Horst M. Radmacher
Mitglied
Mehr Klischee für ein norddeutsches Küstenstädtchen geht nicht. Ein Haus, nur wenige Schritte von dem Ufer einer Meerenge der Ostsee entfernt. Reetdach, niedrige, weiß getünchte Mauern, mit blau gestrichenen Fensterrahmen und Sprossen. Neben der ebenfalls blauweißen Tür, inmitten von wild durcheinander wachsenden Stockrosen, eine Holzbank mit einer getigerten Katze darauf, die sich in der Sonne räkelt. Und zur Abrundung des Bildes: ein älterer Mann, mit einer Tabakspfeife im Mundwinkel, der mit winzigen Schnitzwerkzeugen kleine Holzteile bearbeitet. Bei schlechtem Wetter sieht man ihn durch die Fensterscheiben seines Hauses drinnen vor einer Arbeitsplatte sitzen, umgeben von einer kaum überschaubaren Anzahl von Werkzeugen, diversen Holzteilchen, Drähten und vielen anderen Bastelmaterialien.
Es ist Gert von Osten. Diesen hat es vor knapp zwei Jahren in die kleine Stadt am Meer verschlagen - mit weniger als dreihundert Einwohnern die kleinste Stadt Deutschlands. Dieses Superlativ, sowie die pittoreske Lage am Wasser, zieht natürlich Touristen an, von denen nicht wenige ein sogenanntes Buddelschiff als Souvenir mit nachhause nehmen, allerdings keines aus der Kollektion Gert von Ostens, dessen Stücke unverkäuflich sind. Zu der Tätigkeit des Bauens von Buddelschiffen ist der frühere Manager von Osten im Anschluss an eine Psychotherapie gekommen, in deren Verlauf eine Ergotherapeutin seine Fähigkeit für extrem feines Handwerk erkannt hatte. Er ist in der Lage, mit seinen feingliedrigen Fingern filigranste Bauteile zu bearbeiten und zusammenzufügen.
Die Therapie war notwendig geworden, nachdem Gert von Osten das Trauma einer beruflichen Katastrophe nicht verarbeiten konnte; er versank in eine schwere Depression. Vorausgegangen war eine restriktive politische Maßnahme chinesischer Regierungsstellen, die ihn zur in der V. R. China unerwünschten Person erklärt hatten. Zusammen mit den fünfunddreißig Mitarbeitern seiner florierenden Beratungsagentur musste er umgehend das Land verlassen. Man hatte ihm eine zu große Nähe zur Protestbewegung in Hongkong vorgeworfen. Der deutsche Geschäftsmann war schockiert; durch seine Aktivitäten hatte er nicht nur sich, sondern auch seinen Angestellten die materielle und soziale Grundlage entzogen, der Druck einer schweren Schuld lastete auf ihm. Nach abgeschlossener Therapie war er soweit stabil, dass er ein neu strukturiertes Leben führen konnte. Das Häuschen an der Schlei kam ihm dabei recht. In diesem Umfeld eignete er sich Kenntnisse über den Bau von Buddelschiffen an. Zunächst wurden es solche, wie sie zuhauf in den Souvenirläden der Küstenregion angeboten werden. Die dabei angewandte Zugtechnik, Masten mit Draht und Scharnieren werden flach in die Flasche, Buddel genannt, geschoben und anschließend hochgezogen, unterforderte ihn bald. Er versuchte sich nun an maßstabsgerechten Modellen kompliziert konstruierter Segelschiffe, deren Takelage aus Haaren angefertigt wird und die komplett außerhalb der Flasche gebaut werden. Dann werden die Masten vom Rumpf getrennt und nacheinander einzeln in die Buddel verbracht, eine selbst für ausgewiesene Feinmotoriker große Herausforderung. Gert von Osten war nach einigen Fehlversuchen erfolgreich. Sein aufsehenerregendes Meisterstück war ein absolut detailgetreuer Nachbau einer Segelyacht der sogenannten 12er-Klasse, ein Traum von einem Rennsegler. Boote solchen Typs wurden hier vor Ort in Originalgröße auf einer darauf spezialisierten Bootswerft am Rande der Kleinstadt gebaut. Dieses Prachtstück von einem Modell schenkte Gert dem mit ihm befreundeten Werfteigner, der dieses Modell seitdem an exponierter Stelle in einer Glasvitrine aufbewahrt.
Nach einer Zeit des intensiven Modellbaus kamen starke Erinnerungen an die frühere Wahlheimat China in Gert von Osten auf. Er hatte das Bild einer historischen chinesischen Handelsdschunke vor Augen. Diese wollte er nachbauen. Die dafür benötigten Baupläne besorgte er sich in Taiwan. Er reiste dort hin, um sich alles Notwendige zu besorgen; Festlandchina kam aus bekannten Gründen ja nicht mehr für ihn infrage. Hier, in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, ließ er sich von Spezialisten beraten. Chinesische Kunsthandwerker sind berühmt für ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten im Bereich Miniaturisierung. Von Osten absolvierte eine kunsthandwerkliche Ausbildung bei einem der führenden Miniaturenbauer des Landes. Er informierte sich zusätzlich über alles für ihn Zugängliche zu diesem Thema. Mit diesen Informationen sowie mit hochspezialisiertem Werkzeug und Zubehör kehrte er nach Deutschland zurück und machte sich ans Werk.
Der Nachbau der Dschunke en miniature gelang ihm perfekt. Nach einer kurzen Schaffenspause begann er mit der Fertigung der Krönung seines Lebenswerks. Er brauchte dafür viele Monate. Danach verließ er den Ort seiner künstlerischen Erfüllung. Von seinem neuen Lebensmittelpunkt aus schrieb er dem Bürgermeister der kleinen Stadt einen Brief, in dem er sein finales Werk dem Städtchen an der Schlei vermachte. Als die Ratsherren den Werkraum des Künstlers betraten, erkannten sie zunächst kaum etwas Konkretes. Das, was sie im früheren Haus von Gert von Osten vorfanden, konnten sie nicht sofort einordnen: eine große Flasche mit unzählig vielen, winzigen Teilen in deren Bauch. Das Ganze befand sich in einem Gestell, vor dem eine Lupe in Augenhöhe angebracht war. Darum herum gab es auf mehreren Ebenen befestigte Leuchtdioden. Erst als diese eingeschaltet wurden, konnte man durch die Lupe die filigrane Pracht des Kunstwerks erkennen. Die Herren Stadträte blickten auf die maßstabsgerechte Nachbildung der Seeschlacht von Trafalgar, in allen Einzelheiten dargestellt, alle Schiffe mit Besatzung in einer einzigen Buddel. Die größten Elemente, ganz im Stil chinesischer Miniaturristen, erreichten knapp das Format eines Pflaumensteins.
Es ist Gert von Osten. Diesen hat es vor knapp zwei Jahren in die kleine Stadt am Meer verschlagen - mit weniger als dreihundert Einwohnern die kleinste Stadt Deutschlands. Dieses Superlativ, sowie die pittoreske Lage am Wasser, zieht natürlich Touristen an, von denen nicht wenige ein sogenanntes Buddelschiff als Souvenir mit nachhause nehmen, allerdings keines aus der Kollektion Gert von Ostens, dessen Stücke unverkäuflich sind. Zu der Tätigkeit des Bauens von Buddelschiffen ist der frühere Manager von Osten im Anschluss an eine Psychotherapie gekommen, in deren Verlauf eine Ergotherapeutin seine Fähigkeit für extrem feines Handwerk erkannt hatte. Er ist in der Lage, mit seinen feingliedrigen Fingern filigranste Bauteile zu bearbeiten und zusammenzufügen.
Die Therapie war notwendig geworden, nachdem Gert von Osten das Trauma einer beruflichen Katastrophe nicht verarbeiten konnte; er versank in eine schwere Depression. Vorausgegangen war eine restriktive politische Maßnahme chinesischer Regierungsstellen, die ihn zur in der V. R. China unerwünschten Person erklärt hatten. Zusammen mit den fünfunddreißig Mitarbeitern seiner florierenden Beratungsagentur musste er umgehend das Land verlassen. Man hatte ihm eine zu große Nähe zur Protestbewegung in Hongkong vorgeworfen. Der deutsche Geschäftsmann war schockiert; durch seine Aktivitäten hatte er nicht nur sich, sondern auch seinen Angestellten die materielle und soziale Grundlage entzogen, der Druck einer schweren Schuld lastete auf ihm. Nach abgeschlossener Therapie war er soweit stabil, dass er ein neu strukturiertes Leben führen konnte. Das Häuschen an der Schlei kam ihm dabei recht. In diesem Umfeld eignete er sich Kenntnisse über den Bau von Buddelschiffen an. Zunächst wurden es solche, wie sie zuhauf in den Souvenirläden der Küstenregion angeboten werden. Die dabei angewandte Zugtechnik, Masten mit Draht und Scharnieren werden flach in die Flasche, Buddel genannt, geschoben und anschließend hochgezogen, unterforderte ihn bald. Er versuchte sich nun an maßstabsgerechten Modellen kompliziert konstruierter Segelschiffe, deren Takelage aus Haaren angefertigt wird und die komplett außerhalb der Flasche gebaut werden. Dann werden die Masten vom Rumpf getrennt und nacheinander einzeln in die Buddel verbracht, eine selbst für ausgewiesene Feinmotoriker große Herausforderung. Gert von Osten war nach einigen Fehlversuchen erfolgreich. Sein aufsehenerregendes Meisterstück war ein absolut detailgetreuer Nachbau einer Segelyacht der sogenannten 12er-Klasse, ein Traum von einem Rennsegler. Boote solchen Typs wurden hier vor Ort in Originalgröße auf einer darauf spezialisierten Bootswerft am Rande der Kleinstadt gebaut. Dieses Prachtstück von einem Modell schenkte Gert dem mit ihm befreundeten Werfteigner, der dieses Modell seitdem an exponierter Stelle in einer Glasvitrine aufbewahrt.
Nach einer Zeit des intensiven Modellbaus kamen starke Erinnerungen an die frühere Wahlheimat China in Gert von Osten auf. Er hatte das Bild einer historischen chinesischen Handelsdschunke vor Augen. Diese wollte er nachbauen. Die dafür benötigten Baupläne besorgte er sich in Taiwan. Er reiste dort hin, um sich alles Notwendige zu besorgen; Festlandchina kam aus bekannten Gründen ja nicht mehr für ihn infrage. Hier, in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, ließ er sich von Spezialisten beraten. Chinesische Kunsthandwerker sind berühmt für ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten im Bereich Miniaturisierung. Von Osten absolvierte eine kunsthandwerkliche Ausbildung bei einem der führenden Miniaturenbauer des Landes. Er informierte sich zusätzlich über alles für ihn Zugängliche zu diesem Thema. Mit diesen Informationen sowie mit hochspezialisiertem Werkzeug und Zubehör kehrte er nach Deutschland zurück und machte sich ans Werk.
Der Nachbau der Dschunke en miniature gelang ihm perfekt. Nach einer kurzen Schaffenspause begann er mit der Fertigung der Krönung seines Lebenswerks. Er brauchte dafür viele Monate. Danach verließ er den Ort seiner künstlerischen Erfüllung. Von seinem neuen Lebensmittelpunkt aus schrieb er dem Bürgermeister der kleinen Stadt einen Brief, in dem er sein finales Werk dem Städtchen an der Schlei vermachte. Als die Ratsherren den Werkraum des Künstlers betraten, erkannten sie zunächst kaum etwas Konkretes. Das, was sie im früheren Haus von Gert von Osten vorfanden, konnten sie nicht sofort einordnen: eine große Flasche mit unzählig vielen, winzigen Teilen in deren Bauch. Das Ganze befand sich in einem Gestell, vor dem eine Lupe in Augenhöhe angebracht war. Darum herum gab es auf mehreren Ebenen befestigte Leuchtdioden. Erst als diese eingeschaltet wurden, konnte man durch die Lupe die filigrane Pracht des Kunstwerks erkennen. Die Herren Stadträte blickten auf die maßstabsgerechte Nachbildung der Seeschlacht von Trafalgar, in allen Einzelheiten dargestellt, alle Schiffe mit Besatzung in einer einzigen Buddel. Die größten Elemente, ganz im Stil chinesischer Miniaturristen, erreichten knapp das Format eines Pflaumensteins.