Hund am Fenster

anbas

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Hund am Fenster

Draußen gießt es in Strömen. Ich stehe am Kopierer unserer Abteilung in der vierten Etage. Mein Blick schweift aus dem Fenster des kleinen Kabuffs. Vor ein paar Jahren konnte man von hieraus noch weit über die Stadt schauen. Inzwischen wurde das gegenüberliegende Haus abgerissen und ein neues gebaut. In ihm befinden sich vor allem Mietwohnungen. Lediglich im Erdgeschoß gibt es ein paar Gewerberäume. Dieses Haus ist höher als das vorherige, so dass ich jetzt nur noch dessen verklinkerte Fassade mit all den Fenstern sehen kann.

Die beiden Gebäude werden nur durch eine schmale Einbahnstraße getrennt. So hat man einen recht guten Blick auf die andere Seite. Allerdings scheinen dort die Fenster eine leichte Verspiegelung zu haben, so dass man nicht weit in die Wohnungen hineinsehen kann. Alle Fenster reichen bis auf den Fußboden. Einige davon haben unten links eine kleine separate Luke, die sich weit öffnen lässt. Und genau in solch einer Luke im vierten Stock entdecke ich einen kleinen weißen Hund. Seine Hinterpfoten stehen auf dem schmalen Fenstersims, die Vorderpfoten innen auf dem Fensterbrett. Es sieht so aus, als würde er sein Hinterteil bewusst in den Regen halten – ein seltsamer Anblick, der mir ein Grinsen ins Gesicht zaubert.

Der erste neue Bewohner, den ich in dem fertiggestellten Haus erblickte, war ein kleiner Junge – wahrscheinlich noch kein Jahr alt. Er krabbelte auf dem Boden vor dem Fenster umher und spielte. Ab und zu versuchte er, sich an einem Stuhl hochzuziehen, der zusammen mit einem kleinen Tisch in Fensternähe stand. Gelegentlich tatschte er auch mit seinen kleinen Händen an die Scheibe des Fensters. Die kleine Klappe war immer gut verschlossen. Trotzdem hatte ich manchmal ein komisches Gefühl, wenn er dort am Boden herumrobbte.

Von den übrigen Bewohnern ist nur selten etwas zu sehen. Mal steht jemand an einem geöffneten Fenster und raucht. Dann erblicke ich jemanden, der durch die Wohnung zu huschen scheint. Aufgrund der Spiegelfenster kann ich die Person aber nur erahnen. Auch eine ältere Dame sehe ich ab und zu. Sie sitzt am Fenster in einem Sessel und liest. Manchmal scheint sie auch irgendwelche Handarbeiten zu machen. Viel Zeit zum Beobachten bleibt mir aber nicht – ich bin schließlich auf der Arbeit und habe nur beim Kopieren oder Scannen die Zeit, um einen Blick auf die andere Straßenseite zu werfen.

Meine letzte Entdeckung vor dem kleinen weißen Hund wohnt ebenfalls in der vierten Etage. Sie sorgte anfangs bei mir für eine leichte Irritation. Es handelte sich nämlich um zwei Männerbeine – und zwar zwei nackte leicht gespreizte Männerbeine, die von den bloßen Füßen bis zu den Knien zu sehen waren. Sie befanden sich unter einem Tisch, der direkt vor dem Fenster stand – ein durchaus gewöhnungsbedürftiger Anblick. Aufgrund der Spiegelung des Fensters war nicht mehr zu sehen. An den ersten beiden Tagen nachdem ich sie erblickt hatte, schienen sie ihre Position und Haltung nicht zu verändern. Meine gelegentlich doch recht lebhafte Phantasie begann schon, verschiedene Szenarien zu entwickeln: Saß da vielleicht ein Toter, dessen Beine sich in den nächsten Tagen langsam verfärben würden? Oder handelte es sich gar nicht um echte Körperteile, sondern um zwei besonders skurrile Tischbeine? Vielleicht war es auch nur Teil einer Schaufensterpuppe oder eines verrückten Designerstückes, das dort so auffällig drapiert worden war?
Doch dann gab es Entwarnung. Die Beine wechselten ihre Position, waren auch mal eine Zeitlang gar nicht zu sehen, und sie verfärbten sich auch nicht. Letztendlich tippte ich auf jemanden, der stundenlang konzentriert im Homeoffice arbeitete.

Hin und wieder tauschen wir Kollegen uns über unsere Beobachtungen aus. So soll im dritten Stock gelegentlich eine recht attraktive junge Frau in Fensternähe sitzen, die sich ihre Fußnägel lackiert.
Die nackten Männerbeine waren natürlich allen aufgefallen. Ich schien aber der einzige gewesen zu sein, der sich weitergehende Gedanken über sie gemacht hatte.

Heute sehe ich nun diesen kleinen weißen Hund, der sein Hinterteil aus dem Fenster zu halten scheint. Wieder fängt mein Kopf damit an, kleine Szenarien und Geschichten zu entwickeln. So könnte sich der Hund vor irgendetwas in der Wohnung erschrecken und dann einen Schritt nach draußen machen. Er stürzt aus dem Fenster, überlebt schwerverletzt, wird von einem jungen Mann gefunden, der die Besitzerin informiert, beide verlieben sich ineinander – oder aber die Frau ist eine Serienmörderin und der junge Mann ihr nächstes Opfer.
Andererseits könnte man auch eine Geschichte aus Sicht des Hundes erzählen. Der einen großen Spaß dabei empfindet, sein Hinterteil in den Regen zu halten, um dann in die Wohnung herumzulaufen und sich kräftig auszuschütteln.

Im Grunde bietet eigentlich alles, was ich in den Fenstern des Hauses auf der anderen Straßenseite sehe, Stoff für eine eigene kleine Erzählung. Doch ich beschließe, zunächst nur einen Text darüber zu schreiben, wie ich während der Arbeit an unserem Kopierer stehe und einen kleinen weißen Hund erblicke, der seinen Hintern aus dem Fenster hält während es draußen in Strömen gießt.
 
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Benn

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in dem sich der Kopierer befindet.
Würde ich weglassen. Den Kopierer hast du schon erwähnt.
Dieses Haus ist höher als das alte,
Das vorherige würde ich schreiben. Denn das Alte gibts nicht mehr.
Hallo Anbas. Deine Geschichte gefällt mir. Warum? Sie ist eine Momentaufnahme mit viel Fantasie. Ein Einblick in deine Gedankenwelt. Es passiert nichts und trotzdem führst du den Leser in dunkle und heitere Bereiche. Sie erinnert mich an das Fenster zum Hof. Alfred Hitchcock. Man könnte wirklich glauben, dass du den ganzen Tag nichts arbeitest und nur Leute beobachtest. Gern gelesen. Liebe Grüße Benn.
 

anbas

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Hallo Benn,

vielen Dank für Deine Rückmeldung.

Ich bin froh, wenn es in der Leselupe auch mal zur konstruktiven Textarbeit kommt. Deine Vorschläge habe ich gerne übernommen. An den ersten beiden Absätze habe ich am meisten herumgewerkelt. So ist das Werk noch etwas besser geworden.

Man könnte wirklich glauben, dass du den ganzen Tag nichts arbeitest und nur Leute beobachtest.
Den Gedanken hatte ich beim Lesen auch :). Tatsächlich war es so, dass ich möglichst für jeden Ausdruck einzeln zum Kopierer gegangen bin, als Ausgleich für das viele Sitzen am Schreibtisch. Seit April diesen Jahres arbeite ich an anderer Stelle. Der Kopierraum ist fensterlos, der Umfang an Kopien höher. Nun kann ich mich manchmal ans Flurfenster stellen während der erste Schwung ausgedruckt wird (noch ein Grund, weshalb ich gegen E-Akten, papierloses Büro usw. bin - man hat noch weniger Bewegung ...:cool:)

Liebe Grüße

Andreas
 

Benn

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Was mir noch gefällt an deiner Story ist, dass du Hemingways Rat in die Tat umzusetzen weißt. Er wurde von einem jungen Mann gefragt, wie er ein guter Schriftsteller werden könne. Hemingway meinte, geh in einen Raum und sie dich um. Komm heraus und beschreibe ihn. Nicht nur was du gesehen hast, sondern wie war die Temperatur? Was hast du gerochen? Was hast du gesehen? Oder wie fühltest du dich und was hast du gedacht? Siehst du, du hast mir Ernest Hemingway an den Kopf geworfen. Das ist klasse. Merci nochmal.
 

anbas

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Hi Benn,

jetzt hätte ich fast Deine zweite Rückmeldung aus den Augen (und dem Sinn) verloren ...

"Ernest Hemingway" ist ein großer Name. Das Zitat von ihm war mir nicht bekannt. Danke, dass Du mich darauf hingewiesen hast! Ich freue mich, dass dieser Text bei Dir so gut ankommt.
 



 
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