Im grünen Meer

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Jetzt hat man den Hang also abgemäht.
Die Wiese grenzt an den Waldrand und bis neulich waren die Gräser mehr als hüfthoch.
Auf meinem routinierten Abendspaziergang komme ich täglich vorbei.
Mein Weg verläuft unten, am Fuß der Böschung.
Oft in der Dämmerung verlaufen sich die Farben, Geräusche und die Kreaturen.
Anfang Mai sprang ein Hase durch die Landschaft und mir ins Auge.
Da war das schräg abfallende Grün noch ein pieksiger Kurzflorteppich.

Am Achtzehnten fiel mir der rotbraune Schatten schon von weitem auf.
Die Grashalme waren dem Reh bis an den Bauch heran gewachsen. Seelenruhig mampfte es Halme in seinen Bauch hinein.
Es lief nicht fort, nachdem es mich bemerkt hatte.
So standen wir eine Weile, bis ein nächster Spaziergänger kam und mich unbewusst verjagte.

An den darauffolgenden Abenden hielt ich schon gezielt Ausschau.
Nicht immer, aber einige Male mit Erfolg.
Stets an der gleichen Stelle graste das Wild und wild wuchs das Gras.
Der rotbraune Schatten verschwand von Tag zu Tag weiter hinter grünen Stielen.
Ob dahinter auch Hasen herumspringen, das hätte man schon nicht mehr zu sagen vermocht.

An jenem Abend, als ich nur noch die zwei rotbraunen Ohren im hohen Grün ausmachen konnte, hatte es kurz zuvor geregnet.
Ich war mir gar nicht sicher, ob das überhaupt Ohren waren.
Aus sturer Neugier stieg ich den ausgetretenen Pfad am Rand des Wiesenhangs hinauf.
Nach einigen Metern wiedererkannte ich den rotbraunen Kopf. Die Ohren zuckten unruhig, aber der Körper blieb da.
Weiter stieg ich bergan.
Zweifellos bemerkte das Reh mein Näherkommen, es reagierte aber so gar nicht, von ein paar nervösen Kopfbewegungen abgesehen.
Ich befürchtete zunächst, es könnte verletzt sein.
Zu stoisch verhielt sich das Fluchttier.
Es verharrte auch dann noch, als ich schon auf gleicher Höhe mit ihm war.
Auf Augenhöhe schließlich.
Wir waren jetzt vielleicht noch fünf, sechs Meter voneinander entfernt.
Nichts trennte uns, höchstens hohes Gras.
So schauten wir uns lange Zeit in die Augen.
Miteinander standen wir auf der Wiese, ohne dass jemand anderes dazwischengekommen wäre.
Ich dachte an Tollwut oder daran, dass ich nur ungern durchs regennasse Feld latschen würde, um ein verletztes Reh zu bergen. Wohin auch?
Wohl hatte ich die Sache zu wenig durchdacht.
Zum Glück nahm mir das Reh die Entscheidung kurzerhand ab.
Ohne ersichtlichen Grund - ich hatte mich keinen Millimeter gerührt - sprang es plötzlich doch auf und in den Wald und davon.
Ebenfalls begab ich mich nach Hause.

Von da an mutmaßte ich nur noch über den rotbraunen Schatten. Im Vorübergehen.
Vorübergehend noch höher wuchsen die Gräser.
Jeden Tag schweifte mein Blick zu ebenjener Stelle und beseelt war der Gedanke, ein tiefbraunes Augenpaar schaute zurück.
Manchmal glaubte ich, es würden tatsächlich zwei rotbraune Ohren für mich zucken.
Irgendwo in diesem grünen Meer, wo die Wogen hoch gehen.
Jetzt hat man den Hang also abgemäht.
 



 
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