Holunder (2.Teil)

Pinky

Mitglied
In den folgenden Jahren wuchs der kleine Holunder zu einem stattlichen Knaben heran mit hellen Augen und dem seidigsten Haar weit und breit, was allerdings weniger eine Gabe der Natur war als vielmehr daran lag, dass er unter anderem für ein Haarshampoo werben musste, für das Werbespots gedreht wurden und das auf Verkaufsausstellungen und Friseurwettbewerben an ihm präsentiert wurde. Doch auch sonst machte der Bankdirektor gute Geschäfte mit dem jungen Holunder - überhaupt in den ersten Jahren, denn aus unerfindlichen Gründen mochten die Menschen nichts lieber als einen unbeholfenen kleinen Bälger, dem man noch alles vorkauen und wegwischen musste -, und so gelang es ihm, aus seiner einfachen Bank einen gewaltigen Konzern aufzubauen, der den gleichen Namen wie sein Adoptivsohn trug.
Für diesen jedoch war dieses Dasein keineswegs so ungetrübt: Von den anderen Kindern des Bankdirektors getrennt, wuchs er einsam und allein auf, kam nur unter Menschen, wenn er für Werbespots und PR-Auftritte gestylt wurde (wodurch Friseur und Kosmetiker zu seinen engsten Freunden und Vertrauten wurden) und lebte sonst abgeschieden in seinem Dachappartment im höchsten Hochhaus des Landes. So war es auch nicht verwunderlich, wenn in seiner Entwicklung einiges schieflief und er anderen Neigungen frönte als so manche andere Menschen. So legte er sich etwa ein kleines weißes Pudel-Hündchen mit rosa Schleife zur Gesellschaft zu und eröffnete eine Kosmetik-Fernberatung um die langen Stunden des Tages zu vertreiben.
Doch bescherte dieser geradezu unverschämte Erfolg natürlich auch etliche Neider, und auch die seltsamen Neigungen blieben nicht unbeachtet, und so kam es, dass sich der Bankdirektor bald von einer christlich-politischen Fraktion, unterstützt von der medialen Werbeaufsicht, unter Druck gesetzt sah, Holunder nicht mehr länger für Werbeauftritte zu benutzen, sondern ihn von der Öffentlichkeit abzuschotten, damit er nicht als unziemliches Beispiel für die Jugend gelten mochte. Dem Bankdirektor behagte das gar nicht und lange setzte er sich zur Wehr, denn groß waren die Erfolge, die er mit Holunder als Werbeträger für seinen Konzern verbuchen mochte - Fanclubs waren ihm zu Ehren bereits gegründet worden, er war schon lange ein Idol aller Alterschichten und mit den Merchandisingartikeln verdiente sich der Bankdirektor eine nicht zu geringes Zubrot - doch wurde ihm eines Tages der Druck zu groß und er beugte sich der Forderung der christlich-politischen Fraktion und der medialen Werbeaufsicht. So kam es, dass nur kurz darauf das Telefon zu Holunders Appartment abgestellt und der Liftschaft vor dem letzten Stockwerk zugemauert wurde. Nur ein winziger Lastenaufzug verblieb, um den Jungen mit dem Nötigsten zu versorgen. Holunder war eingesperrt im obersten Stock des höchsten Hochhauses des Landes, und alles was ihm blieb, war sein weißes Pudel-Hündchen mit der rosa Schleife und die Kosmetik-Fernberatung.
Die christlich-politische Fraktion und die mediale Werbeaufsicht waren es zufrieden und konnten sich wieder ihren alltäglichen Verantwortungen widmen, und auch die Menschen vergaßen Holunder allmählich, die Fanclubs lösten sich auf, die Merchandisingartikel wurden weniger, bis sie schließlich gänzlich vom Markt verschwanden.
Nur die Leute, die seine Kosmetik-Fernberatung in Anspruch nahmen, behielten ihn in Erinnerung.
So kam es, dass Holunder alleine mit seinem weißen Pudel-Hündchen mit der rosa Schleife im Dachappartment des höchsten Hochhauses des Landes verblieb und in seinen einsamen Stunden traurige Weisen von besseren Zeiten sang.
Doch begab es sich, dass eines Tages ein reicher Plattenproduzent in das Appartment einen Stock tiefer einzog, und als er des Nachts von der herrlich klaren Stimme Holunders aus dem Schlaf gerissen wurde und ihr voll Staunen lauschte, witterte er sogleich eine große Chance. Er trat also hinaus auf den Balkon und blickte empor, woher die Stimme erklang, und hätte er gewusst, wie dieser begnadete Sänger hieß, so hätte er sogleich nach ihm gerufen. So jedoch blieb ihm nur, still zu lauschen.
Als allerdings plötzlich das Telefon klingelte, brach zur großen Enttäuschung des Plattenproduzenten der Gesang ab und Holunder meldete sich mit "Holunders Kosmetik-Fernberatung", und da leuchtete für den Plattenproduzenten ein Licht am Horizont, denn nun kannte er den Namen dieses wunderbaren Sängers. Und sowie dieser seine kosmetischen Ratschläge beendet hatte, rief der Produzent empor:
"Holunder, Holunder, lass deine Feuerleiter herunter!"
Holunder zeigte sich verwundert über diese gar seltsame Aufforderung, doch war er schon viel zu lange alleine gewesen und leistete ihr daher sogleich Folge.
Mit lautem Rattern rauschte die Feuerleiter hinab, doch vernahm dies glücklicherweise niemand (wohl aufgrund der literarischen Umstände - immerhin handelt es sich hier um ein Märchen). Der Plattenproduzent kletterte behende hinauf und als er Holunder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, entbrannte in ihm ein alles verzehrendes Feuer wie er es bisher noch nie verspürt hatte. Zugegeben, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber er war dem hübschen Jüngling mit der herrlichen Stimme durchaus zugetan. Und auch Holunder war nicht abgeneigt.
So war dies nicht der letzte Abend, an dem der Ruf ertönte: "Holunder, Holunder, lass deine Feuerleiter herunter!" und ein lautes Rattern die Antwort war. Sie unterhielten sich Abend für Abend köstlich und der Plattenproduzent erzählte Holunder von der Welt draußen und von den Platten, die er machte, und Holunder dachte an die Zeit, da er noch im Rampenlicht gestanden hatte. So fragte ihn der Plattenproduzent eines Tages: "Holunder, willst du nicht mit mir fortgehen und Platten aufnehmen? Ich bringe dich ganz groß raus!"
Gerne wollte das Holunder tun, denn der Bankdirektor war ein schlechter Vater und ließ sich nur selten blicken, und so beschlossen sie, am nächsten Abend fortzugehen.
Doch war der nächste Tag eine jener seltenen Gelegenheiten, an denen der Bankdirektor zu Holunder kam, um nach ihn zu sehen, und es dauerte nicht lange, da bemerkte er den Geruch von fremdem Aftershave, der in der Luft lag (er hatte einige Übung von zu Hause), und er stellte Holunder daraufhin zur Rede.
Holunder, jung und ungestüm wie er war, bekannte sogleich die ganze Wahrheit und erzählte auch noch in einem Moment aufgebrachter Unachtsamkeit von ihren Plänen. Dies erboste den Bankdirektor verständlicherweise gar sehr und wütend fuhr er Holunder an:
"War ich dir nicht immer ein guter Vater? Habe ich dir nicht immer alles gegeben, was du brauchtest? Und das ist nun der Dank dafür? Hinfort, elender Lump! Aus meinen Augen, und wehe dir, du kehrst wider!"
Damit jagte er den unglücklichen Holunder davon und hinaus in die trostlose Ödnis der Großstadt, wo er sich von Suppe aus der Armenküche und Restaurantabfällen ernähren musste.
Am Abend jedoch, als der Plattenproduzent wie verabredet wieder emporrief: "Holunder, Holunder, lass deine Feuerleiter herunter!", stand oben, ohne dass es der Unselige ahnte, der heimtückische Bankdirektor und ließ, als er den Ruf vernahm, an Holunders Statt die rostige Feuerleiter hinab. Nichtsahnend kletterte der Plattenproduzent empor und staunte nicht wenig, als ihm über das Balkonsims nicht das zauberhafte Gesicht Holunders entgegenblickte, sondern das wutverzerrte des Bankdirektors.
"Du bist es also, der mir den Sohn geraubt hat!" rief er zornentbrannt, "Aber nie mehr wieder sollst du ihn sehen!" Damit riss er dem Plattenproduzenten die Sonnenbrille vom Gesicht und zerbrach und zerstampfte sie. Dann stieß er den entsetzten Mann in die gähnende Tiefe hinab.
Er überlebte den Sturz nur, weil er auf der Markise über dem Eingang des Hochhauses landete.
Verwirrt und hilflos taumelte der Plattenproduzent von nun an durch die Stadt, auf der Suche nach seinem geliebten Holunder, Tag um Tag, Jahr um Jahr, und sein einstiger Glanz verflog, da auch er nun keine höheren Lebensstandard kannte als seine unglückliche Liebe selbst.
Doch vernahm er eines Tages leisen Gesang aus einem Müllcontainer, so traurig und doch so hell und klar, dass der Plattenproduzent sogleich wusste, es konnte nur Holunder sein. Und tatsächlich saß da der gar übel aussehende Jüngling und sang eine traurige Weise von besseren Zeiten.
Und als sie sich sahen, fielen sie sich in die Arme und waren glücklich einander wiedergefunden zu haben, und nie mehr wollten sie sich von einander trennen.
Aber da Holunder noch unmündig war, und Beziehungen solcherart hierzulande nicht gern gesehen waren, und die Musikbranche hier außerdem auf keinem sehr glorreichen Fuße stand, wanderten die beiden nach Amerika aus, wo zwei Verrückte mehr auch nicht auffielen.
Und dort lebten sie bis an ihr

Ende
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Gnade

Sehr schöne Umsetzung. Ich hatte die Gnade der späten Lektüre und konnte so beide Teile hintereinander lesen. Besonders gut gefallen hat mir die Umsetzung von der Blendung durch die Zerstörung der Sonnenbrille des Plattenproduzenten.

Allerdings muß ich ja mal sagen, daß ich die Geschichte mit dem Namensrecht nicht so lustig finde, schließlich habe ich sie am eigenen Leibe erfahren. Es ist nicht lustig wenn man Zimmermann heißt, wovon ja schon in der Bibel steht, daß Jesu Vater auf diese Bezeichnung ein Copyright hat...

Danke für Deinen Beitrag!
 

Pinky

Mitglied
Namenscopyright

Das mit dem Namen kann schon hart sein, allerdings sollte es hier in der Geschichte eher eine Anspielung auf die schwachsinnig Idee jenes Ehepaares sein, das seinem Kind für viel Geld den Namen einer Firma geben wollte (geisterte ja einige Zeit durch die Medien). Aber danke für das Lob.
 
K

Kadra

Gast
Holunder forever ;-)

Hallo Pinky!

Du hast mich nicht enttäuscht! Allein für deinen Beitrag hat sich das Schreibaufgabenthema allemal gelohnt.

Begeisterte Grüße von
Kadra
 



 
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