Ich bin kein Poet

Teletobs

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Ich bin kein Poet.



"Ich bin kein Poet.", klagte der Schüler am Abend seinem alten Lehrer.
"Sagt mir, wie entsteht ein Gedicht?“, fuhr er fort. „Ich schreibe Worte, verbinde sie, ordne sie um, verschiebe Deutungen. Und doch - es will kein Gedicht daraus werden!"
"Mein Junge", sprach der Mann und setzte sich auf einen Hocker. Die beiden Hände verschränkte er auf seinem Gehstock. "die Frage ist nicht wie, sondern wo."
"Das verstehe ich nicht." Der Schüler biss sich auf die Lippe. Er kramte aus seiner Jackentasche ein Papier hervor, strich es glatt und deutete mehrfach mit seinem Finger darauf. "Hier ist es. Ich möchte, dass das hier ein Gedicht wird!"
"Darüber hast du nicht zu bestimmen."
Der Junge riss die Augen auf. "Aber es gehört mir!"
"So bleibt es, was es ist."
"Ihr seid ungerecht." Er setzte sich auf den Boden und zog die Knie an.
"Schließ die Augen!", Gebot der alte Lehrer.
Zögerlich ließ der Junge seinen Kopf auf die Knie sinken.
"Und nun?"
"Nichts. Höre."


Er wusste nicht, was der Mann gesagt hatte, ja, er hätte darauf gewettet, dass es nur drei, vier Worte gewesen waren, willkürlich gewählt, ohne Ordnung, ohne Sinn.
Aber als er seinen Kopf hob, war sein Gesicht feucht vor Tränen. Er atmete, als habe sei er von einem langen Spaziergang zurückgekehrt. Mit dem Handrücken rieb er sich die Augen, bis aus dem glasig verschwommenen Bild wieder der alte Mann wurde, dessen Hand ihn nun an der Schulter drückte.
"Nun versuch du es!"
Ohne auf eine Antwort zu warten, schloss nun der Lehrer die Augen.
Einige Sekunden vergingen, bevor der Junge nach dem Papier griff, das er etwas unachtsam wieder in die Tasche gestopft hatte. Er entfaltete es und tippte mehrfach mit dem Finger erst auf das Blatt, dann an seine Lippen.

Dann begann er leise zu sprechen.
Langsam, Wort für Wort, sprach er aus, was auf dem Blatt stand. Gab frei, was zwischen ihm und dem Papier gefangen gehalten war.
Sie, an denen er selbst so zweifelte, bewirkten, dass der alte Mann lächelte. Seine Augen waren geschlossen, aber er hob die Augenbrauen und lächelte!
"Mhmm", summte er genüsslich und strich sich über den grauen Bart, als der Junge etwas lauter wurde und mit der freien Hand zu gestikulieren begann. Es waren nicht mehr seine eigenen Worte, die er von sich gab. Nun stand er auf, breitete die Arme aus und ließ jedes einzelne der Worte los, die wie Samen einer Pusteblume um ihn wirbelten, dem alten Mann zuflogen und bei ihm landeten, um zu blühen.
Der alte Mann schaukelte kaum merklich, wie ein Blumenfeld zum unbestimmten Takt des Windes.

Als er geendet hatte, öffnete der Mann seine Augen. Er lächelte den Jungen an und neigte den Kopf, als wolle er sich bedanken. Nach einer Weile erhob er sich von einem Hocker, indem er sich auf seinen Stock stützte.
"Zu einem Poeten wird man nicht bei sich selbst, sondern indem man die anderen zu Poeten macht."
"Die Frage ist nicht wie, sondern wo.", sagte der der Junge.
"Die Frage ist nicht wie, sondern wo.", nickte der Lehrer.
 



 
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