Hochbegabt und unterfordert

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rubber sole

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Eigentlich ein unbeschwertes Leben, im Grünen am Rande einer Stadt mittlerer Größe. Unsere Familie lebt zurückgezogen in diesem Stadtteil, zu engeren Kontakten mit anderen Bewohnern kommt es selten. Man ist uns gegenüber höflich, bleibt jedoch auf Abstand. Diese Distanz ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass wir uns von dem dort ansässigen Durchschnitt äußerlich unterscheiden, von dieser hier gelebten Attitüde des gehobenen Mittelstands, sondern man hält unsere gesamte Familie, gerne auch schon mal Die Sippe genannt, allesamt für Versager. Diese Schnösel, was wissen die schon!

Allein der Bezug zu den Biografien meiner Vorfahren spricht dagegen, sie waren alle potentiell begnadete Künstler, und falls andeutungsweise verkrachte Existenzen, dann höchstens aufgrund permanenter Unterforderung. Sicher weiß ich dies über die Vita meines Großvaters väterlicherseits. Dessen herausragende malerische Fähigkeiten hätten unter normalen Umständen in eine bedeutende künstlerische Laufbahn geführt, wurden jedoch durch die Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs zunichte gemacht. Er musste nach Kriegsende seinen Lebensunterhalt als Aushilfskraft in einer kleinen Schildermaler-Werkstatt bestreiten – weit unter seinen künstlerischen Möglichkeiten. Meinem Vater erging es nicht besser. Mit ebensolchen Genen ausgestattet, fristete er sein Dasein als Kriegsheimkehrer aus Weltkrieg II in der Tätigkeit eines ungelernten Anstreichers. In dieser Zeit schwängerte er meine Mutter und führte anschließend den Minibetrieb seines Schwiegervaters, was seiner Begabung nicht im Entferntesten gerecht wurde. Sein Plan, mir als seinen einzigen Sohn die Möglichkeit zu bieten, die familiäre Begabung für die bildende Kunst mit Leben zu füllen, ging letztlich nicht auf. Denn ich sah mich von Anfang an als großen freischaffenden Künstler, für den die Kunstwerkschule einer Erziehungsanstalt glich. Aus dieser stieg ich beizeiten aus und führte das Leben eines Bohemiens, auch was das Liebesleben anging. Vier Kinder von drei Frauen waren das zählbare Ergebnis. Bei einer von diesen blieb ich hängen, und legte alle Kraft in den Werdegang meines Sohnes Golo. Dieser ist mit den erkennbar besten Künstlergenen der gesamten Ahnenreihe ausgestattet. Um dessen Ausbildung fördern zu können, verkaufte ich meine Arbeitskraft deutlich unter meiner kreativen Veranlagung, meistens als unermüdlich körperlich schwer Arbeitender in häufig wechselnden Tätigkeiten. Auf diese Weise wurde ich, nach alter 'Familientradition', der nächste Unterforderte im Sinne der vererbten Begabung.

Und mein Sohn, seine Halbgeschwister sind allesamt in bürgerlichen Berufen erfolgreich, wurde zunächst der Star an einer der führenden Kunsthochschulen der Republik, bis er sich dort unterfordert fühlte und abbrach. Das darauf folgende jahrelange Tingeln als Straßenmaler und begnadeter Kopist durch die Fußgängerzonen Südeuropas verschlug ihn irgendwann auf eine griechische Insel. Hier setzte er seine enorme malerische Begabung um, er konnte sich in dieser Idylle durch das Fälschen weltbekannter Gemälde ein angenehmes Leben ermöglichen. Die Bilder von El Greco, dessen Vorfahren von einer der Nachbarinseln stammen sollen, wurden seine Spezialität, sie gingen in alle Welt. Doch irgendwann erfüllte ihn das reine Kopieren nicht mehr. In seiner Genialität schuf er verschiedene Werke anderer großer Meister, die dadurch auffielen, dass sie besser als das Original waren. Solche Kopien sind durchaus erlaubt, nur dürfen sie dann nicht die Signatur des ursprünglichen Werks aufweisen. Daran hielt mein Sohn sich in seiner Hybris nicht und fälschte das Signum gleich mit; die Folge, er wurde entlarvt.

Durch die andere große Familienbegabung, die ambitionierte Hingabe zum weiblichen Geschlecht, hatte er auf diesem ägäischen Eiland Zugang in die Familie des Bürgermeisters des Orts gefunden. Dieser bewahrte ihn vor einer Haftstrafe wegen Kunstfälschung, allerdings mit der Auflage, die Insel nicht verlassen zu dürfen, und die Kirchen der Region bei Bedarf gratis mit Ikonenmalereien zu bestücken. So wurde er der erste in unserer Familiengeschichte, der einen Win-Win-Deal auf Basis der genetischen künstlerischen Veranlagung zuwege brachte.

Und Golo ist tatsächlich dauerhaft sesshaft geworden. Trotz seiner Unterforderung ist er äußerst erfolgreich. Er wurde auf dieser Insel zu einem bewunderten Ikonenmaler für die Kirchenmalerei des östlichen Mittelmeerraums. In seinem unermüdlichen Schaffensdrang malt er Ikone um Ikone, viele eigene Motive darunter, und falls Kopien fremder Kunstwerke, dann nur mit seiner Unterschrift versehen. Seine Kunstfertigkeit ist inzwischen so einträglich, dass er seiner Familie durch finanzielle Unterstützung das Leben in einem schnöseligen Milieu in einer piefigen Stadt in Deutschland ermöglichen kann. Von wegen alles Versager.
 



 
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