Ich bin Ich

Renechrissie

Mitglied
ICH BIN ICH
"Sie sind jetzt anders, Sie werden ganz viel Geduld haben müssen"
Wo bin ich? Was ist geschehen?
Nach einem nicht enden wollenen Kraftaufwand den linken Arm anheben zu wollen, entdeckte ich meinen kleinen Fingernagel. Er erstrahlte in einem frischen Grün. Es muss Stunden gedauert haben bis ich es schaffte die Bettdecke hochziehen zu können. Zwischendurch schlief ich vor Erschöpfung immer wieder ein. Doch dann sah ich ihn, meinen dicken großen Zeh. Er trug noch Reste von rotem Nagellack. Ab dem Moment wusste ich, ich bin ICH.
Später erfuhr ich, dass man mich für drei Wochen in ein künstliches Koma gelegt hatte. Mit einem Luftröhrenschnitt zur künstlichen Beatmung. Im Februar 2013 erwischte mich ein mieser Influrenza-Grippevirus. Und als wäre das noch nicht genug, kam noch eine Lungenentzündung hinzu. Resultierend aus den Ereignissen und der Kombination mit einem kurzen Sauerstoffmangel in meinem Gehirn erhielt ich mein "Dachschaden". Ja genau, mittlerweile kann ich das mit Herzenswärme sagen.
In meiner Kurzgeschichte über die Zeit in der ich wieder ganz viel von vorne lernen musste, möchte ich ein wenig erzählen. Auch um Leidensgenossen zu trösten, aufzumuntern und ihnen zu sagen, dass das Schicksal nicht immer das Schlechteste ist.
Fast drei Jahre lang, war ein Rollstuhl immer bei mir. Das Gehen fiel mir sehr schwer, nicht nur durch meine Gleichgewichtsprobleme, sondern auch durch die fehlende Kraft. Die Welt war mir einfach zu groß und ich hatte das Gefühl nicht komplett aus dem Koma wieder zurückgekommen zu sein.
Es folgten einige Rehas in denen ich mich unter anderem mit meinem "Dachschaden„ auseinander setzen musste. Ich lernte wieder in Sätzen zu spreche oder mit Messer und Gabel zu essen. Manchmal spürte ich die Verzweiflung in mir und oft musste ich bitterlich weinen, aber da ich auch eine Art kindliches Gemüt mit aus dem Koma genommen habe, hielt diese Stimmung nicht lange an.
Damals wohnte ich mit meiner Tochter zusammen, die tagsüber arbeiten ging. Ein Pflegedienst, Ergo- und Krankengymnastiktherapeuten und auch Freunde kümmerten sich liebevoll um mich. In der Zeit in der ich dann alleine war, machte ich viel Unsinn. Ja, ich hatte schon immer viel Phantasie und Kreativität, mit der ich jedoch besonders meine Tochter fast in den Wahnsinn trieb.
Eines Tages entdeckte ich das Internet und plötzlich bestellte ich mit drei Klicks eine Waschmaschine. Anfangs war ich mächtig stolz darauf, dass ich das konnte. Als ich dann die Bestätigung bekam, dass meine Waschmaschine in drei Tagen geliefert werden sollte, bekam ich Angst und beichtete es meiner Tochter. Am Abend sagte sie dann zu mir “Mama das darfst Du nie wieder machen" und ich versprach es ihr. Was ich damals nicht wusste, dass danach noch viele neue Ideen entstehen werden. „Unsinn passiert einfach, man plant es doch nicht, da kann ich doch nichts dafür„ sagte ich mal zu meiner Tochter.
Hatte ich schon erwähnt, dass ich vor meinem Koma viel gemalt habe?....sehr viel! Ich hatte 21 eigene Ausstellungen, habe viele Projektarbeiten gemacht und an Schulen Kunst und Schwarzlichttheater unterrichtet. Heute schätze ich, dass ich über 1800 Bilder gemalt habe, die nun die Wände auf der ganzen Welt schmücken. Ich habe Jahre gebraucht um alltägliche Handlungen z.B. Anziehen, Kochen, Lesen, Sprechen, Gehen und vieles mehr wieder neu zu erlernen. Aber das Malen mit der Liebe zu den Farben habe ich nie verlernt, es ist sogar besser geworden wenn man das so sagen darf. Ich male jetzt mit meinem inneren Kind. Hier bin ich Mensch, hier darf ich es sein.
Damals fiel es mir schwer mich dran zu erinnern, was nur 1 Stunde zuvor geschehen ist, also fing ich an ein Gedächtnistagebuch zu schreiben. Somit trainierte ich auch wieder das Schreiben. Am Anfang landeten die Buchstaben alle aufeinander. Der Vorgang die Buchstaben nebeneinander zu setzen war einfach nicht mehr da. Ich bin stark, also schreibe ich ohne Eitelkeit. Ich bin fest davon überzeugt, das in mir eine starke Lebenskraft steckt und vielleicht ein törichtes Vertrauen auf die Zukunft. Mit der Zeit klappte es immer besser, auch wenn die Buchstaben zuerst noch sehr groß waren, so standen sie in der Reihe. Geschafft!
Doch immer wieder stand ich vor neuen, größeren Herausforderungen. Herausforderungen die für meine „gesunden“ Mitmenschen völlig normal schienen. So stand ich eines Tages mit dem Schlüssel in der Hand vor meiner Haustüre. Und da stand ich dann...der Vorgang den Schlüssel ins Schloss zu stecken war einfach weg. Das hört sich verrückt an? Ja, nahezu unglaubwürdig. Wäre es mir nicht passiert, würde ich es selbst kaum glauben.
Zu Anfang war ich sehr oft verzweifelt und weinte viel wenn ich alleine war. Hinzu kam auch noch, dass ich körperlich nicht so fit war. Meine Beine zuckten oft einfach so wild herum krampften und schmerzten sehr. Nur mit ganz viel Mühe schaffte ich es ein paar Meter außerhalb meine Wohnung zu gehen.
In den ersten Jahren quälten mich Albträume und die Nächte waren sehr anstrengend für mich. Ich konnten am nächsten Morgen nicht zwischen Traum und Realität unterscheiden. In manchen Nächten schlief ich nicht, vor Angst dass diese Träume wieder über mich kommen, so malte ich in meinem Atelier die ganze Nacht durch.
So entstanden auch meine mittlerweile legendären „Schutzengeltaschenbilder“. Wenn mir ein Leinwand nicht mehr gefiel, trennte ich sie vom Keilrahmen und riss sie in kleine Stücke. Ich malte einen Kopf und einen Bauch mit weißer Farbe. Weiter zwei Augen, einen Grinsemund, zwei Beine, ein rechtes Ohr und ganz wichtig einen Bauchnabel. Mit einem Weißen Gelstift schrieb ich dann zum Schluss „Dein Schutzengel“ darauf. Diese Wiederholungen von immer dem gleichen Schutzengel bereiteten mir sehr viel Freude, besonders an Tagen in denen es mir nicht so gut ging. Spätestens wenn ich den Grinsemund zeichnete, musste ich selber schmunzeln. Dann verteilte ich sie wann immer ich es konnte. Jedes Mal wenn ein „Oh wie schön“ aus dem Munde meines Beschenkten kam, freute ich mich riesig darüber.
Im Lauf der Zeit konnte ich nahezu alles gebrauchen ohne mir über eine mögliche Verwendung Gedanken zu machen. Meine Tochter sagte mal beim Einkaufen zu mir „Du möchtest nur etwas haben, um des Habens Willen“.
Ja, ich war schrecklich. Es ging sogar fast soweit, dass ich mich beim Einkaufen heulend auf den Boden geschmissen habe, aus Protest das ich etwas nicht bekommen hatte. Meine Tochter blieb cool und meinte dann nur zu mir „ich gehe weiter einkaufen, Du kannst Dir ja überlegen, ob Du wieder gleich mit nach Hause fahren möchtest“. Diese Vorfälle wurden zum Glück immer weniger. Wenn ich drohte überzuschnappen, reichte ein strenger Blick meiner Tochter mit den Worten „wag es Dich“ um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen.
Drei Jahren vergingen, in denen ich mich so weit entwickelt habe, das mir zugetraut wurde alleine leben zu können. So kam es das ich im Februar 2016 in meine erste eigene Wohnung mitten in die Stadt ziehen konnte.
Meinen Rollstuhl tauschte ich gegen einen Rollator ein.
Ich denke jedoch das es bei mir auch mit dem Körpergefühl zu tun hatte, es hat fast vier Jahre gedauert bis ich meine linke Körperhälfte, besonders mein linkes Bein, wieder komplett spüren konnte. Dies habe ich auch ganz besonders meiner Heilpraktikerin zu verdanken, die mich seit meinem Koma mit einer Cranio Sacral Therapie wöchentlich behandelt hat und nie die Hoffnung aufgab, dass sich meine Nervenbahnen erholen werden, mit viel Geduld und einem festen Glauben.
Seit ein paar Wochen gehe ich sogar nur mit einem Stock. Es fällt mir schwer, aber wenn ich zurück schaue, habe ich gelernt das sich Geduld auszahlt, egal wo man startet. Meine liebste Großmutter sagte mal zu mir "ming Dirn, Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist".
Meine älteste Tochter die in Berlin lebt, sagte zu mir bei ihrem letzten Besuch vor einigen Tagen...Mama Du bist wieder gewachsen, damals nach dem Koma war ich einen halben Kopf kleiner als sie, jetzt sind wir fast gleich groß.
Ja, alles hat seine Zeit. Die Tragweite des Satzes der Ärzte damals vor 5 Jahren, ca.2 Tage nachdem ich erfolgreich aus dem Koma zurück geholt wurde ...“Sie sind jetzt anders, Sie werden viel Geduld haben müssen“ habe ich zum Glück damals nicht so begriffen.
Heute lebe ich viel im hier und jetzt. Ich male, genieße meine Atelierwohnung mitten in der Fußgängerzone, schätze die Kleinigkeiten im Leben und freue mich über die Menschen die mirtäglich begegnen.
Ich erinnere mich gerade daran, dass ich sogar einmal fast ein Auto geklaut habe. Ich wollte nur eine Runde im Kreisverkehr fahren. Ich saß auf meinem Rollator und wartete auf den Bus, als direkt vor mir ein schicker Audi hielt. In der Sonne strahlte er, wohl frisch poliert, in einem kräftigen Ozeanblau. Ein Mann stieg aus um sich etwas neben mir im Kiosk zu kaufen und dabei ließ er den Motor des Autos an. Sofort kam mir die Idee in den Sinn, einfach mal eine Runde zu drehen, im Kreisverkehr der sich 30 Meter neben mir befand. Es würde auch ganz schnell gehen, den Rollator lasse ich einfach stehen.
Wie oft hatte ich mir nach meinem Koma ausgemalt wieder Auto fahren zu können, und jetzt hätte ich die Chance es zu beweisen, dass ich es noch konnte. Als ich dann schon meinen Po vom Rollator anhieb, um schnell zum Auto zu gehen, sagte eine Stimme in mir...“besser nicht“.
Manche Dinge werde ich wohl nie mehr lernen oder erreichen können. Aber dafür all die anderen Dinge, und die reichen mir völlig um ein glückliches Leben zuführen.
Was Morgen ist, dass weiß ich nicht. Und das was gestern war ist vorbei. Ohne die Hilfe meiner Betreuerin, diverser Therapeuten und ganz besonders meiner Tochter, hätte ich es nicht geschafft ein jetzt fast „normales“ Leben zu führen. Aber was ist schon normal? Ich bin ihnen unendlich dankbar und zeige es ihnen mit meiner Lebensfreude
 



 
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