Friedrichshainerin
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Broadway
Stunden später. Es ist dunkel geworden. Wen seh ich da den nächtlichen Broadway heraufschlendern. S.Goldstück. Auch er mit von der Partie. Wir warten noch eine Weile auf J.D.Salinger, der hat das Libretto für das Musical über die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" von Fonte geschrieben. Als er eintrifft, gehen wir am Pförtner vorbei, der uns grüßt und mit uns einen langen Gang entlangläuft, der zur Bühne führt.
Der Pförtner, ein Bekannter von J.D, schaltet das Licht an. „Ihr könnt heute aber nur bis morgens um drei proben, dann kommen die Putzfrauen.“ „Hört uns hier wirklich keiner?“, frage ich. „Keine Sorge. Es ist keiner mehr im Haus. Wir sind hier völlig allein. Die Theaterkantine hat zur Coronazeit pleite gemacht.“
Wir gehen in den Zuschauerraum des Theaters. Die Schauspieler trudeln erst nach und nach ein. Samuel Goldstück gibt ein Zeichen mit der Probe anzufangen.
Es erklingt Messias von Händel. „Kriegen wir da nicht Ärger mit beleidigten Gläubigen?“, frage ich. „Da habe ich kein Problem damit, die Musik zu benutzen. Wir haben ja fast keine Mittel. Wusstest du eigentlich, dass die Uraufführung dieses Musikstückes in einem Theater stattfand?“, antwortet Goldi.
Goldstückchen reicht mir eine Liste. „Das sind die Filme, aus denen ich Sequenzen in die Handlung einbauen muss. Das verlangen die Sponsoren. Auf Wunsch von unserem Hauptgeldgeber spielt eine Szene sogar auf dem Mond. „Wie das?“, frage ich.
Antwort von Goldstück: „Wir haben uns das so gedacht. Ein Gutsbesitzer aus der Mark Brandenburg ist ein Sternenfreak und Hobbyastronom.
Eines Nachts träumt ihm, dass er auf dem Mond landet mit seiner selbstgebastelten Rakete. Dort begegnen ihm merkwürdigerweise seine Ahnen wieder, die sonst nur von den Gemälden an den Wänden des Schlosses auf ihn herabblickten.
Bei diesem Bühnenaufzug lassen wir im Hintergrund eine große Mondsichel von der Decke herab. Darauf schaukelt ein leichtgeschürztes Mädchen und schlenkert mit den nackten Beinen.
Ist angelehnt an den Filmpionier Georges Melies und seine „Reise zum Mond“ von 1901. Ein Ausschnitt daraus läuft im Hintergrund. Das wollte der Finanzier, ein Sammler, so haben. In seinem Besitz befinden sich noch die Originale des Films von vor über 100 Jahren. Er läßt sich die Restaurierung einiges kosten. Ich bin davon nicht begeistert. Aber was soll ich machen. Sonst verlieren wir unseren Hauptsponsor.“
Ich: „Aber Fonte lebte doch im Neunzehnten Jahrhundert. Da gab es den Film noch gar nicht.“ „Das interessiert unsern Sponsor nicht“, antwortet Goldi.
Ich lese die Liste mit den empholenen Filmen durch und bleibe bei „Frühling für Hitler“ hängen. „Kenne ich. Das ist doch der durchgeknallte Film, wo die Theaterleitung unbedingt ein Stück inzenieren will, was garantiert durchfällt.
Dann wollen sie sich mit der Versicherungssumme aus dem Staub machen. Das geht nach hinten los. Obwohl es total daneben ist oder gerade deshalb wird es ein Knaller“, erzähle ich Goldi. Er antwortet: „Ich halte den Film für Schwachsinn“.
Ich: „Viele finden ihn langweilig. Ich bin geteilter Meinung. Am besten hat mir Franz Liebkind gefallen, der Deutsche mit dem Stahlhelm. Als er auttauchte im Film, dachte ich, es fängt endlich an, lustig zu werden. Jetzt geht es los mit der Komödie, und der Nonsens erreicht brisante Höhen. Was sich aber als Irrtum rausstellte.“
Goldstückchen: „Der Herr ist auch mit von der Partie“.
„Wo wollt ihr den denn unterbringen in einem Musical über die Mark?“, frage ich entgeistert.„Dann dreh dich mal um“, sagt Goldstückchen zu mir, während sich auf der Bühne der Vorhang hebt. Das tue ich.
Auf der Bühne erscheint eine karge Knastzelle mit einem Tisch, an dem ein Mann mit Stahlhelm und Ledermantel sitzt. Er kommt mir bekannt vor. Da fällt bei mir der Groschen. Franz Liebkind. Genauso wie er in „Frühling für Hitler“ über die Leinwand geisterte. „Da hat es tatsächlich eine der Hauptfiguren aus einem der durchgeknalltesten Filme, die ich je gesehen habe, in ein Musical über die Mark Brandenburg verschlagen“, denke ich mich.
Die Front der Zelle ist vergittert. Der Kalfaktor mit dem Essenswagen kommt vorbei und öffnet die Klappe in der Zellentür. Er reicht dem Mann eine Blechschüssel und dazu noch ein Buch. „Das sind die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Unsere Anstaltspsychologin, die gleichzeitig die Bibliothekarin ist, und bei der du wegen deiner Depressionen in Behandlung bist, empfiehlt es als Wundermittel gegen Schwermut.
Ich kenne das von meinem Opa. Wenn er seinen Moralischen, das Rote Elend, wie er es nannte, hatte, las er auch immer in den „Wanderungen.“
Er fragt den Mann: „Warum bist du hier?“ „Sie haben mich angeklagt wegen Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts“, anwortet der.
Dem Mann mit dem Essenswagen folgt ein großer roter Kater. Er schmiegt sich eng von außen an die Gitterstäbe, damit der Franz Liebkind ihn streicheln kann. Was dieser auch tut. Darauf macht der Kater einen Katzenbuckel und schnurrt laut. „Hallo Namenlos“, redet er den Kater an.
Nachdem der Mann die Suppe ausgelöffelt hat, schlägt er das Buch auf und liest laut vor: Berlin, im November 1861 »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Das hab ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen »Wanderungen durch die Mark« sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluss...*
Den Kater* ohne Namen kannte ich. Den Begriff Rotes Elend habe ich auch schon gehört. Plötzlich fällt mir ein wo. „Frühstück bei Tiffany“, wo es Holly immer überkam. Das erzähle ich Goldi.
Er darauf: „Damit liegst du richtig. Ich musste dieses Zitat aus dem Film in die Handlung einbauen, da einer der Gönner von uns ein beinharter Audrey Hepburn Fan ist, die ja bekanntlich die Holly in der Verfilmung spielt. Er wollte auch einen roten Kater mit auf der Bühne haben, das konnte ich ihm nicht ausreden.
Ohne unsere Sponsoren könnten wir uns die Miete für das Majestic-Theater nicht leisten. Deshalb ist ja auch Franz Liebkind mit dabei, denn „Springtime for Hitler“ liebt dieser Mäzen ebenfalls.
„Denkst du eigentlich auch, dass Truman Capote mit Holly eigentlich seine gute Freundin Marylin Monroe gemeint hat?“ Er wollte ja auch, dass sie die Hauptrolle im Film übernimmt, bloß ihr Management wollte nicht, dass sie eine Prostituierte spielt", frage ich Goldi. „Kann sein“, sagt er. Sicher ist er sich jedoch nicht, wem Holly nachempfunden ist.
„Ist das nicht eine geniale Idee für die Eingangsszene?“, fragt mich J.D.SALINGER. Ich muss ihm zustimmen.
Jetzt fällt der Vorhang und die Bühne dreht sich weiter.
Nächstes Bühnenbild
Er wirft einen uralten Filmprojektor an, der ein lautes Surren verursacht. „Das soll Nostalgiefeeling aufkommen lassen“, sagt er.
Goldi zeigt auf den Projektor, der aus der Zeit stammt, als die Bilder laufen lernten. „Hat uns ein anderer Mäzen überlassen, auch ein riesiger Filmfreak. Nicht nur den, sondern auch noch eine größere Summe. Ist aber wie gesagt an die Bedingung geknüpft, dass wir seine Lieblingsstreifen kurz anspielen.“
Mir kommt langsam der Verdacht, dass es diesen steinreichen, unbekannten Filmfreak gar nicht gibt, sondern das Goldi das selber ist, und er das Musical als Vehikel benutzt, um seine cineastische Leidenschaft auszuleben.
Er projiziert auf den Vorhang, der das Bühnenbild verdeckt, einen Schwarz-Weiß-Film. Ein Auto fährt durch die Wüste in Arizona. In der nächsten Szene des Streifens sieht man nur die beiden Beine eines Mannes, der sich auf einen selbstgeschnitzten Wanderstock stützt. Das Auto fährt an ihm vorbei und hält an einer Tankstelle mit angeschlossenem Dinner.
„Na, wie findest du das?, fragt er mich.
Ich, wie aus der Pistole geschossen: „Der versteinerte Wald“. Goldi darauf: „Woher kennst du als Ossi diesen Film nach einem Theaterstück von Robert E. Sherwood?“
Scheinbar denken sie in Amerika alle, dass die DDR kulturell hinterm Mond war.
Ich antworte ihm: „Eines meiner Lieblingsbücher ist „Jahr der leeren Träume“ von Richard Yates. Hat meine Mutter von Buchclub 65 bekommen. Jeden Monat gab es ein Buch. Für mich Begegnung mit der Weltliteratur. Dort führen sie im ersten Kapitel ein Theaterstück auf, dass der „Versteinerte Wald“ heißt, auf. Ich wurde neugierig.
Dann lief im Fernsehen einmal die Verfilmung des Stücks mit Humphrey Bogart und Bette Davies. Kurzfassung der Handlung: Kellnerin Gabrielle in einsamem Imbiss, die literaturinteressiert ist, lernt bei der Arbeit resignierten und verarmten Schriftsteller kennen und verliebt sich in ihn. Er benutzt einen Überfall, um sich von Gangstern erschießen zu lassen, und ihr seine Lebensversicherung zuzuschanzen.
J.D.:“Der versteinerte Wald“ gehört zu meinen Lieblingsfilmen.“
Ich frage ihn: „Was soll eigentlich das blöde Ende. Gabrielle, die Francois Villon Verehrerin, steht doch auf den Schriftsteller. Was muss er sich da mutwillig erschießen lassen, damit sie seine Lebensversicherung bekommt.
Sie will nicht die Kohle, sie will ihn. Ein hanebüchener Schwachsinn. Wenn man sich in einen Kerl verliebt, möchte man doch nicht, dass er einem in den Armen stirbt und mir seine Lebensversicherung hinterlässt, sondern ich möchte ihn vernaschen.
Und ich habe auch nie begriffen, warum sie bloß immer so ein Gewese um Francois Villon gemacht haben. Ich für mein Teil habe nie verstanden, was alle an ihm fanden. Auf jedem Straßenfest eine Theatertruppe die das „Manifest“. oder wie das hieß, von ihm aufführte, sage ich.“
„Anderes Problem. Wie willst du eigentlich die Wüste Arizonas mit der Mark Brandenburg in Verbindung bringen?“, frage ich Goldi. „Da haben wir uns was einfallen lassen“, erwidert er. „Wozu haben wir einen Könner wie Salinger in unseren Reihen.“
Ich habe das Rollenheft gelesen, das J.D. mir gegeben hat und frage: „Was ist jetzt mit der einsamen Waldschenke, die nicht fehlen darf? Wo immer eine geheimnisvolle, uralte Frau sitzt, alle nennen sie nur die Saufliesel, die vor sich her murmelt: „Etwas wird passieren, woran ihr alle nicht denkt.“ Die Handlung ist doch so angedacht, dass Fonte, per Pedes unterwegs auf Brandenburgs Wegen, dort in einer stürmischen Nacht absteigt“.
Goldstück und J.D.SALINGER lächeln geheimnisvoll. „Wart´s ab. Gleich bekommst du etwas zu sehen, was deine Fragen beantworten wird.
Jetzt öffnet sich der Vorhang aufs Neue und gibt den Blick auf das Bühnenbild frei. Wir sind in einer Waldschenke in der Mark Brandenburg um Achtzehnhundert. Mitten unter den anderen Gästen der Waldschenke sitzt allein ein weißbärtiger Mann. Ein Amerikaner, der sich in der Gegend verlaufen hat. Er ist Schriftsteller und will einen Reisebericht über Deutschland schreiben. „My name is Walt Whitman“, sagt der Weißbärtige.
Fonte hat kein Problem, sich mit ihm zu unterhalten. Nehme ich jetzt einmal so einfach an, da er selbst einen Text über seine Reise nach England verfasst hat. Er heißt „Ein Sommer in London“. Übrigens genauso einschläfernd wie die „Wanderungen“.
Auf der Bühne läuft inzwischen die Probe für das Stück weiter.
Eine Frau betritt das Gasthaus: „Mein Mann ist vor drei Tagen ins Moor gegangen, weil ihm da ein verdächtiges Licht aufgefallen ist. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht.“ Sofort machen sich Fonte und die Anderen aus dem Wirtshaus auf die Suche nach dem Vermissten.
Ich sage zu J.D. und Goldi: „Euch ist aber schon klar, dass wir hier nicht bei Edgar Wallace und seinem „Wirtshaus in Dartmoor“ sind? Vielleicht sollten wir lieber ein Musical mit dem Titel „Viele Grüße vom Zinker“ kreieren, statt diesem Fonte goes Amerika Quatsch?
Goldstück: „Ich habe eine andere Idee. „Vielleicht sollten wir die Beiden zusammenkommen lassen. Eine Liebesgeschichte? Walt Whitman war schwul.“
J.D. darauf: „So weit, von Fonte das Gleiche zu behaupten, würde ich dann doch nicht gehen. Aber ein Anderer aus den Wanderungen käme eventuell dafür in Frage.“
Er sagt: „Wir brauchen unbedingt noch ein Gespenst“. Ich darauf: „Geht auch eine Gespenstin? Da hätte ich jemand vorzuschlagen. Was hältst du von Undine? Andere Gespenster aus Brandenburg kenne ich nicht.“ „Ist das nicht die Nixe, die einen Ritter ins Wasser gezogen hat, weil er sie verlassen hat?“, fragt unser Goldstück.
Ich darauf erstaunt: „Genau. Du kennst dich ja mit den Romantikern aus, denn das Märchen ist von von F. la Motte de Foque, einem Dichter, der in Schloß Nennhausen im Brandenburgischen wohnte, verfasst worden.“
J.D. Ist anderer Meinung. „Undine taucht doch gar nicht in den „Wanderungen auf.“
Ich staune über seine Textkenntnis. Ich muss ihm aber Recht geben. Undine kommt da wirklich nicht vor, auch wenn Fonte ein Freund von Friedrich de la Motte Fouqué war, dem Verfasser der Undine.
„Vielleicht können wir die Nixe doch verwenden. Wer hat schon die „Wanderungen“ genau gelesen?“, meint Goldstückchen. „Ein zerstreuter Professor darf auch nicht fehlen als Rahmenhandlung. Hier wird er von Fonte verkörpert. Oder vielleicht sollen wir doch besser Walt Whitman nehmen.“
„Ein schwuler Rittergutsbesitzer, eine tropfende Gespenst*in, ist das nicht ein bisschen viel Phantasie für die Mark Brandenburg. Ich wollte bloß bemerken, dass wir erheblich wegdiffundiert sind von Fonte“, sage ich zu den Beiden.
Goldi: „Ich betrachte die „Wanderungen“ eigentlich nur als unverbindliche Empfehlung, quasi als lockeren Leitfaden.
Ich: „Leute ihr wollt zuviel. Bleibt beim Thema. Kennt ihr Klaus Manns „Revue zu vieren“ Da hat auch er auch zuviel gewollt, genauso wie ihr jetzt. Das Stück ist in Bausch und Bogen gescheitert.“
J.D. darauf: „Was soll ich machen? Ich werde so von Ideen überwältigt, dass ich nicht weiß, welcher davon ich den Vorrang gebe soll.“
Ich: „Das mit Klaus Mann hab ich nie begriffen. Ich meine, warum er seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Er hat es doch eigentlich gut getroffen. Seine Eltern haben sein Schwulsein toleriert. Da hätte er mal in einer preußischen Beamtenfamilie aufwachsen sollen. Da hätte er bestimmt zu hören bekommen: „Schande der Familie.
Du übertrittst nicht mehr meine Schwelle.
Das mit seiner Schullaufbahn fand ich auch cool. Wenn ihm an einer Bildungseinrichtung was nicht gepaßt hat, ist er einfach auf die nächste Privatschule gewechselt. Habe ich in seiner Autobiographie gelesen. Sowas kann ich mir gar nicht vorstellen.
Ich habe, musste eisern durchgehalten in meiner Berufsausbildung mit Abitur. Und die gemeinsame Theaterarbeit mit seiner Schwester, ihre Reisen in alle Welt. Dann kamen 33 die Nazis und alles änderte sich. Seine Familie konnte aber nach Amerika auswandern und überstand dort die Diktatur. Eigentlich hat er doch Glück gehabt.“
Zurück zur Waldschenke.
Wo waren wir stehengeblieben? Die Schauspielerin sagte gerade: „Mein Mann ist vor drei Tagen ins Moor gegangen, weil ihm da ein verdächtiges Licht aufgefallen ist. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht“. In dem Moment rief Goldstückchen ganz laut: „Pause“. Alles ging zur Tür. Goldi macht den Technikern ein Zeichen, dass sie den Film unterbrechen sollen, der bis dahin ohne Ton auf der Leinwand im Bühnenhintergrund lief.
Wir sind hungrig.
Der Pförtner, der Sohn von J.Ds Kumpel, der, mit dem er 1944 am D-Day zusammen in der Normandie gelandet ist, schließt für uns die Kantine auf. Als ich eintrete, fühle ich mich in den Film „Mephisto“ versetzt. Endlich bin ich mal in einer richtigen Theaterkantine, so eine wie die am Hamburger Künstlertheater, wo viele Szenen spielen. Es fehlt nur noch Gustaf Gründgens, der am Tresen steht und bettelt, dass seine Spiegeleier angeschrieben werden.
Er war ja das Vorbild für Hendrik Höffgen aus Klaus Manns Geniestreich. Er soll das dem früheren Freund nicht verziehen haben und seine Beziehungen spielen gelassen haben, um das Erscheinen des Buches zu verzögern. Dessen Erfolg in Deutschland hat Klaus Mann nicht mehr erlebt. Ich finde, sein einstiger Jugendfreund kann froh sein, die Hauptfigur im Roman zu sein. Sonst würde ihn heute niemand mehr kennen. So ist er verewigt worden.
Ein Kumpel von mir, der in Streganz, bei Königs-Wusterhausen, wohnt, hatte mir erzählt, dass in Zeesen, das gleich in der Nähe ist, im besetzten Gutshaus, Sommerfest ist.
Damals wusste ich noch nicht, dass mit Gutshaus die ehemalige Villa von Gustav Gründgens gemeint war. Ihn kenne ich durch „Mephisto“ von Klaus Mann, wo die Hauptfigur mit ihm in vielem identisch ist. Vorher soll das Haus einem Juden gehört haben, der ins Exil gegangen ist.
Das Sommerfest in Zeesen war genauso wie die Straßenfeste auf dem Traveplatz oder in der Kreuziger im Friedrichshain. Es kamen viele Interessierte Einheimische, aber keiner der Hausbesetzer unterhielt sich mit ihnen.
Gerade auf einem Dorf wie Zeesen, gehört zu KW, war so eine Ansammlung von fortschrittlich gesinnten jungen Leuten doch etwas Besonderes. Wenn es so etwas in meinem Dorf gegeben hätte, wäre das zu schön gewesen, um wahr zu sein. Sie könnten sich um den Teil der Dorfjugend kümmern, der auch nicht so ganz rein passt und Gedichte schreibt und auf der Gitarre klimpert.
Ein abgebrochener Altphilologe, viele Hausbesetzer sind oder waren ja Studenten, hätte die Ingeborg Bachmann der Mark entdecken können und sich in die Analen der Literaturgeschichte einschreiben können.
Der Musikus, der bei dem Straßenfest am Grill stand, ich hatte ihn im Schokoladen schon mit seiner Band gesehen, könnte einem talentierten Dorfbengel die ersten Griffe auf der Gitarre zeigen und ihm seine alte Wanderklampf schenken. Wenn der dann später ein ganzes Stadion in Atem hält, ist sein letzter Song seinem Lehrmeister gewidmet.
Statt diese erfreulichen Möglichkeiten, die sich boten, beim Schopfe zu packen, reagierten die Besetzer abweisend auf die Neugierde der Zeesener, die nur zu verständlich war, denn trotz Berlinnähe war Zeesen ja ein Dorf. In meinem Dorf in Mecklenburg, aus dem ich stamme, wären sie in ihrem wilden Aufputz gleichbedeutend mit gelandeten Marsmenschen gewesen.
Ausgeflippte Leute, die die Gegend um KW hervorbrachte, zog es bald in die Hauptstadt.
Das ganze Hausbesetzerische war in meinen Augen ein Versprechen, welches nicht eingelöst wurde. Vielleicht waren die Protagonisten überfordert mit der Rolle, in die sie geschlüpft waren. Anerzogene Vorurteile, die meisten kamen aus dem Bildungsbürgertum im Westen, kann man nicht einfach so abstreifen.
So innerlich frei, wie die Leute sein wollten, waren sie gar nicht. Sie haben es aber wenigstens versucht. Muss man auch anerkennen.
Goldstückchen zu mir: „Mit der Ingeborg Bachmann der Mark, die der Entdeckung harrt, meinst du doch dich selber.“
Zurück zur Kantine. Nichts mit Spiegeleiern. Ein Pizzabote bringt einen Riesenstappel Kartons vorbei. Die Kantine ist ja offiziell zu. Bei uns am Tisch sitzt der Schauspieler, der den Franz Liebkind spielt, samt seinem Ledermantel. Mit dabei der rote Kater. Er sitzt unbeweglich auf seiner Schulter. „Wie machst du das bloß?“, frage ich ihn. „Ich habe eine intiutive Gabe, mit Tieren umzugehen“, antwortet er. Samuel Goldstück hat mich in der Subway angesprochen, weil ich ihm mit meiner Katze auf der Schulter auffiel.“
Auch im Prenzlauer Berg der Achtziger bin ich öfter einem jungen Mann, ganz kahlgeschoren, seiner Kleidung nach zu urteilen aus der schwulen Lack-und Lederszene, auf dessen Schulter völlig unbeweglich eine Katze saß, begegnet. „Wie macht er das bloß?“, dachte ich bewundernd.
Einmal sah ich ihn samt Katze, wie er sich U-Bahn Alexanderplatz auf dem Bahnsteig mit der Verkäuferin von dem dort befindlichen Imbiss unterhielt. Eine Frau in den Fünfzigern. Verblüfft stellte ich fest, dass es sich um keine Frau handelte, sondern ein Mann in Frauenklamotten war.
Nach dem Essen gehen wir wieder in den Zuschauerraum vom Theater.
S.Goldstück legt eine DVD in einen Player. Sofort erscheint im Hintergrund der Bühne, wo sich eine weiße Leinwand befindet, ein Foto des Ruppiner Sees. Goldi, wie ihn hier alle nennen, sagt: Kuckt mal, was ich mir ausgedacht habe“.
Ich traue meinen Augen nicht. Da werden doch tatsächlich weiße Schwäne aus Pappmachee an dem Foto vorbeigezogen. „Wir sind hier nicht mehr in den Fünfzigern“, sage ich. „So was habe ich mal in einer Filmaufnahme von „Schwanensee“, wo noch Galina Uljanowa die Odette tanzt, gesehen.“
J.D.SALINGER wird hellhörig. „Wen hat sie getanzt? Oana? Ich erwidere: „Ne, Odette.“ Goldi stößt mich an. „Er ist nie darüber hinweggekommen, dass ihn Oana O´Neil, die Tochter des berühmten Dramatikers Eugen O´Neil, verlassen hat. Sie war siebzehn, als sie sich in Chaplin verliebt hat“, flüstert er mir zu.
Da wird mir plötzlich klar, dass auch Marcel Proust ein Fan von Schwanensee gewesen sein muss. Nicht umsonst heißt eine Hauptfigur in der „Recherche“ Swann und die Geliebte von ihm Odette. „Vielleicht sollten wir das Ganze mit dem „Tanz der kleinen Schwäne“ von Tschaikowski unterlegen“, schlage ich vor.
J.D. antwortet mir: „Ich sehe schon, dass das alles in ein „Frühstück für Hitler“ Ding reindriffet. Ich antworte: „Erstens heißt es „Frühling für Hitler. Ich kenne den Film gut, und außerdem war das Musical ein Riesenerfolg.“
Samuel Goldstück, genannt Goldi: „Leute, laßt die Finger von Tschaikowski. Ich habe meinem Enkel versprochen, dass er die Musik zu den „Wanderungen“ komponieren kann. Und er ist Hip-Hop-Künstler.“ Ich darauf: „Vielleicht kann er ja „Schwanensee“ mit Beats unterlegen?“
„Und du wolltest wirklich mal Tänzerin werden?“, fragt er mich.
Ich antworte: Mir ist mal mit zwölf ein sowjetisches Kinderbuch über Galina Uljanowa, eine der größten Ballerinnen der Welt, in die Hand gefallen. Ab da stand mein zukünftiger Beruf für mich fest. Ich bekniete meine Mutter, mit mir zur Aufnahmeprüfung in die Tanzschule zu fahren. „Was soll´n die Leute denken?“, war ihre Antwort. Ich sah dafür aber immer die Sendung Solo und Pas de Deux.
Einmal brachten sie sogar eine alte Aufnahme mit meiner Galina. Das Bühnenbild sehr merkwürdig. Zogen sie dort doch tatsächlich im Hintergrund Schwäne aus Pappe an einem Bühnenbild, auf das ein See gemalt war, vorbei.
Goldi hat noch eine andere Idee. „Wo du gerade „Frühling für Hitler“ erwähnst und Proust und Tschaikowski. Was haltet ihr davon, unsere ursprüngliche Idee, einfach Fonte ein schwules Image zu verpassen, wiederaufzunehmen? Die war gar nicht so schlecht, und damit ist uns eine bestimmte Community als Kartenkäufer sicher.“
J.D. antwortet: „Ich sehe keine Möglichkeit, dass in unser Musicallibretto reinzuschreiben. Ich muss ihm beipflichten. „Das geht mir auch zu sehr in die Richtung von dem Kultfilm, wo Meatloaf mitgespielt hat. Der Name ist mir entfallen.“
Die anderen kennen das Musical nicht. „Das ist der, wo alle immer mit Regenklamotten ins Kino gehen und sich mit Wasser vollspritzen“, versuche ich ihr Gedächtnis aufzufrischen.
Bei ihnen löst das aber keine Erinnerungen aus. Jetzt fällt mir der Name von dem Film wieder ein. Rocky Horror Picture Show. Sie stammen wohl beide aus einer anderen Zeit.
„Andere Frage. Wie stand eigentlich Fonte zu gleichgeschlechtlicher Liebe? Hat er sich jemals dazu geäußert?“ Goldi: „J.D. und ich haben alle seine Werke gelesen, aber darüber nicht ein einziges kleines Wort entdeckt. Das Thema war wohl zu heiß um Achtzehnhundert.
Fonte wurde ja schon als Sittenstrolch hingestellt, nur weil er andeutete, dass Lene und der Baron eine Nacht in einem Gasthaus namens „Ablage“ verbrachten, ohne verheiratet zu sein. Viele Leser bestellten empört die Zeitung, die den Roman „Irrungen, Wirrungen“ als Fortsetzungsroman veröffenlichte, ab.“ „Wie haben die Leute sich bloß damals vermehrt?“, frage ich. „Von Sex wollten sie ja gar nichts wissen.“
J.D. schlägt vor: „Vielleicht sollten wir Fonte hetero lassen - soweit würde ich nun auch nicht gehen, zu behaupten, dass mit allen seinen Frauenfiguren, die wegen den gesellschaftlichen Konventionen in der Liebe scheitern, in Wirklichkeit Männer gemeint waren - aber dafür einen oder mehrere von den vielen Grafen und Marschällen mit einem Hauch von Travestie ausstatten.
In den vielen Feldlagern ist es bestimmt nich immer so hetero zugegangen. Das war ja ein frauenfreie Zone.“ Darauf können wir uns schließlich einigen.
Die große Tür zum Zuschauerraum geht auf. Ein weißhaariger Herr kommt auf mich zu. Ein Junge, ungefähr vierzehn, hält ihn, der mächtig zittrig wirkt, an der Hand. Zu meinem Erstaunen schmettert der Bejahrte, als er uns sieht mit lauter Stimme: „Hey, Carrie Anne
What's your game now? Can anybody play? ...“
Jugend. Lebensfreude pur. Alles, was ich längst vergessen habe. Erinnerungen an Zeiten, wo ich noch an die Liebe geglaubt habe und Illusionen besaß, die mir längst geraubt längst wurden, kommen auf. Sein Gesicht strahlt so einen naiven Glauben an eine harmonische Welt aus, dass er mir richtig leid tut. „Er ist immer noch in den Sechzigern, als seine Band ihre große Zeit hatte“, denke ich. Ich hätte gar nicht vermutet, dass der Sänger noch lebt.
Von ihm geht der Leichtsinn und die Gutmütigkeit der Jugend aus. Und aus seinen Augen leuchtete ein naiver Glauben an das Leben. Ich sage zu ihm: "Ich liebe diesen Song".
„Stell dir das nicht so einfach vor“, sagt er zu mir. „Du haust einen Song raus wie diesen hier, und dann kommen sie und sagen glatt: „Noch so einen.“ Mach das mal.“
Ich verstehe ihn. So was geht nicht auf Knopfdruck. Das merke ich ja auch bei meiner Schreiberei, wo mir manchmal die Einfälle völlig versiegen.
Ich staune, dass er, der sich kaum auf den Beinen halten kann, noch dieselbe Stimme hat, wie früher.
„Was macht der denn hier?“, frage ich Goldi. Seine Anwort lautet: „Wir brauchen Musik. Was meinst du wohl, wo überall Eric Charell bei seinem „Zum Weißen Rößl“ die Nummern zusammengeklaut hat? Ich war damals als Kinderdarsteller dabei, Anfang der Dreißiger im Friedrichstadtpalast, der damals noch gar nicht so hieß.“
Er zeigt mir ein Photo, auf dem ein niedlicher kleiner Junge vor einer Theaterkulisse steht, einem Hotelportal über dem sich das geschwungene Namensschild „Zum Weißen Rößl“ wölbt. „Eric Charell ist auch später vor den Nazis geflüchtet und arbeitete in Hollywood“, sagt er.
J. D. flüsternd zu mir: „Ich halte dieses Goldstückchen für einen Aufschneider. Weder hat er Eric Charell gekannt, noch im Friedrichstadtpalast in den Dreißigern auf der Bühne gestanden. Er müsste ja sonst schon über hundert sein. Er ist ein Schlitzohr.“
Goldi erzählt: „Allan, so heißt der Sänger, hat mir die Rechte für einen Song überlassen. Er möchte im Gegenzug live auftreten, da er in finanziellen Schwierigkeiten steckt nach seiner fünften Scheidung.“
„Hallo Allan“, begrüßt er unseren Gast. „Vielleicht hättest du mit siebzig keine Neunzehnjährige heiraten sollen.“
Der Sänger antwortet darauf: „Dann hätte ich ja meinen Sohn nicht“ und weist auf den Jungen.
Ich wundere mich, wie Goldstück die „Wanderungen“ und den Song zusammenbringen will. Von der Entstehungszeit liegen sie ja an die hundert Jahre auseinander.
Goldi sagt: „Das kriegen wir schon hin. Ich möchte auch in erster Linie, dass Allan, neben seiner Singerei, jedesmal, wenn ein Aufzug zu Ende ist, als Erzähler auf die Bühne tritt und erklärende Worte spricht.
Goldi erzählt mir: „Ich hatte mir das folgendermaßen gedacht: Als der Baron von Knesebecks das Dienstmädchen Carolina, das in Wirklichkeit eine Hohenzollern ist, anmacht, singt er: „Hey Carry ...
Dabei spült sie am Ufer des Parsteiner Sees Wäsche und legt sie zum Bleichen auf die Wiese.“ Ich darauf: „Ich dachte, es handelt sich hierbei um den Ruppiner See.“ Goldi darauf sorglos: „See ist See. Das nimmt sich nichts.“
Damals klappte das immer alles nicht mit der Liebe wegen dem Ständewesen. Kein Adeliger nahm eine Bürgerstochter zur Frau. Hatten wir es gut in der DDR, weil wir die Gutsbesitzer und Kapitalisten vertrieben haben. Jetzt sind wir alle gleich und müssen keine Standesrücksichten mehr nehmen. Geld haben wir auch alle nicht, da die Produktionsmittel dem Volke gehören. Jetzt kann ich heiraten, wen ich will. Keinem wird mehr das Herz gebrochen. Dachte ich jedenfalls optimistisch. „So einfach ist es ja nun auch wieder nicht“, wurde mir später klar.
Andere Frage: „Wie wollt ihr eigentlich mit der altertümlichen Sprache klarkommen?“ Originalton Fonte, als er jemand nach dem Weg fragen wollte: „Ich sah bald, daß der älteren märkisch-wendischen Heimatskunde hier keine Quelle floß, und war denn auch rasch entschlossen, durch eine Diversion jeder weiteren Verwirrung vorzubeugen.“
J.D. darauf: „Das verstehen die Leute im Zuschauerraum sowieso nicht.“
Die Frau mit den zerzausten weißen Haaren, die am Wirtshaustisch vor der Kulisse von der alten Waldschenke sitzt, legt schon wieder los: „Ihr seid alles Verdammte. Das Böse wird kommen und euch holen.“ Sie ist nicht mehr zu bremsen und nervt. Goldi legt ihr die Hand beruhigend auf den Kopf. „Ich schicke jemanden zum Kiosk und lasse eine Flasche Jack Daniels holen Mary Ann.“ Sofort ist die Frau still.
Zu mir sagt Goldstückchen: „Da wir uns keine Schauspieler leisten können, habe ich Leute angesprochen, die im Central Park übernachten.“ Ich denke: „Das ist ja hier wie bei der Theatertruppe „Ratten“ in der Volksbühne. Der Regisseur aus Irland hatte meinen Kumpel, der mal zeitweise auf der Straße lebte, am Kotti in Kreuzberg angesprochen. Sie führten „Warten auf Godot“ auf. Aus ihm wurde ein begeisterter Schauspieler“.
Goldi sagt: „Auf das Plakat lasse ich einen großen Wanderstock drucken. „Ich darauf: „So ein Plakatmotiv wird die Menschen scharenweise in die Vorstellungen treiben.“
Goldi erzählt mir: „Langfristig spekuliere ich auf eine Verfilmung des Stoffes. Tief im Innersten bin ich ein verhinderter Filmregisseur.“
Wieder geht der Vorhang auf. Man sieht ein Feld. Es erklingt ein Ohrwurm aus den Dreißigern. S.Goldstück: „Ich weiß, es wir irgendwann ein Wunder …“ geben wir einfach als Volkslied aus der Mark aus und legen es den einfachen Leuten in den Mund.
Ich: „Aber das ist doch kein Volkslied.“ Er darauf: „Denkst du im Ernst, dass das hier in Amerika irgend jemand weiß, außer ein paar Germanisten, und die gehen sowieso nicht zum Tingeltangel, für das sie unser Stück halten.
„In der Mitte des Feldes sind die Garben aufgeschichtet. Deshalb verkaufen es einfach als „Lied der Garbenbinderinnen“, sagt Goldi.
„Ich habe daraus ein Ballett kreiert. In der Schlussszene tanzen die märkischen Bauern auf dem Feld um die aufgestellten Garben herum. Dabei singen sie: „Es wird einmal ein Wunder geschehen“.
Ich denke bei mir: „Die Bauern sehen ganz schön komisch aus. Mit Pantoffeln an den Füßen und mit Pluderhosen als Beinkleider. Wie auf einem Mittelaltermarkt.“
Mit ihnen tanzt das Liebespaar Carolina und Baron von Knesebeck, bis seine Eltern auftauchen und von ihm fordern mitzukommen. Ansonsten wird er enterbt.
Er erwidert, dass ihm das egal ist, und dass er mit der Frau, die er liebt, in Armut leben will. Daraufhin kommt ein Bote zu Carolina und teilt ihr mit, dass sie eine Prinzessin ist und große Ländereien und ein Schloß auf sie warten.
„Den Textdichter konnten die Nazis gar nicht leiden“, sagt unser Regisseur. Ich darauf: „Was hat ihnen denn nicht gepasst? War er Jude oder Kommunist?“
„Ne, schwul war er.“
S.Goldstück erzählt mir: „Die Strophen hat Bruno Balz, der Texter nicht nur von „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen, sondern auch von „Davon geht die Welt nicht unter“ war, in einer Gestapozelle in der Prinz-Albrecht-Straße geschrieben. Die Nazis hatten ihn auf frischer Tat zusammen mit seinem Lover erwischt. Gleichgeschlechtliche Liebe stand ja unter Strafe. Aus der Prinz-Albrecht-Straße sollte er ins KZ überführt werden. Das war 1941. Ihn rettete, dass für einen Zarah Leander Film Liedtexte benötigt wurden.“
Wieder geht die Tür zum Zuschauerraum auf. Eine uralte Dame wird von einem livrierten Chaffeuer hereingeschoben. Sie ist verschleiert und an den Händen trägt sie Handschuhe aus Spitze. Ich fühle wie Goldi erstarrt. „Das ist sie, Norma, unsere Mäzenin“, flüstert er. „Sie ist der berühmte Stummfilmstar. Ihr fünfter Mann war ein steinreicher Erzmogul.“ Trotz ihres hohen Alters begrüßt sie uns mit jugendlicher Stimme.
J.D. nimmt micht beiseite. Er sagt: „Das ist nicht der berühmte Stummfilmstar, sondern ihre Tochter oder sogar schon ihre Enkelin. Es kursieren Gerüchte, dass die Aktrice total dement ist. Dem wollen ihre Verwandten entgegentreten. Auch weil sie dann nicht mehr, die Verfügung über ihr Vermögen haben. Rate mal, warum die Dame Handschuhe trägt.
Das ist deshalb, damit man nicht sieht, dass ihre Hände nicht die Hände einer alten Frau sind. Wenn die große Norma ab und zu mal in der Öffentlichkeit auftaucht, hält das die bösen Zungen ins Schach.
Ich fahre sinnlos auf Stummfilme ab. Es tut mir leid, dass die Stars der Ära beim Tonfilm so untergegangen sind. Von einem Tag auf den anderen ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Stelle ich mir superschwierig vor. Vielleicht ist es besser, man war nie berühmt. Dann weiß man auch nicht, wie es ohne Ruhm ist. Einfach, weil man so was gar nicht kennt, und es deshalb nicht vermisst.
Ist wohl schwer für eine Schauspielerin eine Rolle zu bekommen, wenn sie den Reiz der Jugend nicht mehr hat. Irgendwie wollen sie die Frauen zwingen, immer jung zu sein. Dann wirst du hofiert, später fallengelassen.
Ich will ehrlich sein. Das mit den Handschuhen, die die junge Frau trägt, um die alte Stummfilmdiva glaubhaft zu verkörpern, die natürlich nicht mehr die glatten Hände einer Jugendlichen hat, habe ich aus einem Hollywoodfilm geklaut, dessen Namen ich nicht mehr rauskriegen konnte.
„Hast du Lust für jemanden auf der Bühne einzuspringen?“, fragt mich J.D. Der Schauspieler, der den Fonte spielt, ist heute Nacht verhindert. Er hat nachher noch einen Nebenjob als Parkplatzwächter. Wir geben dir den Text und du mimst die Rolle. „Na gut, ich übernehme für ihn.“
Ab jetzt bin ich Fonte. Mein Vorgänger, ein zartes Jüngelchen, gibt mir seine Perücke, an der ein Bart befestigt ist. Das hier ist nämlich eine Probe, die in Kostümen stattfindet. „Bist du sicher, dass er so aussah? Er erinnert mich an Vater Abraham von den Schlümpfen mit dem langen weißer Bart,“ frage ich. Goldstückchen darauf: „Ist ja egal, einen weißen Bart hatten sie doch alle damals. Da kann man nichts falsch machen.“
„Ich will nichts Nachteiliges über andere sagen, aber in meinen Augen ist der Darsteller des Fonte zu jung für die Figur“, sage ich.
Darauf Goldi: „Was macht das? Der Schauspieler der Professor Abronsius in „Tanz der Vampire“ gespielt hat, war auch bestimmt zwanzig, dreißig Jahre jünger als das weißhaarige Männlein, das er in seiner Rolle war. Auch diesen Film müssen wir einbauen. So verlangt es der Geldgeber.
Ich bei mir: „Also gibt es den geheimnisvollen Filmenthusiasten doch, und er ist keine Fantasiegestalt.“
„Wenn er uns die Kohle streicht, können wir hier dichtmachen“, sagt unser goldener Regisseur.“
Ich habe den weißen Bart umgehängt und sitze mit den anderen in der Waldschenke. Die Tür geht auf. Ein Raunen geht durch die Leute. „Das ist der Alte Ziethen.“ Ein hochbejahrter Mann im Reiterkostüm tritt ein und setzt sich bei mir und Whitman an den Tisch. Wir beginnen ein Gespräch und er erzählt uns von seinen Schlachten, in denen er gekämpft hat, bis der Wirt kommt. „Wir machen jetzt dicht“, sagt er.
Der Alte Ziethen fragt uns: „Habt ihr Lust bei mir auf dem Schloss zu übernachten? Die Dorfbewohner behaupten ja, dass es da spukt, aber das ist der Phantasie der Leute hier geschuldet.“ Walt und ich sind müde, darum lassen wir uns nicht zweimal bitten und folgen ihm, als er nach Hause geht.
Ich und Walt Whitman bekommen jeder ein Zimmer. Es klopft bei mir. „Kann ich bei dir im Bett schlafen?“, fragt Walt mich. Mir ist irgendwie unheimlich so allein. Ich rücke beiseite und mache Platz unter dem Federbett. Da klopft er wieder. Der Alte Ziethen steht da. „Ich möchte bei euch übernachten.“ Nur zu, dass Bett ist riesig.
Kurz nach dem die zwölfte Stunde geschlagen hat, ertönt ein merkwürdiges Geräusch. Ein Frau scheint zu weinen. Ich sehe aus dem Fenster in den Park. Dort wandelt eine weißgekleidete Gestalt umher und stößt Klagerufe aus. Sie scheint ihren Geliebten zu rufen. Das ist die Weiße Frau, sagt der Alte Ziehten.
Walt Whitman fühlt sich an Emily Dickinson erinnert. „Eine amerikanische Dichterin, die das Haus nur noch nachts verließ und weißgewandet in der Gegend umherwandelte.“ Er zitiert:
"Hoffnung" ist das Ding mit den Federn —
Das in der Seele sitzt —
Und die Melodie ohne Worte singt —
Und niemals aufhört — überhaupt
Jetzt wird mir klar, warum der Alte Ziethen uns unbedingt mit in sein Schloss nehmen wollte, und warum er bei uns im Bett schlafen wollte. Ihm es unheimlich hier allein im Schloss, in dem es spukt. Gemeinsam liegen wir drei unter dem großen karierten Federbett.
O-Ton Fonte:
Dabei wird es kalt und kälter; das Abendrot streift die Kirchenfenster, und mitunter ist es, als stünde eine weiße Gestalt inmitten der roten Scheiben. Das ist das Weiße Fräulein, das umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch sucht, den sie liebte. Um Mitternacht tritt sie aus der Mauerwand, rasch, als habe sie ihn gesehn, und breitet die Arme nach ihm aus. Aber umsonst. Und dann setzt sie sich in den Pfeilerschatten und weint.
Und unter den Altangesessenen, deren Vorfahren noch unter dem Kloster gelebt, ist keiner, der das Weiße Fräulein nicht gesehn hätte.*
Aber das ist erst der Anfang. Es kommt noch ärger. Ich wußte gar nicht, dass im Boden der Kapelle, die neben dem Schloß steht, so viele die letzte Ruhe gefunden haben. Aus sämlichen Begräbnisstätten, von denen es rings um das Schloß massig gibt, kommen sie gekrochen.
Es sind Ritter, die in ihren Gruften keine Ruhe finden können. „Immer, wenn Vollmond ist tanzen sie im Park. Bei den Ältesten, die mit den Hellebarden in der Hand, hört man ihre Rüstungen klappern“, sagt der Alte Ziethen. Er zieht mich zum Fenster.
Von dort kann man den Park gut übersehen. Er weist auf einzelne von den Gestalten. "Alles Vampire. Das ist Derflinger, das Geist von Beeren. Der lange Kerl hinter ihm Hans Albrecht von Barfuß. Erbprinz Leopold von Anhalt-Dessau auch mit von der Partie. Mein Oheim Hans von Zieten auf Wildberg und die Schliebens tanzen zusammen, Herr von Quitzow ist auch dabei."
Mir fällt auf, dass vielen ein Bein oder ein Arm fehlt. Manche haben noch den Säbel im Rücken stecken. Einige tragen auch den Kopf unterm Arm spazieren. Ich sage: „Das ist hier ja wie in dem Film den ich mal beim Bewerbungstraining gesehen habe. Ich glaube, es war „Die Nacht der Reiter ohne Kopf“ oder so was Ähnliches.
Ein Kollege hatte mir gezeigt, wo im Netz man die neuesten Kinofilme sehen kann. War natürlich nicht ganz legal. Wenn ein Lehrer den Raum betrat, klickte ich immer auf minimieren und rief stattdessen das Jobcenterportal auf.“
S.GOLDSTÜCK darauf: „Jetzt wird mir klar, warum deine berufliche Karrierre nicht steil noch oben verlaufen ist.“
Nach dem Tanz sitzen alle an einer langen Tafel, auf der ein weißes Tischtuch liegt. O-Ton Fonte: Außerdem liegen glaubhafte Berichte vor, aus denen sich ganz genau ersehen läßt, was an Königs Tisch gespeist wurde. Es gab: Suppe, gestovtes Fleisch, Schinken, eine Gans, Fisch, dann Pastete. Dazu sehr guten Rheinwein und Ungar. In Wusterhausen kamen noch, weil es die Jahreszeit mit sich brachte, Krammetsvögel, Leipziger Lerchen und Rebhühner hinzu, besonders auch Früchte zum Dessert, darunter die schönsten Weintrauben.*
"Dredow und Jago, auch Rittergutsbesitzer, sind ebenfalls mit von der Partie." Der Alte Ziethen zählt noch eine lange Liste von Namen auf.
Da fällt mir die Kinnlade runter. Gesang dringt an mein Ohr.
I hate to see that evenin' sun go down
It makes me feel like I'm on my last go 'round
If I'm feelin' tomorrow like I feel today
Damit hätte ich hier in der Mark nicht gerechnet. Ich sehe tatsächlich Ritter, die den Saint Louis Blues singen.
Das Lied eines Mädchen aus dem Mississippi Delta, das sich aufmacht ihren Freund wiederzufinden, der nach Saint Louis gegangen ist und sich nicht mehr meldet.
Sie findet ihn im Kreis seiner Freunde mit einer anderen Frau an seiner Seite. Ihr wird klar, dass sie abgemeldet ist. Er hat jetzt ein anderes Leben.
„Wie willst du diesen Bluessong den Leuten verkaufen? In ein Musical, das sich um die Mark dreht, passt er doch auf alle Fälle nicht rein.“
Da habe ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn Goldstück und J.D.SALINGER lassen sich nicht so leicht beirren. Der Letztere sagt zu mir: „Diesen Song haben wir eingebaut, weil Freundschaft herrscht zwischen den Deutschen und den Amerikanern. Altes urdeutsches Kulturgut wie Fontes „Wanderungen“ trifft auf Selbiges, bloß aus Amerika. Außerdem ist der Saint Louis Blues gemeinfrei, und wir haben wenig Geld.
Wieder zurück im Schloss.
Ich wache auf, als mich jemand in die Schulter beißt.
„Der Alte Ziethen ist selber ein Vampir“, wird mir plötzlich klar. Ich wecke Walt auf und wir beide flüchten aus dem Gruselschloß. Die ganze Meute, bestehend aus Jago, dem Alten Derflinger, Geist von Beeren, Herrn von Quitzow, Jago und wie sie alle heißen in den "Wanderungen", verfolgt uns und ist uns schon dicht auf den Fersen.
An dieser Stelle unterbricht S. Goldstück die Probe. Die Morgensonne geht schon auf. Er sagt: „Good bye Boys and Girls. Kommt gut nach Hause. Wir sehen uns wieder. Selbe Zeit. Selber Ort.“
Ich verabschiede mich von Goldi und J.D. „Alles Gute für euer Musical“, sage ich.
Mich überfällt aber Skepsis, und ich denke: „Es ist natürlich schlecht, wenn man überhaupt keine Idee und keinen Plan hat und trotzdem ein Stück, das noch gar nicht vorhanden ist, rein aus dem Stehgreif inzenieren möchte“, denn genau den Eindruck habe ich gewonnen.
Sagen tue ich aber zu den beiden: „Das wird nen Knaller Jungs. Das wird wie Porgy und Bess.“ Sie schauen mich ungläubig an. „Wie soll eigentlich das Stück heißen?“, frage ich. Beide gleichzeitig: „Husarenherz“. „Das ist der beknackteste Titel den ich je gehört hab. In Amerika wird er niemandens Interesse erwecken“, denke ich. Sage es aber nicht laut.
Aber ich kann Samuel Goldstück nicht täuschen. Er wendet sich zu mir: „Der Wert eines Kunstwerks wird nur daran gemessen, wieviel Leute in das Stück oder den Film gegangen sind, das Buch gekauft haben. Genüsslich werden Zahlen mit vielen Nullen in den Mund genommen. Wenn schon Hunderttausend das Buch gekauft haben, möchte man doch der Hunderttausendundeinste sein.
Merkt ihr´s noch? Jeder weiß, dass das Quark ist. Entscheidend ist einzig und allein der Zeitfaktor. Demfolge hat Bach alles richtig gemacht. Seine Mathäuspassion klingt immer noch wie neu nach zweihundertfuffzig Jahren. Auch unser „Husarenherz“ wird die Zeiten überdauern.“
Nach dem Adieu beame ich mich wieder zum Ostkreuz zurück.
Eine Weile danach google ich nach „Husarenherz“. Was muss ich lesen? Das Stück ein Renner am Broadway. Auf Wochen alle Vorstellungen ausverkauft. Alles singt jetzt: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“.
Die Verfilmung steht an. Den alten Ziehten will unbedingt Timothée Chalamet spielen, obwohl er erst Dreißig ist.
*Der rote Kater soll an den ukrainischen Dichter Maksym Krywsow, der zusammen mit seinem roten Kater an der Front fiel, erinnern. Er hat den Gedichtband "Gedichte aus der Schießscharte" veröffentlicht.
**Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Stunden später. Es ist dunkel geworden. Wen seh ich da den nächtlichen Broadway heraufschlendern. S.Goldstück. Auch er mit von der Partie. Wir warten noch eine Weile auf J.D.Salinger, der hat das Libretto für das Musical über die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" von Fonte geschrieben. Als er eintrifft, gehen wir am Pförtner vorbei, der uns grüßt und mit uns einen langen Gang entlangläuft, der zur Bühne führt.
Der Pförtner, ein Bekannter von J.D, schaltet das Licht an. „Ihr könnt heute aber nur bis morgens um drei proben, dann kommen die Putzfrauen.“ „Hört uns hier wirklich keiner?“, frage ich. „Keine Sorge. Es ist keiner mehr im Haus. Wir sind hier völlig allein. Die Theaterkantine hat zur Coronazeit pleite gemacht.“
Wir gehen in den Zuschauerraum des Theaters. Die Schauspieler trudeln erst nach und nach ein. Samuel Goldstück gibt ein Zeichen mit der Probe anzufangen.
Es erklingt Messias von Händel. „Kriegen wir da nicht Ärger mit beleidigten Gläubigen?“, frage ich. „Da habe ich kein Problem damit, die Musik zu benutzen. Wir haben ja fast keine Mittel. Wusstest du eigentlich, dass die Uraufführung dieses Musikstückes in einem Theater stattfand?“, antwortet Goldi.
Goldstückchen reicht mir eine Liste. „Das sind die Filme, aus denen ich Sequenzen in die Handlung einbauen muss. Das verlangen die Sponsoren. Auf Wunsch von unserem Hauptgeldgeber spielt eine Szene sogar auf dem Mond. „Wie das?“, frage ich.
Antwort von Goldstück: „Wir haben uns das so gedacht. Ein Gutsbesitzer aus der Mark Brandenburg ist ein Sternenfreak und Hobbyastronom.
Eines Nachts träumt ihm, dass er auf dem Mond landet mit seiner selbstgebastelten Rakete. Dort begegnen ihm merkwürdigerweise seine Ahnen wieder, die sonst nur von den Gemälden an den Wänden des Schlosses auf ihn herabblickten.
Bei diesem Bühnenaufzug lassen wir im Hintergrund eine große Mondsichel von der Decke herab. Darauf schaukelt ein leichtgeschürztes Mädchen und schlenkert mit den nackten Beinen.
Ist angelehnt an den Filmpionier Georges Melies und seine „Reise zum Mond“ von 1901. Ein Ausschnitt daraus läuft im Hintergrund. Das wollte der Finanzier, ein Sammler, so haben. In seinem Besitz befinden sich noch die Originale des Films von vor über 100 Jahren. Er läßt sich die Restaurierung einiges kosten. Ich bin davon nicht begeistert. Aber was soll ich machen. Sonst verlieren wir unseren Hauptsponsor.“
Ich: „Aber Fonte lebte doch im Neunzehnten Jahrhundert. Da gab es den Film noch gar nicht.“ „Das interessiert unsern Sponsor nicht“, antwortet Goldi.
Ich lese die Liste mit den empholenen Filmen durch und bleibe bei „Frühling für Hitler“ hängen. „Kenne ich. Das ist doch der durchgeknallte Film, wo die Theaterleitung unbedingt ein Stück inzenieren will, was garantiert durchfällt.
Dann wollen sie sich mit der Versicherungssumme aus dem Staub machen. Das geht nach hinten los. Obwohl es total daneben ist oder gerade deshalb wird es ein Knaller“, erzähle ich Goldi. Er antwortet: „Ich halte den Film für Schwachsinn“.
Ich: „Viele finden ihn langweilig. Ich bin geteilter Meinung. Am besten hat mir Franz Liebkind gefallen, der Deutsche mit dem Stahlhelm. Als er auttauchte im Film, dachte ich, es fängt endlich an, lustig zu werden. Jetzt geht es los mit der Komödie, und der Nonsens erreicht brisante Höhen. Was sich aber als Irrtum rausstellte.“
Goldstückchen: „Der Herr ist auch mit von der Partie“.
„Wo wollt ihr den denn unterbringen in einem Musical über die Mark?“, frage ich entgeistert.„Dann dreh dich mal um“, sagt Goldstückchen zu mir, während sich auf der Bühne der Vorhang hebt. Das tue ich.
Auf der Bühne erscheint eine karge Knastzelle mit einem Tisch, an dem ein Mann mit Stahlhelm und Ledermantel sitzt. Er kommt mir bekannt vor. Da fällt bei mir der Groschen. Franz Liebkind. Genauso wie er in „Frühling für Hitler“ über die Leinwand geisterte. „Da hat es tatsächlich eine der Hauptfiguren aus einem der durchgeknalltesten Filme, die ich je gesehen habe, in ein Musical über die Mark Brandenburg verschlagen“, denke ich mich.
Die Front der Zelle ist vergittert. Der Kalfaktor mit dem Essenswagen kommt vorbei und öffnet die Klappe in der Zellentür. Er reicht dem Mann eine Blechschüssel und dazu noch ein Buch. „Das sind die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Unsere Anstaltspsychologin, die gleichzeitig die Bibliothekarin ist, und bei der du wegen deiner Depressionen in Behandlung bist, empfiehlt es als Wundermittel gegen Schwermut.
Ich kenne das von meinem Opa. Wenn er seinen Moralischen, das Rote Elend, wie er es nannte, hatte, las er auch immer in den „Wanderungen.“
Er fragt den Mann: „Warum bist du hier?“ „Sie haben mich angeklagt wegen Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts“, anwortet der.
Dem Mann mit dem Essenswagen folgt ein großer roter Kater. Er schmiegt sich eng von außen an die Gitterstäbe, damit der Franz Liebkind ihn streicheln kann. Was dieser auch tut. Darauf macht der Kater einen Katzenbuckel und schnurrt laut. „Hallo Namenlos“, redet er den Kater an.
Nachdem der Mann die Suppe ausgelöffelt hat, schlägt er das Buch auf und liest laut vor: Berlin, im November 1861 »Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Das hab ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen »Wanderungen durch die Mark« sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluss...*
Den Kater* ohne Namen kannte ich. Den Begriff Rotes Elend habe ich auch schon gehört. Plötzlich fällt mir ein wo. „Frühstück bei Tiffany“, wo es Holly immer überkam. Das erzähle ich Goldi.
Er darauf: „Damit liegst du richtig. Ich musste dieses Zitat aus dem Film in die Handlung einbauen, da einer der Gönner von uns ein beinharter Audrey Hepburn Fan ist, die ja bekanntlich die Holly in der Verfilmung spielt. Er wollte auch einen roten Kater mit auf der Bühne haben, das konnte ich ihm nicht ausreden.
Ohne unsere Sponsoren könnten wir uns die Miete für das Majestic-Theater nicht leisten. Deshalb ist ja auch Franz Liebkind mit dabei, denn „Springtime for Hitler“ liebt dieser Mäzen ebenfalls.
„Denkst du eigentlich auch, dass Truman Capote mit Holly eigentlich seine gute Freundin Marylin Monroe gemeint hat?“ Er wollte ja auch, dass sie die Hauptrolle im Film übernimmt, bloß ihr Management wollte nicht, dass sie eine Prostituierte spielt", frage ich Goldi. „Kann sein“, sagt er. Sicher ist er sich jedoch nicht, wem Holly nachempfunden ist.
„Ist das nicht eine geniale Idee für die Eingangsszene?“, fragt mich J.D.SALINGER. Ich muss ihm zustimmen.
Jetzt fällt der Vorhang und die Bühne dreht sich weiter.
Nächstes Bühnenbild
Er wirft einen uralten Filmprojektor an, der ein lautes Surren verursacht. „Das soll Nostalgiefeeling aufkommen lassen“, sagt er.
Goldi zeigt auf den Projektor, der aus der Zeit stammt, als die Bilder laufen lernten. „Hat uns ein anderer Mäzen überlassen, auch ein riesiger Filmfreak. Nicht nur den, sondern auch noch eine größere Summe. Ist aber wie gesagt an die Bedingung geknüpft, dass wir seine Lieblingsstreifen kurz anspielen.“
Mir kommt langsam der Verdacht, dass es diesen steinreichen, unbekannten Filmfreak gar nicht gibt, sondern das Goldi das selber ist, und er das Musical als Vehikel benutzt, um seine cineastische Leidenschaft auszuleben.
Er projiziert auf den Vorhang, der das Bühnenbild verdeckt, einen Schwarz-Weiß-Film. Ein Auto fährt durch die Wüste in Arizona. In der nächsten Szene des Streifens sieht man nur die beiden Beine eines Mannes, der sich auf einen selbstgeschnitzten Wanderstock stützt. Das Auto fährt an ihm vorbei und hält an einer Tankstelle mit angeschlossenem Dinner.
„Na, wie findest du das?, fragt er mich.
Ich, wie aus der Pistole geschossen: „Der versteinerte Wald“. Goldi darauf: „Woher kennst du als Ossi diesen Film nach einem Theaterstück von Robert E. Sherwood?“
Scheinbar denken sie in Amerika alle, dass die DDR kulturell hinterm Mond war.
Ich antworte ihm: „Eines meiner Lieblingsbücher ist „Jahr der leeren Träume“ von Richard Yates. Hat meine Mutter von Buchclub 65 bekommen. Jeden Monat gab es ein Buch. Für mich Begegnung mit der Weltliteratur. Dort führen sie im ersten Kapitel ein Theaterstück auf, dass der „Versteinerte Wald“ heißt, auf. Ich wurde neugierig.
Dann lief im Fernsehen einmal die Verfilmung des Stücks mit Humphrey Bogart und Bette Davies. Kurzfassung der Handlung: Kellnerin Gabrielle in einsamem Imbiss, die literaturinteressiert ist, lernt bei der Arbeit resignierten und verarmten Schriftsteller kennen und verliebt sich in ihn. Er benutzt einen Überfall, um sich von Gangstern erschießen zu lassen, und ihr seine Lebensversicherung zuzuschanzen.
J.D.:“Der versteinerte Wald“ gehört zu meinen Lieblingsfilmen.“
Ich frage ihn: „Was soll eigentlich das blöde Ende. Gabrielle, die Francois Villon Verehrerin, steht doch auf den Schriftsteller. Was muss er sich da mutwillig erschießen lassen, damit sie seine Lebensversicherung bekommt.
Sie will nicht die Kohle, sie will ihn. Ein hanebüchener Schwachsinn. Wenn man sich in einen Kerl verliebt, möchte man doch nicht, dass er einem in den Armen stirbt und mir seine Lebensversicherung hinterlässt, sondern ich möchte ihn vernaschen.
Und ich habe auch nie begriffen, warum sie bloß immer so ein Gewese um Francois Villon gemacht haben. Ich für mein Teil habe nie verstanden, was alle an ihm fanden. Auf jedem Straßenfest eine Theatertruppe die das „Manifest“. oder wie das hieß, von ihm aufführte, sage ich.“
„Anderes Problem. Wie willst du eigentlich die Wüste Arizonas mit der Mark Brandenburg in Verbindung bringen?“, frage ich Goldi. „Da haben wir uns was einfallen lassen“, erwidert er. „Wozu haben wir einen Könner wie Salinger in unseren Reihen.“
Ich habe das Rollenheft gelesen, das J.D. mir gegeben hat und frage: „Was ist jetzt mit der einsamen Waldschenke, die nicht fehlen darf? Wo immer eine geheimnisvolle, uralte Frau sitzt, alle nennen sie nur die Saufliesel, die vor sich her murmelt: „Etwas wird passieren, woran ihr alle nicht denkt.“ Die Handlung ist doch so angedacht, dass Fonte, per Pedes unterwegs auf Brandenburgs Wegen, dort in einer stürmischen Nacht absteigt“.
Goldstück und J.D.SALINGER lächeln geheimnisvoll. „Wart´s ab. Gleich bekommst du etwas zu sehen, was deine Fragen beantworten wird.
Jetzt öffnet sich der Vorhang aufs Neue und gibt den Blick auf das Bühnenbild frei. Wir sind in einer Waldschenke in der Mark Brandenburg um Achtzehnhundert. Mitten unter den anderen Gästen der Waldschenke sitzt allein ein weißbärtiger Mann. Ein Amerikaner, der sich in der Gegend verlaufen hat. Er ist Schriftsteller und will einen Reisebericht über Deutschland schreiben. „My name is Walt Whitman“, sagt der Weißbärtige.
Fonte hat kein Problem, sich mit ihm zu unterhalten. Nehme ich jetzt einmal so einfach an, da er selbst einen Text über seine Reise nach England verfasst hat. Er heißt „Ein Sommer in London“. Übrigens genauso einschläfernd wie die „Wanderungen“.
Auf der Bühne läuft inzwischen die Probe für das Stück weiter.
Eine Frau betritt das Gasthaus: „Mein Mann ist vor drei Tagen ins Moor gegangen, weil ihm da ein verdächtiges Licht aufgefallen ist. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht.“ Sofort machen sich Fonte und die Anderen aus dem Wirtshaus auf die Suche nach dem Vermissten.
Ich sage zu J.D. und Goldi: „Euch ist aber schon klar, dass wir hier nicht bei Edgar Wallace und seinem „Wirtshaus in Dartmoor“ sind? Vielleicht sollten wir lieber ein Musical mit dem Titel „Viele Grüße vom Zinker“ kreieren, statt diesem Fonte goes Amerika Quatsch?
Goldstück: „Ich habe eine andere Idee. „Vielleicht sollten wir die Beiden zusammenkommen lassen. Eine Liebesgeschichte? Walt Whitman war schwul.“
J.D. darauf: „So weit, von Fonte das Gleiche zu behaupten, würde ich dann doch nicht gehen. Aber ein Anderer aus den Wanderungen käme eventuell dafür in Frage.“
Er sagt: „Wir brauchen unbedingt noch ein Gespenst“. Ich darauf: „Geht auch eine Gespenstin? Da hätte ich jemand vorzuschlagen. Was hältst du von Undine? Andere Gespenster aus Brandenburg kenne ich nicht.“ „Ist das nicht die Nixe, die einen Ritter ins Wasser gezogen hat, weil er sie verlassen hat?“, fragt unser Goldstück.
Ich darauf erstaunt: „Genau. Du kennst dich ja mit den Romantikern aus, denn das Märchen ist von von F. la Motte de Foque, einem Dichter, der in Schloß Nennhausen im Brandenburgischen wohnte, verfasst worden.“
J.D. Ist anderer Meinung. „Undine taucht doch gar nicht in den „Wanderungen auf.“
Ich staune über seine Textkenntnis. Ich muss ihm aber Recht geben. Undine kommt da wirklich nicht vor, auch wenn Fonte ein Freund von Friedrich de la Motte Fouqué war, dem Verfasser der Undine.
„Vielleicht können wir die Nixe doch verwenden. Wer hat schon die „Wanderungen“ genau gelesen?“, meint Goldstückchen. „Ein zerstreuter Professor darf auch nicht fehlen als Rahmenhandlung. Hier wird er von Fonte verkörpert. Oder vielleicht sollen wir doch besser Walt Whitman nehmen.“
„Ein schwuler Rittergutsbesitzer, eine tropfende Gespenst*in, ist das nicht ein bisschen viel Phantasie für die Mark Brandenburg. Ich wollte bloß bemerken, dass wir erheblich wegdiffundiert sind von Fonte“, sage ich zu den Beiden.
Goldi: „Ich betrachte die „Wanderungen“ eigentlich nur als unverbindliche Empfehlung, quasi als lockeren Leitfaden.
Ich: „Leute ihr wollt zuviel. Bleibt beim Thema. Kennt ihr Klaus Manns „Revue zu vieren“ Da hat auch er auch zuviel gewollt, genauso wie ihr jetzt. Das Stück ist in Bausch und Bogen gescheitert.“
J.D. darauf: „Was soll ich machen? Ich werde so von Ideen überwältigt, dass ich nicht weiß, welcher davon ich den Vorrang gebe soll.“
Ich: „Das mit Klaus Mann hab ich nie begriffen. Ich meine, warum er seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Er hat es doch eigentlich gut getroffen. Seine Eltern haben sein Schwulsein toleriert. Da hätte er mal in einer preußischen Beamtenfamilie aufwachsen sollen. Da hätte er bestimmt zu hören bekommen: „Schande der Familie.
Du übertrittst nicht mehr meine Schwelle.
Das mit seiner Schullaufbahn fand ich auch cool. Wenn ihm an einer Bildungseinrichtung was nicht gepaßt hat, ist er einfach auf die nächste Privatschule gewechselt. Habe ich in seiner Autobiographie gelesen. Sowas kann ich mir gar nicht vorstellen.
Ich habe, musste eisern durchgehalten in meiner Berufsausbildung mit Abitur. Und die gemeinsame Theaterarbeit mit seiner Schwester, ihre Reisen in alle Welt. Dann kamen 33 die Nazis und alles änderte sich. Seine Familie konnte aber nach Amerika auswandern und überstand dort die Diktatur. Eigentlich hat er doch Glück gehabt.“
Zurück zur Waldschenke.
Wo waren wir stehengeblieben? Die Schauspielerin sagte gerade: „Mein Mann ist vor drei Tagen ins Moor gegangen, weil ihm da ein verdächtiges Licht aufgefallen ist. Seitdem ist er nicht wieder aufgetaucht“. In dem Moment rief Goldstückchen ganz laut: „Pause“. Alles ging zur Tür. Goldi macht den Technikern ein Zeichen, dass sie den Film unterbrechen sollen, der bis dahin ohne Ton auf der Leinwand im Bühnenhintergrund lief.
Wir sind hungrig.
Der Pförtner, der Sohn von J.Ds Kumpel, der, mit dem er 1944 am D-Day zusammen in der Normandie gelandet ist, schließt für uns die Kantine auf. Als ich eintrete, fühle ich mich in den Film „Mephisto“ versetzt. Endlich bin ich mal in einer richtigen Theaterkantine, so eine wie die am Hamburger Künstlertheater, wo viele Szenen spielen. Es fehlt nur noch Gustaf Gründgens, der am Tresen steht und bettelt, dass seine Spiegeleier angeschrieben werden.
Er war ja das Vorbild für Hendrik Höffgen aus Klaus Manns Geniestreich. Er soll das dem früheren Freund nicht verziehen haben und seine Beziehungen spielen gelassen haben, um das Erscheinen des Buches zu verzögern. Dessen Erfolg in Deutschland hat Klaus Mann nicht mehr erlebt. Ich finde, sein einstiger Jugendfreund kann froh sein, die Hauptfigur im Roman zu sein. Sonst würde ihn heute niemand mehr kennen. So ist er verewigt worden.
Ein Kumpel von mir, der in Streganz, bei Königs-Wusterhausen, wohnt, hatte mir erzählt, dass in Zeesen, das gleich in der Nähe ist, im besetzten Gutshaus, Sommerfest ist.
Damals wusste ich noch nicht, dass mit Gutshaus die ehemalige Villa von Gustav Gründgens gemeint war. Ihn kenne ich durch „Mephisto“ von Klaus Mann, wo die Hauptfigur mit ihm in vielem identisch ist. Vorher soll das Haus einem Juden gehört haben, der ins Exil gegangen ist.
Das Sommerfest in Zeesen war genauso wie die Straßenfeste auf dem Traveplatz oder in der Kreuziger im Friedrichshain. Es kamen viele Interessierte Einheimische, aber keiner der Hausbesetzer unterhielt sich mit ihnen.
Gerade auf einem Dorf wie Zeesen, gehört zu KW, war so eine Ansammlung von fortschrittlich gesinnten jungen Leuten doch etwas Besonderes. Wenn es so etwas in meinem Dorf gegeben hätte, wäre das zu schön gewesen, um wahr zu sein. Sie könnten sich um den Teil der Dorfjugend kümmern, der auch nicht so ganz rein passt und Gedichte schreibt und auf der Gitarre klimpert.
Ein abgebrochener Altphilologe, viele Hausbesetzer sind oder waren ja Studenten, hätte die Ingeborg Bachmann der Mark entdecken können und sich in die Analen der Literaturgeschichte einschreiben können.
Der Musikus, der bei dem Straßenfest am Grill stand, ich hatte ihn im Schokoladen schon mit seiner Band gesehen, könnte einem talentierten Dorfbengel die ersten Griffe auf der Gitarre zeigen und ihm seine alte Wanderklampf schenken. Wenn der dann später ein ganzes Stadion in Atem hält, ist sein letzter Song seinem Lehrmeister gewidmet.
Statt diese erfreulichen Möglichkeiten, die sich boten, beim Schopfe zu packen, reagierten die Besetzer abweisend auf die Neugierde der Zeesener, die nur zu verständlich war, denn trotz Berlinnähe war Zeesen ja ein Dorf. In meinem Dorf in Mecklenburg, aus dem ich stamme, wären sie in ihrem wilden Aufputz gleichbedeutend mit gelandeten Marsmenschen gewesen.
Ausgeflippte Leute, die die Gegend um KW hervorbrachte, zog es bald in die Hauptstadt.
Das ganze Hausbesetzerische war in meinen Augen ein Versprechen, welches nicht eingelöst wurde. Vielleicht waren die Protagonisten überfordert mit der Rolle, in die sie geschlüpft waren. Anerzogene Vorurteile, die meisten kamen aus dem Bildungsbürgertum im Westen, kann man nicht einfach so abstreifen.
So innerlich frei, wie die Leute sein wollten, waren sie gar nicht. Sie haben es aber wenigstens versucht. Muss man auch anerkennen.
Goldstückchen zu mir: „Mit der Ingeborg Bachmann der Mark, die der Entdeckung harrt, meinst du doch dich selber.“
Zurück zur Kantine. Nichts mit Spiegeleiern. Ein Pizzabote bringt einen Riesenstappel Kartons vorbei. Die Kantine ist ja offiziell zu. Bei uns am Tisch sitzt der Schauspieler, der den Franz Liebkind spielt, samt seinem Ledermantel. Mit dabei der rote Kater. Er sitzt unbeweglich auf seiner Schulter. „Wie machst du das bloß?“, frage ich ihn. „Ich habe eine intiutive Gabe, mit Tieren umzugehen“, antwortet er. Samuel Goldstück hat mich in der Subway angesprochen, weil ich ihm mit meiner Katze auf der Schulter auffiel.“
Auch im Prenzlauer Berg der Achtziger bin ich öfter einem jungen Mann, ganz kahlgeschoren, seiner Kleidung nach zu urteilen aus der schwulen Lack-und Lederszene, auf dessen Schulter völlig unbeweglich eine Katze saß, begegnet. „Wie macht er das bloß?“, dachte ich bewundernd.
Einmal sah ich ihn samt Katze, wie er sich U-Bahn Alexanderplatz auf dem Bahnsteig mit der Verkäuferin von dem dort befindlichen Imbiss unterhielt. Eine Frau in den Fünfzigern. Verblüfft stellte ich fest, dass es sich um keine Frau handelte, sondern ein Mann in Frauenklamotten war.
Nach dem Essen gehen wir wieder in den Zuschauerraum vom Theater.
S.Goldstück legt eine DVD in einen Player. Sofort erscheint im Hintergrund der Bühne, wo sich eine weiße Leinwand befindet, ein Foto des Ruppiner Sees. Goldi, wie ihn hier alle nennen, sagt: Kuckt mal, was ich mir ausgedacht habe“.
Ich traue meinen Augen nicht. Da werden doch tatsächlich weiße Schwäne aus Pappmachee an dem Foto vorbeigezogen. „Wir sind hier nicht mehr in den Fünfzigern“, sage ich. „So was habe ich mal in einer Filmaufnahme von „Schwanensee“, wo noch Galina Uljanowa die Odette tanzt, gesehen.“
J.D.SALINGER wird hellhörig. „Wen hat sie getanzt? Oana? Ich erwidere: „Ne, Odette.“ Goldi stößt mich an. „Er ist nie darüber hinweggekommen, dass ihn Oana O´Neil, die Tochter des berühmten Dramatikers Eugen O´Neil, verlassen hat. Sie war siebzehn, als sie sich in Chaplin verliebt hat“, flüstert er mir zu.
Da wird mir plötzlich klar, dass auch Marcel Proust ein Fan von Schwanensee gewesen sein muss. Nicht umsonst heißt eine Hauptfigur in der „Recherche“ Swann und die Geliebte von ihm Odette. „Vielleicht sollten wir das Ganze mit dem „Tanz der kleinen Schwäne“ von Tschaikowski unterlegen“, schlage ich vor.
J.D. antwortet mir: „Ich sehe schon, dass das alles in ein „Frühstück für Hitler“ Ding reindriffet. Ich antworte: „Erstens heißt es „Frühling für Hitler. Ich kenne den Film gut, und außerdem war das Musical ein Riesenerfolg.“
Samuel Goldstück, genannt Goldi: „Leute, laßt die Finger von Tschaikowski. Ich habe meinem Enkel versprochen, dass er die Musik zu den „Wanderungen“ komponieren kann. Und er ist Hip-Hop-Künstler.“ Ich darauf: „Vielleicht kann er ja „Schwanensee“ mit Beats unterlegen?“
„Und du wolltest wirklich mal Tänzerin werden?“, fragt er mich.
Ich antworte: Mir ist mal mit zwölf ein sowjetisches Kinderbuch über Galina Uljanowa, eine der größten Ballerinnen der Welt, in die Hand gefallen. Ab da stand mein zukünftiger Beruf für mich fest. Ich bekniete meine Mutter, mit mir zur Aufnahmeprüfung in die Tanzschule zu fahren. „Was soll´n die Leute denken?“, war ihre Antwort. Ich sah dafür aber immer die Sendung Solo und Pas de Deux.
Einmal brachten sie sogar eine alte Aufnahme mit meiner Galina. Das Bühnenbild sehr merkwürdig. Zogen sie dort doch tatsächlich im Hintergrund Schwäne aus Pappe an einem Bühnenbild, auf das ein See gemalt war, vorbei.
Goldi hat noch eine andere Idee. „Wo du gerade „Frühling für Hitler“ erwähnst und Proust und Tschaikowski. Was haltet ihr davon, unsere ursprüngliche Idee, einfach Fonte ein schwules Image zu verpassen, wiederaufzunehmen? Die war gar nicht so schlecht, und damit ist uns eine bestimmte Community als Kartenkäufer sicher.“
J.D. antwortet: „Ich sehe keine Möglichkeit, dass in unser Musicallibretto reinzuschreiben. Ich muss ihm beipflichten. „Das geht mir auch zu sehr in die Richtung von dem Kultfilm, wo Meatloaf mitgespielt hat. Der Name ist mir entfallen.“
Die anderen kennen das Musical nicht. „Das ist der, wo alle immer mit Regenklamotten ins Kino gehen und sich mit Wasser vollspritzen“, versuche ich ihr Gedächtnis aufzufrischen.
Bei ihnen löst das aber keine Erinnerungen aus. Jetzt fällt mir der Name von dem Film wieder ein. Rocky Horror Picture Show. Sie stammen wohl beide aus einer anderen Zeit.
„Andere Frage. Wie stand eigentlich Fonte zu gleichgeschlechtlicher Liebe? Hat er sich jemals dazu geäußert?“ Goldi: „J.D. und ich haben alle seine Werke gelesen, aber darüber nicht ein einziges kleines Wort entdeckt. Das Thema war wohl zu heiß um Achtzehnhundert.
Fonte wurde ja schon als Sittenstrolch hingestellt, nur weil er andeutete, dass Lene und der Baron eine Nacht in einem Gasthaus namens „Ablage“ verbrachten, ohne verheiratet zu sein. Viele Leser bestellten empört die Zeitung, die den Roman „Irrungen, Wirrungen“ als Fortsetzungsroman veröffenlichte, ab.“ „Wie haben die Leute sich bloß damals vermehrt?“, frage ich. „Von Sex wollten sie ja gar nichts wissen.“
J.D. schlägt vor: „Vielleicht sollten wir Fonte hetero lassen - soweit würde ich nun auch nicht gehen, zu behaupten, dass mit allen seinen Frauenfiguren, die wegen den gesellschaftlichen Konventionen in der Liebe scheitern, in Wirklichkeit Männer gemeint waren - aber dafür einen oder mehrere von den vielen Grafen und Marschällen mit einem Hauch von Travestie ausstatten.
In den vielen Feldlagern ist es bestimmt nich immer so hetero zugegangen. Das war ja ein frauenfreie Zone.“ Darauf können wir uns schließlich einigen.
Die große Tür zum Zuschauerraum geht auf. Ein weißhaariger Herr kommt auf mich zu. Ein Junge, ungefähr vierzehn, hält ihn, der mächtig zittrig wirkt, an der Hand. Zu meinem Erstaunen schmettert der Bejahrte, als er uns sieht mit lauter Stimme: „Hey, Carrie Anne
What's your game now? Can anybody play? ...“
Jugend. Lebensfreude pur. Alles, was ich längst vergessen habe. Erinnerungen an Zeiten, wo ich noch an die Liebe geglaubt habe und Illusionen besaß, die mir längst geraubt längst wurden, kommen auf. Sein Gesicht strahlt so einen naiven Glauben an eine harmonische Welt aus, dass er mir richtig leid tut. „Er ist immer noch in den Sechzigern, als seine Band ihre große Zeit hatte“, denke ich. Ich hätte gar nicht vermutet, dass der Sänger noch lebt.
Von ihm geht der Leichtsinn und die Gutmütigkeit der Jugend aus. Und aus seinen Augen leuchtete ein naiver Glauben an das Leben. Ich sage zu ihm: "Ich liebe diesen Song".
„Stell dir das nicht so einfach vor“, sagt er zu mir. „Du haust einen Song raus wie diesen hier, und dann kommen sie und sagen glatt: „Noch so einen.“ Mach das mal.“
Ich verstehe ihn. So was geht nicht auf Knopfdruck. Das merke ich ja auch bei meiner Schreiberei, wo mir manchmal die Einfälle völlig versiegen.
Ich staune, dass er, der sich kaum auf den Beinen halten kann, noch dieselbe Stimme hat, wie früher.
„Was macht der denn hier?“, frage ich Goldi. Seine Anwort lautet: „Wir brauchen Musik. Was meinst du wohl, wo überall Eric Charell bei seinem „Zum Weißen Rößl“ die Nummern zusammengeklaut hat? Ich war damals als Kinderdarsteller dabei, Anfang der Dreißiger im Friedrichstadtpalast, der damals noch gar nicht so hieß.“
Er zeigt mir ein Photo, auf dem ein niedlicher kleiner Junge vor einer Theaterkulisse steht, einem Hotelportal über dem sich das geschwungene Namensschild „Zum Weißen Rößl“ wölbt. „Eric Charell ist auch später vor den Nazis geflüchtet und arbeitete in Hollywood“, sagt er.
J. D. flüsternd zu mir: „Ich halte dieses Goldstückchen für einen Aufschneider. Weder hat er Eric Charell gekannt, noch im Friedrichstadtpalast in den Dreißigern auf der Bühne gestanden. Er müsste ja sonst schon über hundert sein. Er ist ein Schlitzohr.“
Goldi erzählt: „Allan, so heißt der Sänger, hat mir die Rechte für einen Song überlassen. Er möchte im Gegenzug live auftreten, da er in finanziellen Schwierigkeiten steckt nach seiner fünften Scheidung.“
„Hallo Allan“, begrüßt er unseren Gast. „Vielleicht hättest du mit siebzig keine Neunzehnjährige heiraten sollen.“
Der Sänger antwortet darauf: „Dann hätte ich ja meinen Sohn nicht“ und weist auf den Jungen.
Ich wundere mich, wie Goldstück die „Wanderungen“ und den Song zusammenbringen will. Von der Entstehungszeit liegen sie ja an die hundert Jahre auseinander.
Goldi sagt: „Das kriegen wir schon hin. Ich möchte auch in erster Linie, dass Allan, neben seiner Singerei, jedesmal, wenn ein Aufzug zu Ende ist, als Erzähler auf die Bühne tritt und erklärende Worte spricht.
Goldi erzählt mir: „Ich hatte mir das folgendermaßen gedacht: Als der Baron von Knesebecks das Dienstmädchen Carolina, das in Wirklichkeit eine Hohenzollern ist, anmacht, singt er: „Hey Carry ...
Dabei spült sie am Ufer des Parsteiner Sees Wäsche und legt sie zum Bleichen auf die Wiese.“ Ich darauf: „Ich dachte, es handelt sich hierbei um den Ruppiner See.“ Goldi darauf sorglos: „See ist See. Das nimmt sich nichts.“
Damals klappte das immer alles nicht mit der Liebe wegen dem Ständewesen. Kein Adeliger nahm eine Bürgerstochter zur Frau. Hatten wir es gut in der DDR, weil wir die Gutsbesitzer und Kapitalisten vertrieben haben. Jetzt sind wir alle gleich und müssen keine Standesrücksichten mehr nehmen. Geld haben wir auch alle nicht, da die Produktionsmittel dem Volke gehören. Jetzt kann ich heiraten, wen ich will. Keinem wird mehr das Herz gebrochen. Dachte ich jedenfalls optimistisch. „So einfach ist es ja nun auch wieder nicht“, wurde mir später klar.
Andere Frage: „Wie wollt ihr eigentlich mit der altertümlichen Sprache klarkommen?“ Originalton Fonte, als er jemand nach dem Weg fragen wollte: „Ich sah bald, daß der älteren märkisch-wendischen Heimatskunde hier keine Quelle floß, und war denn auch rasch entschlossen, durch eine Diversion jeder weiteren Verwirrung vorzubeugen.“
J.D. darauf: „Das verstehen die Leute im Zuschauerraum sowieso nicht.“
Die Frau mit den zerzausten weißen Haaren, die am Wirtshaustisch vor der Kulisse von der alten Waldschenke sitzt, legt schon wieder los: „Ihr seid alles Verdammte. Das Böse wird kommen und euch holen.“ Sie ist nicht mehr zu bremsen und nervt. Goldi legt ihr die Hand beruhigend auf den Kopf. „Ich schicke jemanden zum Kiosk und lasse eine Flasche Jack Daniels holen Mary Ann.“ Sofort ist die Frau still.
Zu mir sagt Goldstückchen: „Da wir uns keine Schauspieler leisten können, habe ich Leute angesprochen, die im Central Park übernachten.“ Ich denke: „Das ist ja hier wie bei der Theatertruppe „Ratten“ in der Volksbühne. Der Regisseur aus Irland hatte meinen Kumpel, der mal zeitweise auf der Straße lebte, am Kotti in Kreuzberg angesprochen. Sie führten „Warten auf Godot“ auf. Aus ihm wurde ein begeisterter Schauspieler“.
Goldi sagt: „Auf das Plakat lasse ich einen großen Wanderstock drucken. „Ich darauf: „So ein Plakatmotiv wird die Menschen scharenweise in die Vorstellungen treiben.“
Goldi erzählt mir: „Langfristig spekuliere ich auf eine Verfilmung des Stoffes. Tief im Innersten bin ich ein verhinderter Filmregisseur.“
Wieder geht der Vorhang auf. Man sieht ein Feld. Es erklingt ein Ohrwurm aus den Dreißigern. S.Goldstück: „Ich weiß, es wir irgendwann ein Wunder …“ geben wir einfach als Volkslied aus der Mark aus und legen es den einfachen Leuten in den Mund.
Ich: „Aber das ist doch kein Volkslied.“ Er darauf: „Denkst du im Ernst, dass das hier in Amerika irgend jemand weiß, außer ein paar Germanisten, und die gehen sowieso nicht zum Tingeltangel, für das sie unser Stück halten.
„In der Mitte des Feldes sind die Garben aufgeschichtet. Deshalb verkaufen es einfach als „Lied der Garbenbinderinnen“, sagt Goldi.
„Ich habe daraus ein Ballett kreiert. In der Schlussszene tanzen die märkischen Bauern auf dem Feld um die aufgestellten Garben herum. Dabei singen sie: „Es wird einmal ein Wunder geschehen“.
Ich denke bei mir: „Die Bauern sehen ganz schön komisch aus. Mit Pantoffeln an den Füßen und mit Pluderhosen als Beinkleider. Wie auf einem Mittelaltermarkt.“
Mit ihnen tanzt das Liebespaar Carolina und Baron von Knesebeck, bis seine Eltern auftauchen und von ihm fordern mitzukommen. Ansonsten wird er enterbt.
Er erwidert, dass ihm das egal ist, und dass er mit der Frau, die er liebt, in Armut leben will. Daraufhin kommt ein Bote zu Carolina und teilt ihr mit, dass sie eine Prinzessin ist und große Ländereien und ein Schloß auf sie warten.
„Den Textdichter konnten die Nazis gar nicht leiden“, sagt unser Regisseur. Ich darauf: „Was hat ihnen denn nicht gepasst? War er Jude oder Kommunist?“
„Ne, schwul war er.“
S.Goldstück erzählt mir: „Die Strophen hat Bruno Balz, der Texter nicht nur von „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen, sondern auch von „Davon geht die Welt nicht unter“ war, in einer Gestapozelle in der Prinz-Albrecht-Straße geschrieben. Die Nazis hatten ihn auf frischer Tat zusammen mit seinem Lover erwischt. Gleichgeschlechtliche Liebe stand ja unter Strafe. Aus der Prinz-Albrecht-Straße sollte er ins KZ überführt werden. Das war 1941. Ihn rettete, dass für einen Zarah Leander Film Liedtexte benötigt wurden.“
Wieder geht die Tür zum Zuschauerraum auf. Eine uralte Dame wird von einem livrierten Chaffeuer hereingeschoben. Sie ist verschleiert und an den Händen trägt sie Handschuhe aus Spitze. Ich fühle wie Goldi erstarrt. „Das ist sie, Norma, unsere Mäzenin“, flüstert er. „Sie ist der berühmte Stummfilmstar. Ihr fünfter Mann war ein steinreicher Erzmogul.“ Trotz ihres hohen Alters begrüßt sie uns mit jugendlicher Stimme.
J.D. nimmt micht beiseite. Er sagt: „Das ist nicht der berühmte Stummfilmstar, sondern ihre Tochter oder sogar schon ihre Enkelin. Es kursieren Gerüchte, dass die Aktrice total dement ist. Dem wollen ihre Verwandten entgegentreten. Auch weil sie dann nicht mehr, die Verfügung über ihr Vermögen haben. Rate mal, warum die Dame Handschuhe trägt.
Das ist deshalb, damit man nicht sieht, dass ihre Hände nicht die Hände einer alten Frau sind. Wenn die große Norma ab und zu mal in der Öffentlichkeit auftaucht, hält das die bösen Zungen ins Schach.
Ich fahre sinnlos auf Stummfilme ab. Es tut mir leid, dass die Stars der Ära beim Tonfilm so untergegangen sind. Von einem Tag auf den anderen ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Stelle ich mir superschwierig vor. Vielleicht ist es besser, man war nie berühmt. Dann weiß man auch nicht, wie es ohne Ruhm ist. Einfach, weil man so was gar nicht kennt, und es deshalb nicht vermisst.
Ist wohl schwer für eine Schauspielerin eine Rolle zu bekommen, wenn sie den Reiz der Jugend nicht mehr hat. Irgendwie wollen sie die Frauen zwingen, immer jung zu sein. Dann wirst du hofiert, später fallengelassen.
Ich will ehrlich sein. Das mit den Handschuhen, die die junge Frau trägt, um die alte Stummfilmdiva glaubhaft zu verkörpern, die natürlich nicht mehr die glatten Hände einer Jugendlichen hat, habe ich aus einem Hollywoodfilm geklaut, dessen Namen ich nicht mehr rauskriegen konnte.
„Hast du Lust für jemanden auf der Bühne einzuspringen?“, fragt mich J.D. Der Schauspieler, der den Fonte spielt, ist heute Nacht verhindert. Er hat nachher noch einen Nebenjob als Parkplatzwächter. Wir geben dir den Text und du mimst die Rolle. „Na gut, ich übernehme für ihn.“
Ab jetzt bin ich Fonte. Mein Vorgänger, ein zartes Jüngelchen, gibt mir seine Perücke, an der ein Bart befestigt ist. Das hier ist nämlich eine Probe, die in Kostümen stattfindet. „Bist du sicher, dass er so aussah? Er erinnert mich an Vater Abraham von den Schlümpfen mit dem langen weißer Bart,“ frage ich. Goldstückchen darauf: „Ist ja egal, einen weißen Bart hatten sie doch alle damals. Da kann man nichts falsch machen.“
„Ich will nichts Nachteiliges über andere sagen, aber in meinen Augen ist der Darsteller des Fonte zu jung für die Figur“, sage ich.
Darauf Goldi: „Was macht das? Der Schauspieler der Professor Abronsius in „Tanz der Vampire“ gespielt hat, war auch bestimmt zwanzig, dreißig Jahre jünger als das weißhaarige Männlein, das er in seiner Rolle war. Auch diesen Film müssen wir einbauen. So verlangt es der Geldgeber.
Ich bei mir: „Also gibt es den geheimnisvollen Filmenthusiasten doch, und er ist keine Fantasiegestalt.“
„Wenn er uns die Kohle streicht, können wir hier dichtmachen“, sagt unser goldener Regisseur.“
Ich habe den weißen Bart umgehängt und sitze mit den anderen in der Waldschenke. Die Tür geht auf. Ein Raunen geht durch die Leute. „Das ist der Alte Ziethen.“ Ein hochbejahrter Mann im Reiterkostüm tritt ein und setzt sich bei mir und Whitman an den Tisch. Wir beginnen ein Gespräch und er erzählt uns von seinen Schlachten, in denen er gekämpft hat, bis der Wirt kommt. „Wir machen jetzt dicht“, sagt er.
Der Alte Ziethen fragt uns: „Habt ihr Lust bei mir auf dem Schloss zu übernachten? Die Dorfbewohner behaupten ja, dass es da spukt, aber das ist der Phantasie der Leute hier geschuldet.“ Walt und ich sind müde, darum lassen wir uns nicht zweimal bitten und folgen ihm, als er nach Hause geht.
Ich und Walt Whitman bekommen jeder ein Zimmer. Es klopft bei mir. „Kann ich bei dir im Bett schlafen?“, fragt Walt mich. Mir ist irgendwie unheimlich so allein. Ich rücke beiseite und mache Platz unter dem Federbett. Da klopft er wieder. Der Alte Ziethen steht da. „Ich möchte bei euch übernachten.“ Nur zu, dass Bett ist riesig.
Kurz nach dem die zwölfte Stunde geschlagen hat, ertönt ein merkwürdiges Geräusch. Ein Frau scheint zu weinen. Ich sehe aus dem Fenster in den Park. Dort wandelt eine weißgekleidete Gestalt umher und stößt Klagerufe aus. Sie scheint ihren Geliebten zu rufen. Das ist die Weiße Frau, sagt der Alte Ziehten.
Walt Whitman fühlt sich an Emily Dickinson erinnert. „Eine amerikanische Dichterin, die das Haus nur noch nachts verließ und weißgewandet in der Gegend umherwandelte.“ Er zitiert:
"Hoffnung" ist das Ding mit den Federn —
Das in der Seele sitzt —
Und die Melodie ohne Worte singt —
Und niemals aufhört — überhaupt
Jetzt wird mir klar, warum der Alte Ziethen uns unbedingt mit in sein Schloss nehmen wollte, und warum er bei uns im Bett schlafen wollte. Ihm es unheimlich hier allein im Schloss, in dem es spukt. Gemeinsam liegen wir drei unter dem großen karierten Federbett.
O-Ton Fonte:
Dabei wird es kalt und kälter; das Abendrot streift die Kirchenfenster, und mitunter ist es, als stünde eine weiße Gestalt inmitten der roten Scheiben. Das ist das Weiße Fräulein, das umgeht, treppauf, treppab, und den Mönch sucht, den sie liebte. Um Mitternacht tritt sie aus der Mauerwand, rasch, als habe sie ihn gesehn, und breitet die Arme nach ihm aus. Aber umsonst. Und dann setzt sie sich in den Pfeilerschatten und weint.
Und unter den Altangesessenen, deren Vorfahren noch unter dem Kloster gelebt, ist keiner, der das Weiße Fräulein nicht gesehn hätte.*
Aber das ist erst der Anfang. Es kommt noch ärger. Ich wußte gar nicht, dass im Boden der Kapelle, die neben dem Schloß steht, so viele die letzte Ruhe gefunden haben. Aus sämlichen Begräbnisstätten, von denen es rings um das Schloß massig gibt, kommen sie gekrochen.
Es sind Ritter, die in ihren Gruften keine Ruhe finden können. „Immer, wenn Vollmond ist tanzen sie im Park. Bei den Ältesten, die mit den Hellebarden in der Hand, hört man ihre Rüstungen klappern“, sagt der Alte Ziethen. Er zieht mich zum Fenster.
Von dort kann man den Park gut übersehen. Er weist auf einzelne von den Gestalten. "Alles Vampire. Das ist Derflinger, das Geist von Beeren. Der lange Kerl hinter ihm Hans Albrecht von Barfuß. Erbprinz Leopold von Anhalt-Dessau auch mit von der Partie. Mein Oheim Hans von Zieten auf Wildberg und die Schliebens tanzen zusammen, Herr von Quitzow ist auch dabei."
Mir fällt auf, dass vielen ein Bein oder ein Arm fehlt. Manche haben noch den Säbel im Rücken stecken. Einige tragen auch den Kopf unterm Arm spazieren. Ich sage: „Das ist hier ja wie in dem Film den ich mal beim Bewerbungstraining gesehen habe. Ich glaube, es war „Die Nacht der Reiter ohne Kopf“ oder so was Ähnliches.
Ein Kollege hatte mir gezeigt, wo im Netz man die neuesten Kinofilme sehen kann. War natürlich nicht ganz legal. Wenn ein Lehrer den Raum betrat, klickte ich immer auf minimieren und rief stattdessen das Jobcenterportal auf.“
S.GOLDSTÜCK darauf: „Jetzt wird mir klar, warum deine berufliche Karrierre nicht steil noch oben verlaufen ist.“
Nach dem Tanz sitzen alle an einer langen Tafel, auf der ein weißes Tischtuch liegt. O-Ton Fonte: Außerdem liegen glaubhafte Berichte vor, aus denen sich ganz genau ersehen läßt, was an Königs Tisch gespeist wurde. Es gab: Suppe, gestovtes Fleisch, Schinken, eine Gans, Fisch, dann Pastete. Dazu sehr guten Rheinwein und Ungar. In Wusterhausen kamen noch, weil es die Jahreszeit mit sich brachte, Krammetsvögel, Leipziger Lerchen und Rebhühner hinzu, besonders auch Früchte zum Dessert, darunter die schönsten Weintrauben.*
"Dredow und Jago, auch Rittergutsbesitzer, sind ebenfalls mit von der Partie." Der Alte Ziethen zählt noch eine lange Liste von Namen auf.
Da fällt mir die Kinnlade runter. Gesang dringt an mein Ohr.
I hate to see that evenin' sun go down
It makes me feel like I'm on my last go 'round
If I'm feelin' tomorrow like I feel today
Damit hätte ich hier in der Mark nicht gerechnet. Ich sehe tatsächlich Ritter, die den Saint Louis Blues singen.
Das Lied eines Mädchen aus dem Mississippi Delta, das sich aufmacht ihren Freund wiederzufinden, der nach Saint Louis gegangen ist und sich nicht mehr meldet.
Sie findet ihn im Kreis seiner Freunde mit einer anderen Frau an seiner Seite. Ihr wird klar, dass sie abgemeldet ist. Er hat jetzt ein anderes Leben.
„Wie willst du diesen Bluessong den Leuten verkaufen? In ein Musical, das sich um die Mark dreht, passt er doch auf alle Fälle nicht rein.“
Da habe ich aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn Goldstück und J.D.SALINGER lassen sich nicht so leicht beirren. Der Letztere sagt zu mir: „Diesen Song haben wir eingebaut, weil Freundschaft herrscht zwischen den Deutschen und den Amerikanern. Altes urdeutsches Kulturgut wie Fontes „Wanderungen“ trifft auf Selbiges, bloß aus Amerika. Außerdem ist der Saint Louis Blues gemeinfrei, und wir haben wenig Geld.
Wieder zurück im Schloss.
Ich wache auf, als mich jemand in die Schulter beißt.
„Der Alte Ziethen ist selber ein Vampir“, wird mir plötzlich klar. Ich wecke Walt auf und wir beide flüchten aus dem Gruselschloß. Die ganze Meute, bestehend aus Jago, dem Alten Derflinger, Geist von Beeren, Herrn von Quitzow, Jago und wie sie alle heißen in den "Wanderungen", verfolgt uns und ist uns schon dicht auf den Fersen.
An dieser Stelle unterbricht S. Goldstück die Probe. Die Morgensonne geht schon auf. Er sagt: „Good bye Boys and Girls. Kommt gut nach Hause. Wir sehen uns wieder. Selbe Zeit. Selber Ort.“
Ich verabschiede mich von Goldi und J.D. „Alles Gute für euer Musical“, sage ich.
Mich überfällt aber Skepsis, und ich denke: „Es ist natürlich schlecht, wenn man überhaupt keine Idee und keinen Plan hat und trotzdem ein Stück, das noch gar nicht vorhanden ist, rein aus dem Stehgreif inzenieren möchte“, denn genau den Eindruck habe ich gewonnen.
Sagen tue ich aber zu den beiden: „Das wird nen Knaller Jungs. Das wird wie Porgy und Bess.“ Sie schauen mich ungläubig an. „Wie soll eigentlich das Stück heißen?“, frage ich. Beide gleichzeitig: „Husarenherz“. „Das ist der beknackteste Titel den ich je gehört hab. In Amerika wird er niemandens Interesse erwecken“, denke ich. Sage es aber nicht laut.
Aber ich kann Samuel Goldstück nicht täuschen. Er wendet sich zu mir: „Der Wert eines Kunstwerks wird nur daran gemessen, wieviel Leute in das Stück oder den Film gegangen sind, das Buch gekauft haben. Genüsslich werden Zahlen mit vielen Nullen in den Mund genommen. Wenn schon Hunderttausend das Buch gekauft haben, möchte man doch der Hunderttausendundeinste sein.
Merkt ihr´s noch? Jeder weiß, dass das Quark ist. Entscheidend ist einzig und allein der Zeitfaktor. Demfolge hat Bach alles richtig gemacht. Seine Mathäuspassion klingt immer noch wie neu nach zweihundertfuffzig Jahren. Auch unser „Husarenherz“ wird die Zeiten überdauern.“
Nach dem Adieu beame ich mich wieder zum Ostkreuz zurück.
Eine Weile danach google ich nach „Husarenherz“. Was muss ich lesen? Das Stück ein Renner am Broadway. Auf Wochen alle Vorstellungen ausverkauft. Alles singt jetzt: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“.
Die Verfilmung steht an. Den alten Ziehten will unbedingt Timothée Chalamet spielen, obwohl er erst Dreißig ist.
*Der rote Kater soll an den ukrainischen Dichter Maksym Krywsow, der zusammen mit seinem roten Kater an der Front fiel, erinnern. Er hat den Gedichtband "Gedichte aus der Schießscharte" veröffentlicht.
**Wanderungen durch die Mark Brandenburg
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