Im Erdbeerland

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„Heute fahren wir ins Erdbeerland“ haben sie zu mir gesagt, das hört sich an wie ein wahrwerdender Traum. Sofort habe ich ein Zauberreich vor Augen, wo Schmetterlinge über bunten Wiesenblumen und süßen Früchten ihre Flügel schlagen und es gibt Elfen und Feenstaub und bunte Figuren wie aus einem Zeichentrick.
Oma kommt auch mit, wir holen sie ab. Das ist seltsam, weil Papa Oma hasst und normal kein Wort mit ihr redet. Überhaupt ist alles sehr seltsam, weil wir sonst nie irgendwo hinfahren, schon gar nicht dorthin, wo es schön und zauberhaft ist.
Während der Fahrt sitzt Oma hinten bei mir. Sehr krampfig hält sie sich an den Griffen über der Autotür fest, die sonst keiner benutzt. Papa fährt nicht mal wild, aber Oma ist das Autofahren nicht gewöhnt, also von daher.
„Freust dich schon aufs Brocken?“ fragt Oma und ich nicke. Oma sagt „brocken“ statt „pflücken“, sie hat oft andere Worte. „Aber nur die roten Beeren, die grünen nicht, die sind noch nicht reif“, erklärt sie mir. Ich will es mir merken.
Ein bisschen was redet Oma mit Mama, die vorn am Beifahrersitz sitzt. Mama ist froh, dass Oma heute mit dabei ist. So kann Papa auch mal jemand anderen anschreien und nicht immer nur uns. Oma sagt nicht viel.
„So, da sind wir…“ sagt Mama irgendwann.

Das Erdbeerland ist hinter Zaun.
Damit man reinkommt, muss man sich anstellen, es sind schon andere Leute da. Da ist ein grün-weiß gestreiftes Zelt, wo man sich anmelden muss.
Als wir dran sind, fragt uns die Frau im Zelt, ob wir ein Behältnis mitgebracht haben oder ob wir eins kaufen wollen? Dabei deutet sie auf kleine braune Körbchen, die sehr hübsch aussehen. Hübscher sicherlich als die Plastikschale, die Oma hervorkramt. Das ist so eine aus dem Supermarkt, wo eigentlich Champignons drin sind.
„Kriege ich so ein Körbchen?“ frage ich meinen Papa und er sagt ja, natürlich, und kramt nach seiner Geldtasche.
Oma schüttelt den Kopf, weil sie das für eine Verschwendung hält, was wiederum Papa schnaubend macht. Papa schaut verächtlich auf Omas altes Plastikgeschirr und murmelt was von Halte-dich-nur-ja-zurück. Jedenfalls habe ich am Ende einen richtigen Korb in der Hand, den ich mit prallen, roten Früchten füllen will. Das ist die Aufgabe.

Im Erdbeerland sind keine Blumen, keine Wiesen, bloß schnurgerade, strohbedeckte Wege zwischen grünen Pflanzenreihen, die sehr niedrig wachsen.
„Bleib schön in der Nähe“, schärft mir Mama ein.
Oma ist ganz in ihrem Element. Sie kommt vom Bauernhof, und mit dem Ernten und Pflücken kennt sie sich aus. Ich halte mich an Oma.
Sie zeigt mir, wie man die grünen Blätter vorsichtig auseinanderbiegt, um die tropfenförmigen Beeren zu finden. Die verstecken sich gut. Vielleicht, so denke ich mir, verstecken sich die Feen und Elfen ja genauso.
„Die da nicht, da waren schon die Schnecken dran!“ sagt Oma und sortiert mir die letzte Beere wieder aus. Weiterbrocken.
Beim Hinhocken auf dem Stroh pieken mich unter meinem Rock die Halme in den Oberschenkel. Oma geht nicht in die Hocke, das kriegt sie nicht mehr hin. Sie streckt ihren Hintern in die Höhe, während sie sich mit dem Oberkörper runterbeugt. Das sieht ulkig aus, findet auch Papa. Ich höre, wie er sich darüber lustig macht. Oma ist ihm mal wieder peinlich und er hält Abstand zu uns.
Langsam weiß ich, wie’s geht. Es jedes Mal eine Überraschung, was sich unter dem grünen Blattwerk verbirgt. Immer wieder leuchtet es rot. Und da! Und da ein paar ganz große!
Man muss vorsichtig ziehen, damit man die Beeren nicht zerquetscht. Wenn sie reif sind, sind sie glänzend und gehen ganz leicht ab. An manchen Stellen gibt es nur ganz kleine Babybeeren, die noch grün sind und hart. „Hier ist schon abgeerntet!“ urteilt Oma und wir gehen zu einer anderen Reihe.
Zwischendurch steckt sich Oma immer wieder mal große Erdbeeren in den Mund. „Vergiss nicht das Wichtigste“, grinst sie dabei. Erdbeeren, die man sich hier in den Mund steckt, muss man nicht bezahlen. Für Oma ist das ein wichtiger Punkt. Papa sagt, man muss die Beeren erst waschen, bevor man sie isst.
Manche Beeren sind süßer als andere. Ich beiße ab und überlasse schon mal andere Hälfte meiner Oma, um ihr zu zeigen, wie gut diese oder jene Erdenfrucht schmeckt. Immer nur naschen geht aber auch nicht. Oma hat stets einen kritischen Vergleichsblick auf mein Körbchen, um mich zu loben, weil sich dieses schneller füllt als ihre Plastikdose.
Von Zeit zu Zeit laufe ich rüber zu Mama, um auch ihr meinen Pflückerfolg zu zeigen. Mama pflückt nur wenig und ist mal wieder sehr matt, aber sie lächelt mich an.
Papa pflückt gar nicht, er meckert nur über das heiße Wetter und dass es keinen Schatten gibt. Er will dort beim Eingang, beim Zelt auf uns warten. Für Papa macht das Erdbeerland so gar keinen Sinn. Wenn er Erdbeeren will, kauft er sich die fertig gepflückt im Supermarkt und Oma soll froh sein, dass wir sie heute mitgenommen haben, das macht er bestimmt nicht nochmal.
Mama tut so, als hätte sie nichts gehört.

Unsere Finger sind schon ziemlich rotgefärbt und riechen und schmecken nach Erdbeeren.
Einmal, ziemlich weit außen auf dem Feld in der Nähe des Zauns, wo noch kaum jemand gepflückt hat, weil, wie Oma sagt, die Leute zu träge sind und lieber in der Mitte bleiben, flattert tatsächlich ein Schmetterling an uns vorbei. Einer mit einem unglaublichen Muster drauf, rot und lila, blau. „Ein Tagpfauenauge“ hat Oma mir beigebracht.
Wie schön das klingt! Fast schon zauberhaft. Ich will sehen, wohin das Tagpfauenauge fliegt.
„Pass auf, da sind Brennnessel“ warnt mich Oma. Ist wirklich ein bisschen verwildert hier hinten. Kann gut sein, dass sich die Elfen genau hier versteckt halten. Vermutlich sind sie zu klein, als dass man sie ohne Mikroskop sehen kann.

Vorne beim Zelt unterhält sich Papa mit der Zeltfrau. Bei den anderen Leuten kann Papa immer sehr freundlich und sanft sein, gar nicht so wie daheim.
Ein bisschen lobt er mich auch, wie ich ihm mein vollgefülltes Körbchen unter die Nase halte, aber ehrlich ist das nicht. Er schaut noch nicht mal richtig hin und sagt: „Sehr schön!“, während er sich weiter mit der fremden Frau unterhält. Wie zufällig streicht er mir über den Kopf, als wäre er ein ganz lieber, geduldiger Papa, der niemals Schimpfworte wie „Dreckshure“ oder „du saublöder Trampel“ benutzt.
Jetzt wird unsere Ernte gewogen. Das Gewicht vom Körbchen oder von der Plastikschale wird weggerechnet, dann nennt die Zeltfrau den Betrag, den man zahlen muss. Oma zahlt mit vielen kleinen Münzen, die sie in ihrer Tasche zusammenklaubt, das dauert. Fast hätte Papa deswegen rumgeschrien, aber dann hebt er sich das für später auf, wenn wir im Auto und unter uns sind.
„Du hast wirklich die schönsten und größten Erdbeeren gefunden!“ lobt mich schließlich auch die Zeltfrau. Zur Belohnung drückt sie mir so ein Heftchen in die Hand, da sind Rezepte drin und auch Seiten für Kinder, die man zuhause mit Buntstiften ausmalen kann. Die Erdbeeren auf den Fotos sind mindestens so leuchtend schön wie die in meinem Korb und keine einzige ist schimmlig oder von Schnecken angefressen. Die Rezepte sind auch schön. Kuchen und Joghurt und Marmelade und was man nicht alles aus Erdbeeren machen kann.
Mama sagt, sie will einen Rumtopf machen. Das ist so ein Getränk, in dem die Erdbeeren rumschwimmen dürfen. Das hält sich gut, davon hat man lange was, sagt Mama. Der Rumtopf wird im Schlafzimmer auf der Spiegelkommode stehen und ist nichts für mich. Hin und wieder wird Mama einen Schluck nehmen und dann noch einen und immer so weiter, damit sie das alles ertragen kann. Bis sie auf einmal ganz komisch wird und hemmungslos weinen muss.
 
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marcm200

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Sprachlich gut, aus der Sicht der Tochter.

Hättest du nur den Erdbeerpflückteil, die Elfen und die Sicht der Tochter auf dieses Erlebnis geschildert, wäre es eine nette, kleine Kindergeschichte gewesen - Entdecken der Welt.

Der angesprochene Aspekt mit dem schreienden Vater und seinen Beleidigungen in der Vergangenheit deutet aber auf ein für Tochter und Mutter im "besten" Falle unharmonisches, vielleicht aber auch gewalttätiges Zuhause hin. Das macht die Geschichte für mich äußerst unangenehm zu lesen.
 

petrasmiles

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Liebe Dichter Erdling,

ich finde es sehr gut, das Du bei aller Schöngeistigkeit die Realität nicht aus den Augen verlierst! Mich hat insbesondere die emotionale Geschmeidigkeit des Kindes beeindruckt, das Du skizziert hast. So ist das nämlich - es kennt die 'Gewitter' der Erwachsenen und ist drumherum Kind. Schlimm wird es dann, wenn es lernt, sich schuldig zu fühlen für das heimische Desaster.

@marcm200
Könnte das die Kehrseite der woken Empfindsamkeit sein, dass man das 'Unangenehme' nur schwer aushält? Wieviel Empathie bleibt da übrig für die Opfer dieser Realität? Werden diese da nicht doppelt zum Opfer gemacht, wenn man sie sich wegen der eigenen inneren Befindlichkeit vom Leibe hält?
Darüber sollte man wirklich einmal nachdenken.

Liebe Grüße
Petra
 

marcm200

Mitglied
@petrasmiles: Bitte stelle mich nicht in die Woke-Ecke. Damit habe ich nichts am Hut :D Neben Autor gibt es sicherlich Leser, die sich mit diesen Desasterfamilien auseinandersetzen wollen, aus welchen Gründen auch immer. Ich gehöre nicht dazu, und mehr sollte mein Kommentar auch nicht ausdrücken.
 

petrasmiles

Mitglied
Neben Autor gibt es sicherlich Leser, die sich mit diesen Desasterfamilien auseinandersetzen wollen
OK, also raus aus der woken Ecke. Ich wollte Dir da nichts unterstellen.
Aber ich denke trotzdem, dass das Wegsehen einer Stigmatisierung der Opfer gleichkommt - und vor allem eine Art Realitätsverweigerung ist. Denn - so schlimm es ist - es ist 'normal', bietet Erklärungen für soziale Verwerfungen und Krankheiten. Es ist die Grundlage von allen möglichen Werten - und der Menschlichkeit an sich! - dass es 'mich' etwas angeht, wie es 'anderen' geht.
Aber ich will Dir keine Diskussion aufzwingen.

Liebe Grüße
Petra
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Dichter Erdling,

eine stimmige, schön geschriebene Geschichte, in der viel Atmosphäre steckt und die Erzählperspektive aus Sicht des Kindes sehr schön durchgehalten wird. Vielleicht mit einer kleinen Ausnahme zum Schluß, in der das Kind den Schluß zieht, dass die Mama soviel trinkt, damit sie das alles ertragen kann. Aber möglicherweise kann die Kleine das schon einschätzen und zuordnen. Tolle story, hat mir sehr gefallen!

Schönen Gruß
Shallow
 

Sandra Z.

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,

ich lese deine Geschichte als eine Art „Familienaufstellung“ (auf dem Erdbeerfeld).

Du schilderst hier einen vermeintlich fröhlichen Familienausflug aus der Sicht eines kleinen Mädchens, dass sich, traumatisiert von der Alkoholsucht ihrer Mutter und den Übergriffen des Vaters, in eine Fantasiewelt geflüchtet hat.

Die einzelnen Charaktere hast du sehr eindrücklich gezeichnet. Vielleicht hättest du noch eine kleine Rückblende/Hinweis einbauen können, damit der Leser erfährt, warum der Vater so geworden ist?

Alles in allem eine schöne (traurige) stimmige Geschichte, die ich sehr gern gelesen habe!

Viele Grüße, Sandra

Kleiner Hinweis: „unnötige Verschwendung“ klingt für mich irgendwie „doppelt gemoppelt“
 

petrasmiles

Mitglied
Du schilderst hier einen vermeintlich fröhlichen Familienausflug aus der Sicht eines kleinen Mädchens, dass sich, traumatisiert von der Alkoholsucht ihrer Mutter und den Übergriffen des Vaters, in eine Fantasiewelt geflüchtet hat.
Liebe Sandra Z.,

entschuldige, wenn ich hier mal meine Stimme erhebe ... mich hat eigentlich so erstaunt, wie 'normal' dieses Kind ist. Sie scheint mir der pure Realismus zu sein, ganz im Gegensatz zu den Erwachsenen, die - bis auf vielleicht die Oma - ihre Tänze aufführen. Ich sehe da keine Fantasiewelt. Woran machst Du das fest?

Mit dem 'unnötige Verschwendung' hast Du Recht, aus den Augenwinkeln hatte ich das auch gesehen, aber weil ich so im Lesestrom war, ging es rein und gleich wieder raus. Gut aufgepasst!

Liebe Grüße
Petra
 
Vielen lieben Dank für die zahlreichen Rückmeldungen zu meiner Geschichte!


@marcm200
Geschichten dürfen (sollen) auch mal Unangenehmes und Finsteres aufzeigen. Wenn ich dir die gewissen Gefühle transportiert habe, ist mein Lieferauftrag erfüllt.


@Shallow
Ja, die Kleine konnte das sehr früh schon einschätzen und zuordnen.


@Ubertas & @Petra: Eure gute Bewertung hat mich gefreut.


@Sandra Z.
Danke für den Hinweis. Die Doppelung ist nun korrigiert.




Lieben Gruß an alle,

Erdling
 



 
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