. Vielmehr seien Gedanken und Ideen, Vorstellungen und innere Bilder das, was aus der gesellschaftlich definierten Standards zu genügenden Maschine Mensch ein Individuum macht. Die innere Welt ist zwar nicht grenzenlos, jedoch einzigartig.
Die äußere Welt fordert Funktionieren. Marlen kann das leisten, kein Problem. Tottenham Court Road, Doors Closing, Mind the Gap.
Marlen gleitet in den Zug, scannt die Sitzreihen ab, erspäht einen freien Platz, nein, nicht neben dem tätowierten Muskelprotz, der sieht aggressiv aus, dann lieber stehen, angelehnt an die Wand, doch, dort hinten ist noch ein Platz frei, neben der pakistanischen Mutter mit dem Kind.

Die äußere Realität der U-Bahn kennt keine Individualität. Hier regieren Stereotypen, Kategorien für die Einordnung sichern das Überleben.

Erst gestern hat es in einer U-Bahn der Central Line ein Handgemenge angetrunkener Hooligans gegeben, die sich gegenseitig hochschaukelten, bis einer auf die Idee kam, sein Imponiergehabe den anderen gegenüber durch Begrapschen einer jungen Frau zu perfektionieren. Niemand äußerte sich oder mischte sich gar ein. Die anderen Fahrgäste blickten alle konzentriert wahlweise auf ihr Handy, zum Fenster hinaus an die Wand des Tube-Gewölbes, oder an die Decke. So stellte Marlen sich die Situation jedenfalls vor. In der Zeitung stand nur, dass niemand eingegriffen habe. Da die anderen Proleten die Niederlage nicht einstecken wollten, dass nur ihr Kumpel Spaß haben sollte, sondern auch ein Stückchen vom Kuchen abhaben wollten, wurde das Mädchen über kurz oder lang in das Gemenge gezogen, unter grölendem Gelächter hin- und hergeschubst und am ganzen Körper schändlich berührt. Die Szene endete damit, dass das Mädchen apathisch am Boden lag.

Irgendjemand muss am Ende doch die Polizei verständigt haben.

Ob der Mann mit den Tätowierungen ein fürsorglicher Familienvater ist, auf dem Weg nach Hause nach einem langen Arbeitstag? Oder unterwegs ist zu seinem gleichgeschlechtlichen Partner, um mit ihm einen romantischen Spaziergang entlang der Themse zu unternehmen? Unerheblich. Was hier zählt, ist das folgende Narrativ: Muskelprotze sind oberflächlich und respektlos gegenüber Frauen. Ausgeprägte Tätowierungen deuten auf eine niedere Intelligenzstufe sowie ein erhöhtes Gewaltpotenzial hin. Mütter hingegen sind erwartbarerweise fürsorglich und friedfertig. Der Zusatz „pakistanisch“ weist zudem auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe hin. In der Kombination mit dem Attribut „weiblich“ ergibt sich daraus eher eine Opfer-, als eineTäterrolle.

Marlen lässt sich entspannt neben der Frau nieder. Nun kann sie die Fahrzeit nutzen, um endlich ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Doch als sie aufblickt, um ziellos den Blick schweifen zu lassen, wird sie mit Erschrecken der Mauern ihres selbst errichteten Gedankengefängnisses gewahr. Bei genauerer Betrachtung fallen ihr die vielen kleinen Schubladen auf, die über die gesamte Fläche hinweg in die Mauern eingefasst sind, jede Schublade mit einem säuberlich beschrifteten, kleinen weißen Label versehen. Sie versucht, die winzige Beschriftung auf einem der Labels zu entziffern, lässt jedoch schnell wieder von dem Unterfangen ab. Der Inhalt einer jeden Schublade scheint ihr ohnehin vertraut zu sein. Trotz der Enge verspürt sie nun ein angenehmes, geborgenes Gefühl. So fürs Erste darauf eingestellt, auf unbestimmte Zeit in dieser Lage zu verharren, blickt sie vorsichtig durch einen Ausschnitt zwischen den stählernen Gitterstäben vor dem einzigen Fenster, welches ihre Gefängniswelt mit den mannigfaltigen Möglichkeiten an Szenarien in der Außenwelt verbindet. Es dauert einen Augenblick, bis ihre Augen scharfstellen und sie auf der anderen Seite des Gitters etwas sehen kann. Doch dann wird sie Zeugin, wie ein junges Mädchen mit Piercings sich neben den tätowierten Muskelprotz setzt. Sie scheint seine Freundin zu sein. Er legt gerade ganz sanft seinen Arm um sie und seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie schließt die Augen und lächelt versonnen.

Marlen wendet den Kopf ein kleines bisschen und neigt den Körper etwas zur Seite. Ihr Blick kann nun durch den nächsten Ausschnitt des Gitterfensters dringen.
Eine alte Dame mit einem schweren Koffer ist gerade zugestiegen. Der Muskelprotz steht auf, hilft der Dame mit dem Koffer und bietet ihr seinen Platz am Fenster an. Er selbst rutscht nach außen und beginnt angeregt mit der Dame zu plaudern. Marlen verspürt eine leichte Verwunderung, lässt sich jedoch nichts anmerken.

Durch den dritten Ausschnitt sieht Marlen eine äußerst gepflegte junge Frau zusteigen, legeres Businessoutfit, dezent geschminkt, nur die Lippen auffällig rot, glatte, sehr dunkel braun glänzende Haare, am Hinterkopf aufwändig schneckenförmig aufgezwirbelt. Unter den Arm geklemmt trägt sie eine schicke, schwarze Handtasche, an einer Leine folgt ihr geschmeidig ein gräulicher, schmalbeiniger Windhund. Im selben Moment, in dem sie den Muskelprotz im Eingangsbereich sitzend entdeckt, drängt sie sich so strahlend wie rücksichtslos zwischen den nun hilflos an Halteschlaufen baumelnden und sich krampfhaft an Stangen klammernden Fahrgästen hindurch, wirft sich dem Muskelprotz an den Hals, umschlingt ihn eng mit beiden Armen und küsst ihn inbrünstig. Diese Mal kann sich Marlen eines ungläubigen Kopfschüttelns nicht erwehren.

Neugierig bahnt sich ihr Blick einen Weg durch den Zwischenraum zwischen den Gitterstäben unterhalb des zuletzt betrachteten Ausschnitts. Gerade steigt eine junge Frau in Jeans und Sneakers ein, eine Tasche über die Schulter geworfen. Sie setzt sich – was auch sonst – neben den Muskelprotz, strahlt ihn an, er lächelt zurück. Dann öffnet sie ihre Tasche, zieht eine Mappe heraus, der sie einen Stapel bedruckter Blätter entnimmt. Sie wendet sich dem Muskelprotz zu und – was zum Geier? – liest ihm daraus vor! Er wiederum kramt in seiner eigenen Tasche, die neben ihm steht, befördert einen Stift zu Tage, nimmt eines der beschriebenen Blätter entgegen, überfliegt es nochmals und versieht es mit Kommentaren am Rand. Marlen kann es einfach nicht fassen. Sie holt ihre Brille aus der Handtasche, setzt sie sich umständlich auf, prüft, ob sie richtig sitzt. Dann blickt sie nochmals sehr konzentriert durch den Ausschnitt und fixiert das Schriftstück in der Hand des Muskelprotzes. Als ob es nicht schon seltsam genug wäre, dass der Typ überhaupt lesen kann! Und nun auch noch schreiben? Marlen verspürt den unbändigen Drang zu überprüfen, ob es sich bei dem Text tatsächlich, wie es den Anschein hat, um eine akademische Arbeit einer jungen Studentin handelt. Zu gerne hätte sie außerdem gelesen, was der Muskelprotz geschrieben hat, sowie die Qualität des Geschriebenen überprüft (alte Lektorinnenkrankheit). Doch leider sitzen die beiden zu weit weg, ein Umstand, dessen auch die Brille nicht Herr werden kann.

Marlen lässt sich für einen Moment lang in den Sitz zurückfallen. In jäher Erkenntnis wird sie daran erinnert, dass es sich um den Gedankengefängnisstuhl handelt. Er ist spartanisch ausgestattet. Die Lehne, die den Rücken auffangen soll, ist unangenehm hart. Dennoch fühlt sie sich in dieser Position sicher. Sie bleibt einen Augenblick lang so zurückgelehnt sitzen und versucht sich zu entspannen. Dann gewinnt die Neugierde wieder die Oberhand. Marlen macht sich bereit. Sogleich wird sie sich abermals einer Konfrontation mit dem Unbekannten, Unerwarteten, Unwägsamen, Un-Kategorisierbaren aussetzen.
Vorsichtig neigt sie den Oberkörper wieder in Richtung der Gitterstäbe. Dieses Mal visiert sie die unterste Gitterreihe an. Dafür muss sie sich ganz weit nach vorne beugen. Indem sie sich zusätzlich ein wenig zur Seite neigt, gelingt es ihr, durch den letzten Zwischenraum ganz rechts außen zu spähen. Durch den Zwischengang bahnt sich gerade ein junger, pakistanisch aussehender Mann seinen Weg und steuert direkt auf die junge Frau mit Kind zu, neben der Marlen sich vor ein paar Minuten niedergelassen hat. In diesem Stadium bietet die Szene keine Überraschungen. Dass die beiden ein Paar bilden, liegt nahe. Schon rein äußerlich. Beide teilen ihrer Haut- und Haarfarbe, sowie ihrer Physiognomie nach, die pakistanische Abstammung. Auch ihre Kleidung fügt sich geschmeidig ins Bild ein. Sie mutet traditionell an, wenn auch nicht ganz streng, eher mit lässig-modernem Einschlag – eine freiere Interpretation des Shalwar. Doch was dann geschieht, kommt gänzlich unerwartet: Der männliche Part fördert eine abgewetzte, braunlederne Aktentasche zu Tage, von der Marlen zuvor keine Notiz genommen hat. Diese stellt er sorgfältig neben der Frau ab und nimmt ihr sachte das Kind ab, welches zuvor auf ihrem Schoß gesessen hat. Sie macht den Platz frei und nimmt die Aktentasche auf, während er ihren Platz neben Marlen einnimmt. Während dieser Vorgänge und noch indem die Frau sich Richtung Ausgang in Bewegung setzt, findet zwischen den beiden der folgende Dialog statt:

„Da seid ihr ja! Ich dachte schon, ihr wärt in einem anderen Abteil.“

„Mahendra! Gerade noch rechtzeitig! Ich muss gleich aussteigen! Also, pass auf: Sie hat heute so ungefähr um 15 Uhr noch eine Zwischenmahlzeit genommen, etwas Obst und ein paar Kekse.“

„Gut zu wissen. Das war dann nicht so viel, oder? Dann koche ich ihr gleich noch das Daal, für das ich eingekauft habe. Ich mache genügend, um dir davon etwas übrigzulassen. Dann hast du noch etwas Warmes, wenn du später nach Hause kommst.“

„Danke, du bist ein Schatz! Hast du das Referat auf meinem Schreibtisch gefunden?“

„Ja, steckt alles in der Tasche. Ich habe die Karteikarten noch auf Vollständigkeit überprüft und das Tablet geladen. Viel Glück und Erfolg! Du schaffst das! Ich warte zu Hause auf dich!“

„Danke!“, ruft sie inzwischen schon vom anderen Ende des Ganges her und wirft ihm noch eine Kusshand zu, bevor sie kurz im Gedränge des Eingangsbereichs verschwindet und dann draußen auf dem breiten Bahnsteig der Haltestelle Angel wieder auftaucht.
Marlen bleibt nicht viel Zeit, dem Gedanken nachzugehen, dass ein egalitäres Rollenverhalten bei pakistanisch stämmigen Paaren, die sich äußerlich traditionell geben, sehr unwahrscheinlich sei. Als sie ihren Oberkörper aufgerichtet hat, steht ein breitschultriger Mann im Muskelshirt unmittelbar vor ihr. Das schützende Gitterfenster und die sicheren Gefängnismauern scheinen plötzlich verschwunden zu sein. Die nackten Arme und Schultern und auch der Hals des Mannes sind über und über mit Tätowierungen bedeckt. Er lächelt freundlich. „Entschuldigen Sie, gehört das Ihnen? Es lag vor Ihnen auf dem Boden.“ Er sagt dies mit in Marlens Richtung ausgestrecktem Arm. In seinem Handteller, auf dessen Rückseite sie weitere Tätowierungen vermutet, liegt Marlens Handy. Sie erkennt es sofort an der Hülle.

„Oh – ja, danke …“, stammelt sie völlig verdattert und nimmt das Handy schnell an sich. Als sie den Kopf etwas beschämt zur Seite abwendet, erblickt sie einen pakistanisch aussehenden jungen Mann in einem legeren Anzug mit weitem, an einen Shalwar erinnernden Oberteil und einem etwa zweijährigen Mädchen auf dem Schoß.
 
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Matula

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"Tottenham Court Road" ! Wie ich Marlen beneide !
Das Rasterdenken funktioniert auch andersherum: wenn der Serienmörder immer höflich gegrüßt und alten Damen die Einkaufstasche über die Treppe getragen hat ...
 
Ja, so gesehen beneide ich sie auch, möchte unbedingt wieder einmal nach London. Ich finde die Stadt generell sehr inspirierend.
Klar, der Wolf im Schafspelz könnte umgekehrt sicher auch Erzählstoff liefern. Wenn man das weiterspinnt, könnte ihr der vermeintliche Schutz noch zum Verhängnis werden ... Mal drüber nachdenken, was daraus werden könnte ...
 



 
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