Dichter Erdling
Mitglied
Sybille steht vor der Gastfamilie, als wäre das das Normalste der Welt. Als hätte sie das schon tausendmal gemacht.
„Hier, für Sie, Mozartkugeln aus Österreich! Das ist eine berühmte Spezialität und ein kleines Dankeschön …“, flötet sie in korrektem Englisch und mit einem Lächeln, wie es ergebener nicht sein könnte. Sie überreicht die Plastikpackung mit den Schokokugeln an die Frau des Hauses, die uns für die nächsten Tage beherbergen soll. Wir sitzen im Wohnzimmer einer Doppelhaushälfte. Londoner Vorort. Das heißt suburb, haben wir in der Schule gelernt. Vermutlich keine schlechte Gegend hier. Gepflegt. Von außen schaut das Haus genauso aus wie die typisch englischen Bauten, die man aus dem Fernsehen kennt, mit Backsteinfassade und so. Ein älteres Ehepaar heißt uns willkommen.
Sybille behauptet, das Gastgeschenk wäre von uns beiden, was glasklar gelogen ist, weil ich im Traum nicht dran gedacht hätte, ein Mitbringsel einzupacken für die Auslandswoche in London. Ich schweige auf Englisch und versuche, Sybilles Lächeln zu imitieren.
„Sybille“, sage ich auf Deutsch, „Ich glaube, ich habe doch auch ein Geschenk mitgebracht. Es ist in meiner Tasche.“ Ich stehe auf, um die Tasche zu holen.
Sybille erklärt der Familie in nicht mehr ganz so sicherem Englisch, was ich soeben zu ihr gesagt habe. Man merkt, das sind keine Sätze, die sie im Vorfeld auswendig lernen konnte.
Natürlich weiß ich, dass Sybille es gar nicht gern hat, wenn man sie Sybille nennt. Sie meint, der Name klingt unsympathisch und überheblich. Ich finde ja, das passt schon, aber das sage ich natürlich nicht. Meistens sage ich tatsächlich Billie zu ihr, wie sie das eben haben will, aber nicht immer.
So, da ist die Tasche. Darin befindet sich natürlich kein Geschenk, aber ich fasle was von meinem Geheimfach, von meinem „secret drawer“, wo ich was Geschänkemäßiges deponiert hätte. Wirklich ist in meiner schwarzen Umhängetasche ganz hinten so ein Reißverschluss, der für gewöhnlich Kaugummi, Labello oder Tampons beherbergt. Mehr ist auch heute nicht drin, aber trotzdem krame ich nach dem imaginären Präsent und ärger mich. Niemand hat mir gesagt, dass wir ein Gastgeschenk mitbringen sollen. In meiner Familie war noch nie jemand auf einer Schule gewesen, wo man mit der ganzen Klasse für eine Woche ins Ausland fliegt und in Zweiergruppen bei fremden Leuten einquartiert wird. Generell ist meine Familie weniger Knigge, eher geknickt und förmliche Besuche mit Mitbringseln machen wir auch nicht. Sybilles Familie ist da anders. Hier wurde die Tochter gut gecoacht und vorbereitet auf die Reise geschickt.
„Oh, sorry“, tue ich schließlich überrascht und behaupte, ich hätte das Geschenk wohl zuhause vergessen.
Die Gastmutter führt uns im Haus herum und zeigt uns das Zimmer, in dem wir siebenmal schlafen werden. Es liegt oben, im ersten Stock. Zwei Betten, eine Kommode, ein Schreibtisch und ein Stuhl; es ist luftig, hell und sauber.
„Wunderschön!“ und „How beautiful!“ schleimt Sybille und ich weiß, das meint sie nicht ernst. Zuhause hat sie maßgezimmerte Möbel und ein eigenes Badezimmer, das ist schon nochmal was anderes als das hier. Ich weiß das, weil wir schon einmal bei der jeweils anderen übernachtet hatten. Ich im großzügigen Einfamilienhaus bei Sybille und Sybille in der bescheidenen Wohnung mit dem zerfaserten Teppich und den schimmligen Wänden bei mir.
Sybille, also Billie, ist nicht immer ehrlich. Sie ist auch nicht wirklich meine Freundin. Das merkte ich spätestens nach dem gegenseitigen Übernachten. Hinter meinem Rücken soll sich Sybille damals über die „dunkle, schäbige Behausung“ entsetzt haben. Da hörte ich dann auf, Leute einzuladen, was sowieso besser war.
Ich glaube auch, dass Billie mich gar nie wirklich gemocht hat. Ich mache ihr den Platz als Klassenbeste streitig, das gefällt ihr gar nicht. Auch wenn sie gern so tut, als würden wir uns gegenseitig pushen – das ist nur Show. In echt freut sie sich, wenn ich eine Lehrerfrage nicht beantworten kann. Wenn meine Aufsätze besser benotet werden als die ihren, sucht sie nach Fehlern, die der Lehrer übersehen hat. Sybille findet immer welche.
Sie ist wahrlich klug. Ich glaube, sie hat als einzige verstanden, dass ich eigentlich gar nicht hier hingehöre und die ganze Zeit alle nur betrüge. Nur per Zufall habe ich es geschafft, so weit zu kommen. Ich sehe das wie ein Computerspiel. Wie Super Mario springe ich auf gut Glück von Level zu Level und nur durch dumme Zufälle schaffe ich es, an die Superpilze zu kommen und nicht und nicht abzustürzen - jedoch der Sieg steht mir am Ende nicht zu. Wahrscheinlich noch nicht mal die Matura. Ich weiß, es wird der Tag kommen, an dem mir ein Level zu schwierig wird. Ich werde etwas Dummes sagen oder tun und Game over, keine Extra-Leben für mich. Sybille weiß das auch. Irgendwann werden alle erkennen, dass ich eine Betrügerin bin, die sich nur sehr lange durschummeln konnte. Diesen Tag fürchte ich wie das Jüngste Gericht, wenn sie mit dem Finger auf mich zeigen werden.
„Also, die Gastfamilie ist ausgesprochen nett“, frohlockt Billie, nachdem sich die Herbergsmutter zurückgezogen hat, damit wir auspacken und uns frischmachen können. „Aber das Bad ist winzig! Und nur ein einziges Badezimmer im ganzen Haus, komisch irgendwie“, findet sie außerdem. Sie redet wie ein Wasserfall und kann den Modus Ich-bin-die-Vorzeige-Schülerin-aus-Österreich offenbar nicht mehr abstellen.
„Ich glaube, dass ihre eigenen Kinder schon groß sind. Hast du unten die Fotos an der Wand gesehen? Das sind sicher die Söhne. Sind wahrscheinlich schon erwachsen. Bestimmt war das hier früher das Kinderzimmer…“
Wie immer durchschaut Billie alles und hatte Zeit, über Diverses nachzudenken, während ich noch vollauf mit Nebensächlichkeiten beschäftigt war. Was meine Klassenkameraden routiniert absolviert haben, war für mich heute aufregendes Neuland - allein die Fliegerei. Das ganze Flughafensetting, wo man auf Schritt und Tritt beobachtet wird und: Einchecken, die Taschen scannen und sich abtasten lassen… Den anderen war das keine große Sache. Selbstbewusst haben sie ihre schicken Rollköfferchen hinter sich hergezogen, während ich mich mit der alten Reisetasche abschleppen musste. Ich war froh, dass wir Lehrkräfte dabeihatten, die uns anleiteten. Die Anreise hat mich bereits müde gemacht.
Nicht so Sybille, die ist mehr als aufgekratzt.
„Du musst mehr reden, dafür sind wir schließlich hier. Damit wir Übung bekommen, für die Kommunikation, Sprachkenntnisse…“, belehrt sie mich, ehe wir zum Abendessen gerufen werden.
Am fünften Tag haben wir uns schon ganz gut eingelebt.
Frühstück mit der Gastfamilie, vormittags Unterricht bei Native Speakern, nachmittags Sightseeing mit unseren mitgereisten Lehrern aus Austria.
Buckingham Palace von außen, Madame Tussauds von innen, Trafalgar Square und so weiter. Heute ist St. Paul’s dran und abends Musical in einem schicken Theater. Der fünfte Tag soll das Highlight werden, vor allem das Musical. Extra ziehe ich eine Bluse an, um dem eleganten Anlass am Abend gerecht zu werden.
Bei der Morgentoilette im Bad der Gastfamilie wechsle ich noch schnell den Tampon, weil ich, was sonst, gerade jetzt, hier in London meine Tage haben muss. Ich ziehe am Rückholbändchen und halte schließlich ein blutiges Abfallprodukt in den Händen, das mich unmittelbar in Probleme stürzt, denn: Wohin damit? Kein Mistkübel im Bad, oh Scheiße. Ach ja, die hatten nur Söhne, fällt mir jetzt wieder ein, die kennen die Probleme menstruierender Teenies nicht. Ich wickle den benutzten Tampon in mehrere Lagen Klopapier und überlege zunächst, das Ganze im Papierkorb in unserem Zimmer zu versenken. Verwerfe diese Idee wieder, denn der Papierkorb hat keinen Deckel und ich will nicht, dass unsere Gasteltern etwas Blutiges im Abfall finden. Noch dicker wickle ich die dunkelrote Watte in Klopapier und stopfe alles notgedrungen in meine Hosentasche.
Niemand merkt was, als ich aus dem Bad komme. Schnurstracks gehe ich zu meiner Umhängetasche und verstaue den blutigen Tampon dort bei seinen noch ungebrauchten Brüdern im Geheimfach ganz hinten. Am Klo in der Schule während des Vormittagsunterrichts würde ich ihn unauffällig entsorgen können. Ich beschließe, Sybille oder den anderen Mädels nichts zu sagen und die Sache souverän zu händeln.
Wir wohnen alle im selben Viertel und treffen uns jeden Morgen an der Bushaltestelle für den Schulweg. Nicht alle in der Klasse sind zufrieden mit ihrer Unterkunft. Luisa und Emma motzen seit der Ankunft über die Kochkünste ihrer Gastmutter: „Den Auflauf gestern hättet ihr sehen sollen… Nur aus Höflichkeit haben wir gegessen und nichts gesagt…“
„Ihr versteht das nicht: Das ist die berühmte britische Küche, das muss so schmecken!“, feixt Alexandra, die das Essen in ihrer Familie okay findet.
Vor allem Jana und Valentina beschweren sich unaufhörlich. Winzig und erbärmlich sei das ihnen zugedachte Zimmer.
„Seid nicht so pingelig“, weist Sybille die beiden zurecht. „Nicht so versnobt! Für eine Woche kann man das schon mal aushalten. Und überhaupt: Es gibt Schlimmeres!“, legt sie nach und ich schwöre, dabei schaut sie mich an.
Später am Nachmittag in der St. Paul’s Cathedral erklärt uns eine Lehrkraft den Zauber der Whispering Gallery. Man stellt sich auf die eine Seite des kreisförmigen Ganges im Gewölbe und redet was in die Wand hinein - und auf der gegenüberliegenden Seite hört man angeblich das Gesagte. Das Ganze in 30 Metern Höhe. Sybille schickt mich ans andere Ende der Galerie und will das mit mir ausprobieren. Ich tue wie geheißen und lausche drüben an der Wand. Um mich herum ist ganz schön viel Gerede und Getuschel und schaffe es nicht, einzelne Sätze herauszufiltern, so sehr ich mich auch anstrenge. Ich drehe mich um und gestikuliere in Richtung Billie, dass ich nicht sicher bin, ob es klappt. Nochmal soll ich es versuchen, ich presse mein Ohr ans Gemäuer.
„Sie glaubt, sie ist gut, aber sie stinkt und sie cheatet!“, höre ich dann doch einige Wortfetzen, keine Ahnung, ob ich gemeint bin.
„Na, was habe ich gesagt?“, will mich Sybille testen, nachdem sie zu mir herübergekommen ist. Dass ich nichts verstanden hätte, will sie nicht gelten lassen.
„Dann nochmal!, befiehlt sie und will mich erneut auf die gegenüberliegende Seite der Galerie dirigieren, aber ich mag nicht mehr.
„Dann wirst du nie erfahren, was ich geflüstert habe“, ätzt Sybille - und wenn man mich fragt, lächelt sie dabei äußerst boshaft.
Für den Theaterabend hat sich Sybille unterwegs umgezogen. Ihre Jeans und den Pulli hat sie gegen ein kurzes smaragdgrünes Samtkleid getauscht, das hatte sie bereits heute Morgen in ihren feinen Lederrucksack gepackt. Das Kleid sieht edel aus. Es passt perfekt zu Billies rotblonden Haaren und dem hellen Teint. Man könnte glatt glauben, sie wär Engländerin, eine adlige vielleicht.
Wir stehen Schlange vor dem Einlass zu Les Misérables und Sybille erklärt den anderen, dass es im Stück um die Elenden im Frankreich des 19. Jahrhunderts geht. „Das muss ja schrecklich gewesen sein, damals. So ungerecht, so viel Armut - und wie man auf die Armen gespuckt hat!“, fasst sie das Wichtigste zusammen. „Man muss echt froh sein, dass wir heute in einer modernen, fortschrittlichen Zeit leben, wo es anders zugeht und jeder kann es zu was bringen, wenn er sich nur anstrengt und ein bisschen Grips hat…“
Dass sie dabei mich anschaut, steht jetzt aber außer Frage.
Da muss ich an meine Familie denken, die Daheimgebliebenen. An mein Zuhause, wo dich niemand bestärkend an die Hand nimmt und wo sich die Wände mit giftigen schwarzen Gewächsen überziehen. Wo es eine außerplanmäßige Überraschung ist, wenn du zufällig doch mal vorwärtskommst, bis sich rausstellt, dass auch das nur ein großer Irrtum ist.
Der Einlass geht nur schleppend voran.
„Ich glaube, die kontrollieren die Rucksäcke und Taschen“, informiert uns die Lehrerin von weiter vorn. „Zieht schon mal die Mäntel aus und haltet euch für die Kontrolle bereit!“
„Na, die werden Augen machen, wenn sie bei mir Jeans und Pulli finden“, kichert Sybille, da setzt bei mir kurz der Herzschlag aus.
Augenblicklich fällt mir nämlich wieder ein, was sich Peinliches in meiner Tasche finden lässt. Blöderweise hatte ich am Vormittag vergessen, den benutzten Tampon wie geplant auf dem Schulklo zu entsorgen. Jetzt ist der da immer noch drin, im vermaledeiten Geheimfach meiner Tasche.
Ich fürchte, ich werde erst blass, dann rot, mir wird heiß und ich fange an zu zittern.
Ich sehe, weiter vorne kontrollieren sie wie am Flughafen, mit Körperscannern und all sowas.
Ich stelle mir vor, wie die Frau am Kontrollpunkt gleich in meiner Tasche suchen und schließlich ein seltsames Etwas, eingewickelt in Klopapier, mit pikiertem Blick hervorziehen wird. Bestimmt ist das Blutige schon bis zur äußersten Klopapierschickt durchgesickert. Die Frau wird stutzig werden und langsam wird sie Schicht für Schicht auseinandernehmen und sich fragen: Was könnte das sein? Ein abgehackter Daumen vielleicht? Bis sie es erkennt und sich dann erst so richtig ekelt. Sie wird das benutzte Hygieneprodukt fassungslos in die Luft halten und mich angewidert und voller Verachtung ansehen.
Dann wäre was los. Die Lehrer, meine Mitschüler, die feine Londoner Gesellschaft, alle würden sie sehen, die blutbefleckte Watte, die in mir gewesen war. „Pfui“ und „Iiiiihhh“ würden sie ausrufen und mit dem Finger auf mich zeigen. Das würden sie nie vergessen! Die restliche Reise, das restliche Schuljahr, das ganze restliche Leben nicht. Man würde Fotos machen, eine Überwachungskamera würde sowieso alles aufzeichnen. Mein peinliches Versagen wäre für alle Zeit dokumentiert.
Ich weiß nicht, was tun.
Erbarmungslos schiebt mich die Menge vorwärts, immer näher an den Kontrollpunkt heran.
Ich kann nur beten. Beten, dass sie nicht in meiner Tasche… Ich meine, vielleicht kontrollieren sie ja nicht jeden, vielleicht kontrollieren sie ja nur stichprobenartig und ich…
„Open your bag, please!“, weist mich die Security an, eiskalt. Natürlich. Die Frau mustert mich misstrauisch und scheint zu wissen, dass ich was zu verbergen habe. Ich versuche zu lächeln, aber sicher durchschaut sie mich. Widerwillig schiebe ich ihr die geöffnete Tasche rüber. Mit geübtem Griff arbeiten sich die Hände durch meine Hefte, Stifte, Taschentücher…
Das Herz schlägt mir bis zum Hals und die Frau lässt sich ewig Zeit für mich. Sie prüft genau, prüft lange. Wie hypnotisiert schaue ich zu, während die Fremde in meiner Tasche wühlt. Gleich… gleich… wird sie… findet sie…
Aber nein, findet sie nicht. Schon wieder habe ich unfassbares Glück. Mein geheimes Fach lässt die Security unangetastet, tatsächlich, warum auch immer. Ich bin ganz verdattert, als mir meine Tasche wieder zurückgeschoben wird und ich passieren darf, einfach so.
Hinter dem Kontrollpunkt stehen Sybille, Jana und Valentina beisammen. Sybille in ihrem grünen Kleid palavert schon wieder und hat nicht mal erklären müssen, was es mit der Jeans im Rucksack auf sich hat.
Ich schaue, wo das nächste Klo ist und entschuldige mich.
Auf der Toilette des Her Majesty’s-Theaters krame ich wie im Fiebertraum nach dem Objekt im Klopapier. Es verschwindet umgehend in Her Majesty’s-Mülleimer, endlich, und ich fühle mich wie von einer großen Sünde befreit.
Ich gehe zurück zu meiner Gruppe. Jacken abgeben, Plätze suchen. Die Mädels schäkern und flirten mit den Burschen in der Reihe hinter uns.
In Gedanken bin ich immer noch bei der unsäglichen Katastrophe, der ich grade so nochmal entgangen bin. Was gewesen wäre, hätte die Security ein bisschen tiefer, ein bisschen genauer in meiner Tasche… Mir schwirrt der Kopf und die schändlichen Bilder vor meinem geistigen Auge wollen nicht weggehen. Vom restlichen Abend und von Les Misérables kriege ich nicht mehr viel mit, aber egal. Billie amüsiert sich ganz köstlich.
„Hier, für Sie, Mozartkugeln aus Österreich! Das ist eine berühmte Spezialität und ein kleines Dankeschön …“, flötet sie in korrektem Englisch und mit einem Lächeln, wie es ergebener nicht sein könnte. Sie überreicht die Plastikpackung mit den Schokokugeln an die Frau des Hauses, die uns für die nächsten Tage beherbergen soll. Wir sitzen im Wohnzimmer einer Doppelhaushälfte. Londoner Vorort. Das heißt suburb, haben wir in der Schule gelernt. Vermutlich keine schlechte Gegend hier. Gepflegt. Von außen schaut das Haus genauso aus wie die typisch englischen Bauten, die man aus dem Fernsehen kennt, mit Backsteinfassade und so. Ein älteres Ehepaar heißt uns willkommen.
Sybille behauptet, das Gastgeschenk wäre von uns beiden, was glasklar gelogen ist, weil ich im Traum nicht dran gedacht hätte, ein Mitbringsel einzupacken für die Auslandswoche in London. Ich schweige auf Englisch und versuche, Sybilles Lächeln zu imitieren.
„Sybille“, sage ich auf Deutsch, „Ich glaube, ich habe doch auch ein Geschenk mitgebracht. Es ist in meiner Tasche.“ Ich stehe auf, um die Tasche zu holen.
Sybille erklärt der Familie in nicht mehr ganz so sicherem Englisch, was ich soeben zu ihr gesagt habe. Man merkt, das sind keine Sätze, die sie im Vorfeld auswendig lernen konnte.
Natürlich weiß ich, dass Sybille es gar nicht gern hat, wenn man sie Sybille nennt. Sie meint, der Name klingt unsympathisch und überheblich. Ich finde ja, das passt schon, aber das sage ich natürlich nicht. Meistens sage ich tatsächlich Billie zu ihr, wie sie das eben haben will, aber nicht immer.
So, da ist die Tasche. Darin befindet sich natürlich kein Geschenk, aber ich fasle was von meinem Geheimfach, von meinem „secret drawer“, wo ich was Geschänkemäßiges deponiert hätte. Wirklich ist in meiner schwarzen Umhängetasche ganz hinten so ein Reißverschluss, der für gewöhnlich Kaugummi, Labello oder Tampons beherbergt. Mehr ist auch heute nicht drin, aber trotzdem krame ich nach dem imaginären Präsent und ärger mich. Niemand hat mir gesagt, dass wir ein Gastgeschenk mitbringen sollen. In meiner Familie war noch nie jemand auf einer Schule gewesen, wo man mit der ganzen Klasse für eine Woche ins Ausland fliegt und in Zweiergruppen bei fremden Leuten einquartiert wird. Generell ist meine Familie weniger Knigge, eher geknickt und förmliche Besuche mit Mitbringseln machen wir auch nicht. Sybilles Familie ist da anders. Hier wurde die Tochter gut gecoacht und vorbereitet auf die Reise geschickt.
„Oh, sorry“, tue ich schließlich überrascht und behaupte, ich hätte das Geschenk wohl zuhause vergessen.
Die Gastmutter führt uns im Haus herum und zeigt uns das Zimmer, in dem wir siebenmal schlafen werden. Es liegt oben, im ersten Stock. Zwei Betten, eine Kommode, ein Schreibtisch und ein Stuhl; es ist luftig, hell und sauber.
„Wunderschön!“ und „How beautiful!“ schleimt Sybille und ich weiß, das meint sie nicht ernst. Zuhause hat sie maßgezimmerte Möbel und ein eigenes Badezimmer, das ist schon nochmal was anderes als das hier. Ich weiß das, weil wir schon einmal bei der jeweils anderen übernachtet hatten. Ich im großzügigen Einfamilienhaus bei Sybille und Sybille in der bescheidenen Wohnung mit dem zerfaserten Teppich und den schimmligen Wänden bei mir.
Sybille, also Billie, ist nicht immer ehrlich. Sie ist auch nicht wirklich meine Freundin. Das merkte ich spätestens nach dem gegenseitigen Übernachten. Hinter meinem Rücken soll sich Sybille damals über die „dunkle, schäbige Behausung“ entsetzt haben. Da hörte ich dann auf, Leute einzuladen, was sowieso besser war.
Ich glaube auch, dass Billie mich gar nie wirklich gemocht hat. Ich mache ihr den Platz als Klassenbeste streitig, das gefällt ihr gar nicht. Auch wenn sie gern so tut, als würden wir uns gegenseitig pushen – das ist nur Show. In echt freut sie sich, wenn ich eine Lehrerfrage nicht beantworten kann. Wenn meine Aufsätze besser benotet werden als die ihren, sucht sie nach Fehlern, die der Lehrer übersehen hat. Sybille findet immer welche.
Sie ist wahrlich klug. Ich glaube, sie hat als einzige verstanden, dass ich eigentlich gar nicht hier hingehöre und die ganze Zeit alle nur betrüge. Nur per Zufall habe ich es geschafft, so weit zu kommen. Ich sehe das wie ein Computerspiel. Wie Super Mario springe ich auf gut Glück von Level zu Level und nur durch dumme Zufälle schaffe ich es, an die Superpilze zu kommen und nicht und nicht abzustürzen - jedoch der Sieg steht mir am Ende nicht zu. Wahrscheinlich noch nicht mal die Matura. Ich weiß, es wird der Tag kommen, an dem mir ein Level zu schwierig wird. Ich werde etwas Dummes sagen oder tun und Game over, keine Extra-Leben für mich. Sybille weiß das auch. Irgendwann werden alle erkennen, dass ich eine Betrügerin bin, die sich nur sehr lange durschummeln konnte. Diesen Tag fürchte ich wie das Jüngste Gericht, wenn sie mit dem Finger auf mich zeigen werden.
„Also, die Gastfamilie ist ausgesprochen nett“, frohlockt Billie, nachdem sich die Herbergsmutter zurückgezogen hat, damit wir auspacken und uns frischmachen können. „Aber das Bad ist winzig! Und nur ein einziges Badezimmer im ganzen Haus, komisch irgendwie“, findet sie außerdem. Sie redet wie ein Wasserfall und kann den Modus Ich-bin-die-Vorzeige-Schülerin-aus-Österreich offenbar nicht mehr abstellen.
„Ich glaube, dass ihre eigenen Kinder schon groß sind. Hast du unten die Fotos an der Wand gesehen? Das sind sicher die Söhne. Sind wahrscheinlich schon erwachsen. Bestimmt war das hier früher das Kinderzimmer…“
Wie immer durchschaut Billie alles und hatte Zeit, über Diverses nachzudenken, während ich noch vollauf mit Nebensächlichkeiten beschäftigt war. Was meine Klassenkameraden routiniert absolviert haben, war für mich heute aufregendes Neuland - allein die Fliegerei. Das ganze Flughafensetting, wo man auf Schritt und Tritt beobachtet wird und: Einchecken, die Taschen scannen und sich abtasten lassen… Den anderen war das keine große Sache. Selbstbewusst haben sie ihre schicken Rollköfferchen hinter sich hergezogen, während ich mich mit der alten Reisetasche abschleppen musste. Ich war froh, dass wir Lehrkräfte dabeihatten, die uns anleiteten. Die Anreise hat mich bereits müde gemacht.
Nicht so Sybille, die ist mehr als aufgekratzt.
„Du musst mehr reden, dafür sind wir schließlich hier. Damit wir Übung bekommen, für die Kommunikation, Sprachkenntnisse…“, belehrt sie mich, ehe wir zum Abendessen gerufen werden.
Am fünften Tag haben wir uns schon ganz gut eingelebt.
Frühstück mit der Gastfamilie, vormittags Unterricht bei Native Speakern, nachmittags Sightseeing mit unseren mitgereisten Lehrern aus Austria.
Buckingham Palace von außen, Madame Tussauds von innen, Trafalgar Square und so weiter. Heute ist St. Paul’s dran und abends Musical in einem schicken Theater. Der fünfte Tag soll das Highlight werden, vor allem das Musical. Extra ziehe ich eine Bluse an, um dem eleganten Anlass am Abend gerecht zu werden.
Bei der Morgentoilette im Bad der Gastfamilie wechsle ich noch schnell den Tampon, weil ich, was sonst, gerade jetzt, hier in London meine Tage haben muss. Ich ziehe am Rückholbändchen und halte schließlich ein blutiges Abfallprodukt in den Händen, das mich unmittelbar in Probleme stürzt, denn: Wohin damit? Kein Mistkübel im Bad, oh Scheiße. Ach ja, die hatten nur Söhne, fällt mir jetzt wieder ein, die kennen die Probleme menstruierender Teenies nicht. Ich wickle den benutzten Tampon in mehrere Lagen Klopapier und überlege zunächst, das Ganze im Papierkorb in unserem Zimmer zu versenken. Verwerfe diese Idee wieder, denn der Papierkorb hat keinen Deckel und ich will nicht, dass unsere Gasteltern etwas Blutiges im Abfall finden. Noch dicker wickle ich die dunkelrote Watte in Klopapier und stopfe alles notgedrungen in meine Hosentasche.
Niemand merkt was, als ich aus dem Bad komme. Schnurstracks gehe ich zu meiner Umhängetasche und verstaue den blutigen Tampon dort bei seinen noch ungebrauchten Brüdern im Geheimfach ganz hinten. Am Klo in der Schule während des Vormittagsunterrichts würde ich ihn unauffällig entsorgen können. Ich beschließe, Sybille oder den anderen Mädels nichts zu sagen und die Sache souverän zu händeln.
Wir wohnen alle im selben Viertel und treffen uns jeden Morgen an der Bushaltestelle für den Schulweg. Nicht alle in der Klasse sind zufrieden mit ihrer Unterkunft. Luisa und Emma motzen seit der Ankunft über die Kochkünste ihrer Gastmutter: „Den Auflauf gestern hättet ihr sehen sollen… Nur aus Höflichkeit haben wir gegessen und nichts gesagt…“
„Ihr versteht das nicht: Das ist die berühmte britische Küche, das muss so schmecken!“, feixt Alexandra, die das Essen in ihrer Familie okay findet.
Vor allem Jana und Valentina beschweren sich unaufhörlich. Winzig und erbärmlich sei das ihnen zugedachte Zimmer.
„Seid nicht so pingelig“, weist Sybille die beiden zurecht. „Nicht so versnobt! Für eine Woche kann man das schon mal aushalten. Und überhaupt: Es gibt Schlimmeres!“, legt sie nach und ich schwöre, dabei schaut sie mich an.
Später am Nachmittag in der St. Paul’s Cathedral erklärt uns eine Lehrkraft den Zauber der Whispering Gallery. Man stellt sich auf die eine Seite des kreisförmigen Ganges im Gewölbe und redet was in die Wand hinein - und auf der gegenüberliegenden Seite hört man angeblich das Gesagte. Das Ganze in 30 Metern Höhe. Sybille schickt mich ans andere Ende der Galerie und will das mit mir ausprobieren. Ich tue wie geheißen und lausche drüben an der Wand. Um mich herum ist ganz schön viel Gerede und Getuschel und schaffe es nicht, einzelne Sätze herauszufiltern, so sehr ich mich auch anstrenge. Ich drehe mich um und gestikuliere in Richtung Billie, dass ich nicht sicher bin, ob es klappt. Nochmal soll ich es versuchen, ich presse mein Ohr ans Gemäuer.
„Sie glaubt, sie ist gut, aber sie stinkt und sie cheatet!“, höre ich dann doch einige Wortfetzen, keine Ahnung, ob ich gemeint bin.
„Na, was habe ich gesagt?“, will mich Sybille testen, nachdem sie zu mir herübergekommen ist. Dass ich nichts verstanden hätte, will sie nicht gelten lassen.
„Dann nochmal!, befiehlt sie und will mich erneut auf die gegenüberliegende Seite der Galerie dirigieren, aber ich mag nicht mehr.
„Dann wirst du nie erfahren, was ich geflüstert habe“, ätzt Sybille - und wenn man mich fragt, lächelt sie dabei äußerst boshaft.
Für den Theaterabend hat sich Sybille unterwegs umgezogen. Ihre Jeans und den Pulli hat sie gegen ein kurzes smaragdgrünes Samtkleid getauscht, das hatte sie bereits heute Morgen in ihren feinen Lederrucksack gepackt. Das Kleid sieht edel aus. Es passt perfekt zu Billies rotblonden Haaren und dem hellen Teint. Man könnte glatt glauben, sie wär Engländerin, eine adlige vielleicht.
Wir stehen Schlange vor dem Einlass zu Les Misérables und Sybille erklärt den anderen, dass es im Stück um die Elenden im Frankreich des 19. Jahrhunderts geht. „Das muss ja schrecklich gewesen sein, damals. So ungerecht, so viel Armut - und wie man auf die Armen gespuckt hat!“, fasst sie das Wichtigste zusammen. „Man muss echt froh sein, dass wir heute in einer modernen, fortschrittlichen Zeit leben, wo es anders zugeht und jeder kann es zu was bringen, wenn er sich nur anstrengt und ein bisschen Grips hat…“
Dass sie dabei mich anschaut, steht jetzt aber außer Frage.
Da muss ich an meine Familie denken, die Daheimgebliebenen. An mein Zuhause, wo dich niemand bestärkend an die Hand nimmt und wo sich die Wände mit giftigen schwarzen Gewächsen überziehen. Wo es eine außerplanmäßige Überraschung ist, wenn du zufällig doch mal vorwärtskommst, bis sich rausstellt, dass auch das nur ein großer Irrtum ist.
Der Einlass geht nur schleppend voran.
„Ich glaube, die kontrollieren die Rucksäcke und Taschen“, informiert uns die Lehrerin von weiter vorn. „Zieht schon mal die Mäntel aus und haltet euch für die Kontrolle bereit!“
„Na, die werden Augen machen, wenn sie bei mir Jeans und Pulli finden“, kichert Sybille, da setzt bei mir kurz der Herzschlag aus.
Augenblicklich fällt mir nämlich wieder ein, was sich Peinliches in meiner Tasche finden lässt. Blöderweise hatte ich am Vormittag vergessen, den benutzten Tampon wie geplant auf dem Schulklo zu entsorgen. Jetzt ist der da immer noch drin, im vermaledeiten Geheimfach meiner Tasche.
Ich fürchte, ich werde erst blass, dann rot, mir wird heiß und ich fange an zu zittern.
Ich sehe, weiter vorne kontrollieren sie wie am Flughafen, mit Körperscannern und all sowas.
Ich stelle mir vor, wie die Frau am Kontrollpunkt gleich in meiner Tasche suchen und schließlich ein seltsames Etwas, eingewickelt in Klopapier, mit pikiertem Blick hervorziehen wird. Bestimmt ist das Blutige schon bis zur äußersten Klopapierschickt durchgesickert. Die Frau wird stutzig werden und langsam wird sie Schicht für Schicht auseinandernehmen und sich fragen: Was könnte das sein? Ein abgehackter Daumen vielleicht? Bis sie es erkennt und sich dann erst so richtig ekelt. Sie wird das benutzte Hygieneprodukt fassungslos in die Luft halten und mich angewidert und voller Verachtung ansehen.
Dann wäre was los. Die Lehrer, meine Mitschüler, die feine Londoner Gesellschaft, alle würden sie sehen, die blutbefleckte Watte, die in mir gewesen war. „Pfui“ und „Iiiiihhh“ würden sie ausrufen und mit dem Finger auf mich zeigen. Das würden sie nie vergessen! Die restliche Reise, das restliche Schuljahr, das ganze restliche Leben nicht. Man würde Fotos machen, eine Überwachungskamera würde sowieso alles aufzeichnen. Mein peinliches Versagen wäre für alle Zeit dokumentiert.
Ich weiß nicht, was tun.
Erbarmungslos schiebt mich die Menge vorwärts, immer näher an den Kontrollpunkt heran.
Ich kann nur beten. Beten, dass sie nicht in meiner Tasche… Ich meine, vielleicht kontrollieren sie ja nicht jeden, vielleicht kontrollieren sie ja nur stichprobenartig und ich…
„Open your bag, please!“, weist mich die Security an, eiskalt. Natürlich. Die Frau mustert mich misstrauisch und scheint zu wissen, dass ich was zu verbergen habe. Ich versuche zu lächeln, aber sicher durchschaut sie mich. Widerwillig schiebe ich ihr die geöffnete Tasche rüber. Mit geübtem Griff arbeiten sich die Hände durch meine Hefte, Stifte, Taschentücher…
Das Herz schlägt mir bis zum Hals und die Frau lässt sich ewig Zeit für mich. Sie prüft genau, prüft lange. Wie hypnotisiert schaue ich zu, während die Fremde in meiner Tasche wühlt. Gleich… gleich… wird sie… findet sie…
Aber nein, findet sie nicht. Schon wieder habe ich unfassbares Glück. Mein geheimes Fach lässt die Security unangetastet, tatsächlich, warum auch immer. Ich bin ganz verdattert, als mir meine Tasche wieder zurückgeschoben wird und ich passieren darf, einfach so.
Hinter dem Kontrollpunkt stehen Sybille, Jana und Valentina beisammen. Sybille in ihrem grünen Kleid palavert schon wieder und hat nicht mal erklären müssen, was es mit der Jeans im Rucksack auf sich hat.
Ich schaue, wo das nächste Klo ist und entschuldige mich.
Auf der Toilette des Her Majesty’s-Theaters krame ich wie im Fiebertraum nach dem Objekt im Klopapier. Es verschwindet umgehend in Her Majesty’s-Mülleimer, endlich, und ich fühle mich wie von einer großen Sünde befreit.
Ich gehe zurück zu meiner Gruppe. Jacken abgeben, Plätze suchen. Die Mädels schäkern und flirten mit den Burschen in der Reihe hinter uns.
In Gedanken bin ich immer noch bei der unsäglichen Katastrophe, der ich grade so nochmal entgangen bin. Was gewesen wäre, hätte die Security ein bisschen tiefer, ein bisschen genauer in meiner Tasche… Mir schwirrt der Kopf und die schändlichen Bilder vor meinem geistigen Auge wollen nicht weggehen. Vom restlichen Abend und von Les Misérables kriege ich nicht mehr viel mit, aber egal. Billie amüsiert sich ganz köstlich.
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