Ich, am Fenster

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Wladimir

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Ein Fenster erlaubt dem, der Drinnen, im Warmen ist, einen Blick nach Draussen, ins Kalte. Selbst im Sommer ist es draussen kalt - sozusagen.
Ich sitze an der Heizung, sie ist alt und laut, sie verbrennt mir den Hintern, wenn ich den Stuhl so ranrücke, dass die Lehne seitlich ist und ich dichtest. Gestern habe ich gemerkt, dass ein zusammengefaltetes Küchentuch hilft.
Ich sitze also, nahe und mit heißem Po und kühlen Händen. Das Fenster ist nun schräg hinter mir. Ich sehe zwei blaue Mülltonnen, für Papier, eine große schwarze für alles, die kleine braune für Organisches sehe ich, wenn ich mich rückwärts lehne, ganz gut. Organisches sammle ich am Spülbecken in einem tiefen Teller. Manchmal, im Sommer, öffne ich das Fenster, stelle das Organische auf die Fensterbank, und gehe damit zur Tonne, wenn ich aus dem Haus gehe. Das ist natürlich etwas intim, aber praktisch. Ich gebe den Hausbewohnern Einblick in meinen Kaffeesatz, meine Apfelbutzen und Paprikareste. So wissen sie, wenn sie gucken wollen, womit sich meine Organe gerade beschäftigen.
Desweiteren sehe ich eine Ranke, Wein ist das, das weiß ich immer im Sommer, wenn da grüne Blätter sind, oder im Herbst, wenn diese Blätter erröten. Der Wein zieht sich die blasse Wand hinauf. Der Verputz ist grobkörnig, dieser Verputz wie Hüttenkäse. Wenn ich das Sagen über diese Mauer hätte, wäre sie glatt, das finde ich einfach schöner. Einen Korb mit Netz für Ballspiele gibt es auch an der Mauer. Er ist direkt über der braunen Mülltonne. Niemand benutzt ihn. Jedenfalls hab' ich nie jemand gesehen.
Ich sitze also halbschräg vor einer jahreszeitabhängig teil-begrünten, popkorn-verputzten, mülltonnenbestellten Hauswand. Das ist mein ebenerdiger Ausblick in die Welt. Billy Collins, der Ex-Poet Laureate der USA, hat die Wichtigkeit des Fensters fürs Schreiben in seinem Gedicht 'Monday' festgehalten. Ich überlege, ob meine keine allzu guten Aussichten sind.
Doch, da ist ein Lichtblick. Der Spalt, der Raum - zwischen Wand und meinem Fenster (auf dem das Organische von mir rottet). Da passt was durch. Da kann man gehen. Da ist noch Luft. Manchmal klopft es an meinem Fenster, ich kenne ja die Hausbesitzerin gut, dann führt das zu Fensteröffnungen, zu Unterhaltungen. An Samstagmorgenden spielen oft die zwei, drei Jungens Fussball. Das ist laut und erinnert mich daran, dass ich lebe. Apropos Verbindungen zur Welt - morgens bin ich im Morgenmantel, hellgrün. Ich schreibe vor dem Duschen. Man kann mich sehen, auch wenn ich bis mittags brauche. Welche Schande. Manche tun so als ob das Fenster undurchsichtig wäre.
MONDAY: https://www.panmacmillan.com/blogs/literary/monday-by-billy-collins
© Wladimir
 

Wladimir

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Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren! Das ist mein erster Text hier, und du mein erster Kommentar. Freut mich, dass dir der Text gefällt.
(Zu 'traurig' fällt mir ein, dass das für einen Text auch okey sein könnte, muss ja vielleicht kein 'aber' rein. Ich denke, was ich schreibe ist manchmal lustig und melancholisch, falls das Sinn macht.)
 

ackermann

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Dein Text @Wladimir, hat mir sehr gut gefallen. Das liegt wohl an deinem Schreibstil, der, wie soll ich sagen, irgendwie anders ist. Wohltuend anders.

Gruß
ackermann
 



 
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