Im Kerker

mueckstein

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Im tiefsten, feuchtesten Kerkergewölbe, das nur ein Fenster besitzt, durch welches in jeder Morgendämmerung ein einziger Strahl fällt und nur für Sekunden verweilt. Nun aber, in tiefster Nacht, ist das einzige Licht eine müde flackernde Talgkerze nahe der dicken, eisenbeschlagenen Balkentüre, und der einzige Ton das unregelmäßige Tropfen des Wassers irgendwo in der Dunkelheit, Wasser, das sich am Gewölbe sammelt, fällt und kleine Pfützen bildet, und immer wieder das beunruhigende Trappeln von feinen Rattenkrallen, durchmischt mit Quietschen, Pfeifen und Nagen von geisterhaft unbestimmbarer Art; - in diesem düster-bedrückenden Loch hängt nun ein Mensch in beklagenswertem Zustand, die dürren Gliedmaßen in massive Spangen geschwärzten Metalls gefaßt und durch breitgliedrige Ketten in seinen Winkel gespannt; er bewegt sich nicht, längst sind seine Muskeln einem lähmenden Eise anheimgefallen, jener kalten Starre, welche Empfindungen gerinnen läßt und das Herannahen des letzten Schlafes ankündigt – doch seine Adern pulsen, seine Lippen zucken noch, rauh weißen Dampf in die klirrend kalte Kellerluft entlassend, und hie und da flattern gar die Augenlider, nur um gleich darauf mit bleierner Schwere wieder zu fallen, und enthüllen für einen Moment den letzten Funken im brechenden Blick des Gequälten.

Hinter diesem Blick jedoch lodert das Chaos unendlicher Pein und marternder Schmerzen; denn dort bietet sich die Welt des Lebens an dessen unausweichlichem Ende selbst ein Bühnenspiel, und zieht ein selbst-überwältigendes Resümee, dessen schlußendliche Bedeutung selbst dem Bewußten niemals zu erkennen steht.
Da hat sich die triste Kerkerhöhle mit ihrer ganzen Schrecklichkeit eingebrannt; und wallende, peinigende Gefühle vermischen sich mit lange vergrabenen Erinnerungen, der flackernden Aufmerksamkeit ein wild-schreckliches Bild vorspiegelnd: Der Wahn des Erdulders reißt vor dessen geschlossenen Augen den gestampften Kerkerboden auf und enthüllt endlose Schächte, tiefglühende Seen höllischen Feuers, das sich mit jedem neuen Schauer hochzurecken scheint, um ihn aus seiner Qual in eine Welt gar noch größerer Schmerzen zu entführen.

Endlich erstirbt die Vision in Dunkelheit, und die Gestalt bricht unter Krämpfen in ihrem Joch zusammen.

Der Himmel war eine endlose Ebene von dunklem Samt, in dem die Lichter Vardas wie die edelsten aller Juwelen blitzten. – Es war, als hätte die Nacht allen Schmerz verschlungen.
Eine schmale menschliche Gestalt stand inmitten der Waldlichtung, die Handflächen dem Himmel entgegen-gereckt; und aus dem Glitzern des Firmaments fuhr eine Kraft herab und drang in sie ein, erfüllte sie vom Scheitel bis zur Zehe.
Die Gestalt warf einer plötzlichen Aufwallung von überweltlicher Freude den Kopf in den Nacken, warf dem Firmament einen stummen Ruf entgegen und sank in die Knie. Der Rücken beugte sich, und die Hände umschlossen den Kopf; doch der Geist flog auf, erhob sich über die höchsten Wipfel und in die endlose Weite des Ekkaia.
Die Waldlichtung bildete einen perfekten Kreis, in dessen Mitte ein einzelner, grob behauener Menhir aus dem Boden ragte. In die Seitenflächen des dunklen Steinquaders waren geheimnisvolle Runen eingeritzt: Zeichen, wie sie vor undenklicher Zeit einem verblendeten Geist im Überschwang der Macht entsprungen waren; und noch immer banden sie eine unverständliche Magie an den Stein, dessen Oberfläche sie verletzten. – Aus jeder der vier Ecken des Quaders ragte ein fein ziselierter Drachenkopf hervor, dessen Konturen wiederum nach den magischen Runen gewählt waren. Doch die Oberfläche des Blockes war feuergeschwärzt, und in einer kreisrunden Vertiefung in ihrer Mitte prangte die glatte Oberfläche eines tiefroten Juwels, dessen Licht dem der Sterne nachzueifern schien.
Vor diesem Monument nun kauerte die Gestalt, und als der Geist in sie zurückkehrte, erhob sie sich und trat an den Stein heran. Ihr Blick lag einzig und allein auf dem Edelstein; und gefangen trat sie näher und näher.
Sie wußte, der Stein war das Blut ihrer Opfer.

Dann ein Schrei:– Ashatyrlath! und die stolzen Tannen am Waldesrand wichen mit einem Windesbrausen vor der Lichtung zurück.
Ein Schatten fiel über den Ort; und das Licht der Sterne wurde von einem dunklen Schleier verhängt. Die Gestalt kniete erneut nieder, dieses Mal jedoch inmitten des Opfersteines; und die Stirn senkte sich auf den Blutstein.

Die Schatten zogen sich zusammen und schienen Figuren zu bilden; doch die Gestalt rührte sich nicht. Ein höllischer Schmerz stürmte von allen Seiten auf sie ein –
Und dann forderte das Dunkel sein Opfer.

Mit einem Quietschen wie der Todesschrei einer Rattenherde setzt sich die schwere Kerkertüre in Bewegung. Dunkles Holz lastet auf dunklerem Eisen und knarrt und kracht mit traumzerstörender Gewalt in die Fieber-visionen des Gefangenen.
In dem Höllenfeuer bilden sich Risse, und fester Boden steigt hervor; und mit langsamen, schweren Schritten stapft ein abscheuliches Wesen in den Raum; ein Ork, so mag es scheinen, und doch kein Ork; mit schwarzen Augen voller Haß und Häme und dicken Knochenplatten am ganzen Körper; eine verhärmte Fratze von schwarzer, ledriger Haut verzerrt sich zu einem spöttischen Grinsen.
Seine Schritte erschüttern den Boden mit der Gewalt fallender Bäume, und wo er steigt, tut sich erneut die Hölle auf, um jedes Auskommen zu verhindern.
„Friß“, sagt er; doch es klingt wie „skai!“ Ein fauliger Gestank wabert von seinen Händen, als er eine Schüssel voll sich ringelnder Maden an den Mund des Gefangenen drückt. „Skai!“
Der andere schließt die Augen, um sich vor der neuerlichen Peinigung zu schützen; doch der Geruch von Fäule und Schorf bleibt ihm in der Nase hängen, und noch immer liebkosen nackte Würmer seine Lippen. Ekel und Gier lassen ihn erschaudern.

Mit angewiderter Miene nimmt der Gefängniswärter die Schüssel an sich und stapft aus dem Raum. „Verflucht seist du, Narr!“, murmelt er vor sich hin, „willst du dein Leben noch künstlich verkürzen?“ Und mit einem Seufzer sperrt er die Türe ab, läßt sich auf das Wärterbänklein fallen und taucht einen Löffel in den Brei.

Dunkle, weit aufgerissene Augen in einem bleichen Gesicht, umrahmt von langem, pechschwarzem Haar. Der Mund zu einem Schreien geöffnet, doch stumm in erschütterndem Schrecken.
Eine seltsame Schönheit lag in diesem Gesicht, eine edle Reinheit, die selbst von dem verzerrenden Ausdruck der Angst nicht vollständig zerstört wurde.
Knochige Finger streckten sich in die Höhe, und auf einmal schoß Blut aus den Fingerspitzen. Endlich löste sich der Schrei, und die Finger krallten sich in harten Schnee –
Das Bild wurde von einem grausigen Zeichen verschlungen, verzerrte sich zu der Rune der reinsten Finsternis.
Gezeichnet mit Blut, auf gefrorener Haut.

Der erstickende Geruch warmen Blutes waberte auf und erfüllte alle Sinne.

Der Gefangene windet sich und keucht; dann speit er dicke rote Flüssigkeit auf den Boden. Sein schweres Keuchen dauert an, bis ihn erneut die Kräfte verlassen und er mit offenem Mund, aus dem noch immer Rinnsale von Blut sickern, in den Ketten hängt.

– Phariën!

Ein Zucken spannt seinen Körper und löst sich in ein unkontrollierbares Schaudern auf. – Phariën? Die Augenlider des Gefangenen heben sich schwerfällig, und sein Blick irrt voll Wahn an den Steinwänden umher.
– Phariën?

Aus einer Spalte im Boden stiegen zwei dürre Hände auf; die blutverschmierten Finger wanden sich in Krämpfen. Die Erscheinung löste sich vom Boden und bewegte sich auf den Leidenden zu.

– Phariën!, rief die Stimme,– Phariën!

Erkennen blitzt im Blick des Gefangenen auf, und heiße Tränen rollen über sein ausgemergeltes Gesicht.
Ja, ich bin Phariën, formen seine Lippen, und „Phariën“, wispert er.

– Du hast uns verraten, Phariën!, klagte die Stimme, und die Hände verkrampften sich zu einer Klaue. Dann hallte ein Schluchzen durch die Gruft, so leidvoll und herzzereißend, wie nur ein sterbendes Kind schluchzen konnte.
– Du hast uns verraten!

„Nein!“, schreit der Gefangene, und seine Muskeln spannen sich. „Nein!“
„Ruhe!“, schallt es von draußen, und der Kerkermeister klopft mit seinem Schlüsselbund gegen die Tür. „Halt’s Maul!“
Der andere leckt sich vorsichtig das halbgetrocknete Blut von den Lippen. „Ich bin Phariën“, ruft er der stummen Wand entgegen, und sein Echo fliegt weit durch die Gewölbe.

Aus dräuenden Wolken formte sich das Gesicht, und die dunklen Augen richteten sich anklagend auf Phariën.

Wieder fahren Flammenzungen aus den Gewölben der Hölle empor, und Phariën streckt sich ihnen mit aller Kraft entgegen; – das Brennen, das von seinen blutiggeschundenen Gelenken den ganzen Körper erfaßt hat, gegen das reinigende Feuer der endgültigen Vernichtung einzutauschen: Dies scheint ihm nun das höchste Ziel.
Der Schlaf – die Dunkelheit – so nahe . . .
Er gibt allen Widerstand auf.

Das Dorf lag im Schatten.
Phariën warf einen letzten Blick auf die Silhouetten der umliegenden Hügel und machte sich dann auf den Weg ins Tal, wo das kleine Dorf Kreith an der silbrigglänzenden Lauf lag. Alles schlief im Ort; niemand sollte ihn hindern.
Er ging die verlassene Hauptstraße entlang, vorbei am Naryatempel, und bog schließlich zwischen zwei hohen Kornspeichern hindurch auf den Karrenweg in Richtung Henckis Tir ab.
Als er auf der Höhe der Laufbrücke stand, erblickte er vor sich in den Schatten das bescheidene Anwesen des Kyrdam-Bauern, den letzten Hof vor dem Paß nach Henckis Tir. Der alte Kyrdam machte ein erkleckliches Geschäft damit, daß er die vorbeiziehenden Händler mit Nahrung und Ausrüstung ausstattete und für die Bauern des Laufthales auch die Regalien für den Grafen aufnahm und sie zur rechten Zeit über den Paß brachte. Darum war sein Hofgebäude dicht am Weg, und nur ein einziger alter Knecht hielt dort Nachtwache.
– Wohin des Wegs, mein Herr?
– Ich suche Unterkunft und Schutz für diese Nacht.
– In Kreith, der anderen Richtung nach, gibt es eine gute und billige Herberge.
– Sie ist geschlossen.
– Seit wann?
– Seit jetzt.
Schweigen brach ein. Phariën warf einen Blick zum Mond hinauf, und seine Züge lösten sich in ein bitteres Lächeln, als er das kalte Eisen in seiner Hand spürte.
– Und woher kommen Sie, mein Herr?
– Aus dem Jetzt; wie immer.
Der Knecht röchelte nur kurz, als sich der Dolch in seine Eingeweide bohrte. Phariën ließ den verblutenden Körper zurück, nicht ohne ein angewidertes Schaudern, und setzte seinen Weg zum Haupttrakt des Hofes fort.
– Ashatyrlath, gib mir Kraft.
Auf Pelzsohlen schlich Phariën an der niedrigen Balkenwand des Gebäudes heran, bis er das Fenster der Schlafkammer erreicht hatte.
Unter dem offenen Fensterladen zögerte er. Er hatte schon oftmals Menschen getötet, zumeist aus dem Hinterhalt und mit den Waffen eines Assassinen; und auch die Opferrituale des Kultes waren ihm wohlvertraut. Er hatte seine Nerven gegen die schrecklichsten Anblicke gestählt und die Ekstase des Tötens, die Wärme des frischen Blutes und den Geschmack ersterbender Leber genießen gelernt – doch dies war das erste Mal, daß er selbst ein Opfer aus der Sicherheit des eigenen Heims rauben und den Opfermeistern darbieten mußte.
Langsam stand er auf, fuhr mit den Fingern über die Rune, die außen in den Fensterladen geschnitten war.
– Die Wahl haben andere getroffen, nicht ich.
Vorsichtig, keinen Laut zu verursachen, beugte er sich in die niedrige Fensteröffnung. Die inneren Läden waren halb geschlossen und mit einer Wolfskette befestigt; doch mithilfe eines kleinen Astes war dieses Hindernis bald beseitigt.
Der Eindringling stellte die irdenen Blumentöpfe auf der Fensterbank Stück für Stück beiseite, bevor er über die Kante leise in die Stube glitt.
Sein Ziel lag in einem kurzen Bett nahe dem Fenster. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen beugte er sich über das Bett, erkannte, als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, die pechschwarzen Haare auf dem weißen Linnen, das kindliche Gesicht, halb im Polster vergraben. Der regelmäßige Atem besänftigte sein Gemüt und ließ ihn für einen Moment seine Pflicht vergessen.
– Welch ein Wert, flüsterte er, – welch wertvoller Besitz sind doch ein trautes Heim und eine Familie.
Da regte sich einer der Bauernsöhne, der am nächsten der Tür schlief, und der stille Rhythmus des Atems wurde durch einen Laut des Schreckens unterbrochen.
Phariën schrak zusammen, und alle wehmütigen Gedanken fielen im Bruchteil eines Augenblickes von ihm ab. Mit zielsicheren Bewegungen schlug er die glatte Bettdecke zurück, packte das Kind mit beiden Händen und sprang zum Fenster.
– Zu Hilfe!, schrie der Bursche,– ein Eindringling!
Doch bevor der Ruf noch verklungen war, hatte sich derselbe bereits aus dem Staub gemacht und lief über die schneebedeckten Felder des Laufthales dem Ganningschnitt und der Opferstelle entgegen.

„Schläfst du, oder was?“ Der Kerkermeister zerrt mit einer groben Pranke den Kopf des Gefangenen in die Höhe. Zwei verhärmte Augen stieren ihn hinter flackernden Lidern hervor erkenntnislos an.
Der Angesprochene stößt einen gurgelnden Schrei der Überraschung und des Abscheus aus. Seine Glieder zucken, und sein Geist rast, nicht willens, die grausam reale Welt vor der weitaus realeren Erinnerung anzuerkennen. Die Bilder vermischen sich: Bilder der Hoffnung und der Verzweiflung, des Zweifels und des Schmerzes. Doch eines bleibt, ob in den hallenden Grüften zu Harkenthal oder unter den Wipfeln der yddahlischen Wälder: Überall scheint das bleiche Gesicht der Bauerntochter, überall hallen ihre ersterbenden Schreie, krallen ihre plumpen Finger nach ihrem Peiniger.

„Du solltest das bißchen Zeit, das dir bleibt, zur Reue benutzen“, grölt der dämonische Foltermeister. „Im Morgengrauen erwartet dich die Vollstreckung.“ Er läßt ein zutiefst boshaftes Lachen hören. „Dir wird eine Ehre ohnegleichen widerfahren – der neue Hofmagier Seiner Majestät, Carneldó, wird dich höchstpersönlich für deine Schandtaten richten.“

Phariën beißt sich vor Furcht und Zorn auf die Unterlippe, bis Blut hervorströmt und sein kaltes Kinn benetzt. Dampfwolke für Dampfwolke steigt vor der Fratze des Orks auf und verwischt seine Züge, dämmt den höllischen Anblick und fesselt Phariëns müden Blick.

„Warte nur, ich zeige dir Reue“, grollt der Kerkermeister, offenbar verärgert von dem unerschütterlichen Phlegma seines Gegenübers. Seine Rechte prallt klatschend auf der Wange des Gefangenen auf und wirft dessen Kopf zur Seite.

Schmerz explodiert in Phariëns Gesicht, als die Klauen des Orks sich in das Fleisch seiner Wange bohren und lange Streifen blutleeren Fleisches herausreißen. Als der Schmerz die Augen erreicht, wird es dunkel um ihn.

„Du wirst leben“, brüllt der Kerkermeister und versetzt dem schlaff herabhängenden Kopf einen weiteren Schlag. „Glaub bloß nicht, daß du so leicht davonkommst!“
Doch Phariën ist das Glauben längst vergangen.

Ein Blitz nach dem anderen schlug in die Opferstätte ein, brachte Bäume zu Fall und setzte sie in Brand, zerschmetterte Stein, wirbelte Schnee in den Himmel und verkohlte die Opfermeister.
Phariën starrte in Schrecken auf die hochaufragende Figur im Kapuzenmantel, die mit hochgereckten Armen in der Schneise stand und das Unwetter nach ihrem Willen zu lenken schien. Ein Priester nach dem anderen wurde von Flammen eingehüllt, und die Schreie der Sterbenden wurden mit jedem Moment quälender. Dann war plötzlich alles still, und der Rauch über der Zerstörung formte sich wie von Wunderhand zu einem schwarzen Symbol: Die Rune der Pestilenz, das Zeichen der tiefsten Dunkelheit.
Ohne jeden weiteren Gedanken ließ Phariën das Kind fallen, fuhr auf dem Absatz herum und rannte mit weit ausholenden Schritten in den Wald hinein. Er sprang mit unerwarteter Agilität über umgestürzte Baumstämme und schmale Gräben, erkannte trotz der Dunkelheit jedes Hindernis und wich ihm geschickt aus, und hielt schließlich mit brennenden Lungen und hochrotem Gesicht vor einem schneegefüllten Bachbett an.
Den Weg hatte er längst verloren.
Keuchend ließ er sich auf den Boden sinken und stierte für lange Zeit in die tiefen Schatten des Waldes hinein. Eine unangenehme Leere machte sich in ihm breit, vergleichbar jener Leere, die er verspürt hatte, bevor er vor eineinhalb Jahren dem Kult Ashatyrlaths beigetreten war. Nun erst konnte er den Schmerz verstehen, den seine Lehrmeister vor nicht allzu langer Zeit empfunden hatten, als der feste Kern des Kultes plötzlich und unerwartet vor seinem größten Erfolg vernichtet worden war.
Sein erstes Opfer. Zerstört und für immer dahin.

Wut stieg in ihm auf, und für einen Moment war er bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, um den Verlust seiner Kameraden zu rächen. Er wußte, Ashatyrlath würde ihm die Kraft geben, sein Zeugnis in Mittelerde aufrecht zu erhalten.
Doch dieser Zorn und Wagemut wurde hinweggespült von einer neuerlichen Welle des Schmerzes, von dem tiefen Gefühl der Verlassenheit und Sinnlosigkeit.
Seine Familie war tot, im Feuer Ashatyrlaths umgekommen.
Seine Freunde hatten sich von ihm abgewandt, als er den wahren Weg der Welterkenntnis beschritten hatte.
Und nun war seine einzige Heimstätte, der Kult, dahingegangen. Vernichtet von einer rätselhaften Gestalt, die wie aus dem Nichts an der Opferstätte aufgetaucht war und den ehrwürdigen Ort mit Wolkenfeuer besudelt hatte.

Sein Blick wanderte zum Mond hinauf; und als er die silbrige Scheibe betrachtete, erschien sie ihm plötzlich als ein schrecklich vergrößertes, furchteinflößendes Abbild der Dunklen Rune. Wolken hatten sich vor das helle Antlitz geschoben, und es bestand kein Zweifel an dem Wunder: Die Rune hatte selbst das Firmament erobert.
Von einer plötzlichen Furcht getrieben sprang Phariën auf und blickte wild um sich herum. – Ich lasse mich nicht narren!, rief er; – dein Wolkenspiel verfehlt seine Wirkung!
Doch tatsächlich hatte es seine Wirkung keineswegs verfehlt; denn nachdem seine zornigen Worte im Wald verklungen waren, machte sich der Unglückliche daran, mit starrem Blick dem Zeichen des Mondes zu folgen; und für lange Zeit tappte er so unsicher durch den Wald, ohne Gedanken und ohne Sinn.
Dann, endlich, lösten sich die dunklen Wolken auf, und der Mond leuchtete in voller Pracht zwischen den Lichtern Vardas. Auch in das Herz des Verlorenen schien sein klares Licht; und Phariën blickte mit Erstaunen an sich herunter.
Was hatte er getan?

Mit Erschrecken erblickte er vor seinen Schuhspitzen fremde Fußspuren im Schnee; Spuren kleiner, bloßer Füße. Ein schweres Gefühl der Beklemnnis befiel ihn; und langsam, widerwillig, ging er den Fußstapfen hinterher.
Sollte er sein Opfer doch noch vollbringen können? War er nun der Opfermeister – und lag es in seiner Hand, den Kult neu zu beleben?
– Ashatyrlaht, rief er, – rate mir!
Doch die Wälder schwiegen.

Nach einer kurzen Strecke Weges wurde der Schnee rauh und harschig; und nicht lange später fanden sich Blutstropfen in den Fußspuren. Der kalte Harsch mußte die Haut des Kindes geritzt haben, erkannte Phariën; offenbar gingen die Schnitte tief, denn kurz darauf war das Mädchen gestürzt – nur um sofort wieder hochgerissen und weitergezwungen zu werden.
Verwirrt und erschrocken blickte sich Phariën um; doch die Spuren waren eindeutig.
Und dennoch war keine zweite Spur zu sehen, kein Anzeichen für einen Verfolger, außer seinen eigenen.

Eiskalte Furcht beschlich Phariën. Irgendjemand – oder irgendetwas – trieb hier ein grausames Spiel mit ihm. Doch was war das Ziel?
Da hörte er zum ersten Mal das Schluchzen.
Es klang leidvoll wie nichts, das er zuvor gehört hatte; gepeinigt und hoffnungslos, getrieben und gehetzt. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde es lauter, und jeder Laut bohrte sich mit glühender Gewalt in sein Herz.

Er wußte nicht, wie lange er so durch den Schnee stapfte, der Blick von Tränen des Mitleids verschleiert; doch am Ende gelangte er an eine Lichtung, in der die blutroten Fußstapfen endeten und der Mond sein ganzes Licht auf die kalte Schneedecke breitete.
Und in der Mitte der Lichtung sank eine schlanke, bleiche Gestalt langsam und schwerfällig zusammen, von dünnen Schatten eingehüllt.
– Phariën!, rief eine Stimme, und es schien, als käme sie aus den Tannen selbst.– Du hast uns verlassen! Verlassen und betrogen! Verlassen und betrogen! Betrogen!
Es waren die Stimmen seiner Lehrmeister. Jedes Wort trug die Kraft von hundert Flüchen, und Phariën erkannte sich dabei, wie er wieder und wieder schmerzhaft zusammenzuckte.
– Verlassen und Betrogen! Phariën!

Mit schlotternden Knien und schmerzenden Füßen stolperte Phariën auf die liegende Gestalt zu.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Schnee, bleich wie der Winter; nur das dunkle Haar hob sich scharf von der Umgebung ab. Ihr leinenes Nachtkleid war verschwunden; doch auf der eiskristallbesetzten Haut ihres Rückens prangte die Rune der Pestilenz, mit glühenden Eisen eingebrannt.
– Phariën!, rief die Stimme, und diesmal war es eindeutig das Mädchen selbst. Ein kristallklares Schluchzen hallte durch die Winternacht, und der blasse Körper zuckte noch einmal und lag dann still.
Ihre blutverschmierten Finger hatten sich vor Schmerz in den Schnee gekrallt.

Einem plötzlichen Aufwallen von Zorn und Verzweiflung folgend packte Phariën das Opfer bei der Schulter und rüttelte es in einem vergeblichen Versuch, das Leben in den gefrorenen Körper zurückzuholen, und riß sie endlich mit einem schmerzvollen Aufschrei herum.
Er bereute es sofort.

Schneekristalle lagen auf ihren Wimpern und Augenbrauen und hatten die Lippen weiß gefroren. Ein Ausdruck des unendlichen Schmerzes und der Pein eines Sterbenden hatte ihr kindliches Gesicht verzerrt.
Weit aufgerissene, obsidianschwarze Augen starrten ihn in einer letzten, endlosen Anklage an.

Phariën rührte sich nicht, als wenige Augenblicke später die Reiter des Grafen durch den Wald preschten und ihn mit gezückten Schwertern umzingelten. Willenlos und entkräftet ließ er sich in Ketten legen und abführen; doch bis zuletzt ruhte sein Blick auf dem anklagenden Gesicht seines Opfers.
– Betrogen!

Mit einem schaudererregenden Knarren schiebt sich die Kerkertüre auf und jagt drei junge Ratten quietschend von ihrem Spielplatz. Das klickernde Trappeln ihrer Füße wird von dem Stapfen des Eintretenden übertönt, der unverständliche Worte vor sich hinbrummelt und mit finsterem Gesicht auf den Gefangenen zuwankt.
„He, du!“, grölt er und bläst eine Wolke von Alkoholdampf in die Luft.
Der Gefangene rührt kein Augenlid; doch sein Bewußtsein erwacht langsam und unwillig, nimmt die peinigende Realität der Außenwelt wahr. Noch überwiegt jedoch der Traum: Im klaren Bewußtsein, längst erwacht zu sein und die gesamte Umgebung zu sehen, erkennt der Gefangene erneut die wandelbare Brücke über den endlosen Abgrund zum Höllenfeuer, spürt die heraufwabernde Hitze und hört das Fauchen der Flammen. Unbeschadet und triumphierend tritt der Ork auf ihn zu.
„Skai! Dugûrz glob!“, brüllt er. „Gâkh lat krimpaga gundûrz – û lat matub!“
„Narkû!“, erwidert Phariën in Wut und Agonie; doch niemand hört ihn, denn die Dunkle Sprache ist ein Produkt seiner Phantasie.

Die rohe Hand des Kerkermeisters holt ihn halb in die Wirklichkeit zurück; doch als der unwirkliche Ork vor seinen Augen in Flammen aufgeht, scheint ihn die Traumwelt eingeholt zu haben.
Im nächsten Moment jedoch fliegt die angelehnte Kerkertür in den Angeln herum, und ein silberner Blitz erhellt den düsteren Kerkergang. Davor steht, als Schattenriß, eine hochgewachsene Figur im roten Kapuzenmantel.

Ein letztes Mal löst sich Phariëns Geist völlig von der Anderwelt ab, und der Gequälte steht dem Höllenfürsten mit allen Sinnen gegenüber. „Du!“, wirft er ihm in einer Geste des fruchtlosen Widerstandes entgegen, „Hast du nun auch den König getötet? Wie weit kann dein finsteres Werk denn gehen?“

Zu seinem Schrecken wirft die Gestalt den Kopf zurück und beginnt laut und hämisch zu lachen. „Deine Widerstandskraft ist bewundernswert, Phariën, doch du wirst mich nie überwinden. Du vergißt, daß ich der Hofmagier des Königs bin – es ist sein Befehl, daß ich hier seinen Spruch vollstrecke!“

Erst jetzt geht Phariën das volle Ausmaß der Heimtücke und Intrige dieses mächtigen Wesens auf, und das letzte Quentchen Hoffnung löst sich in einem Schweißtropfen von seiner Stirne und verschwindet in der Blutlache zu seinen Füßen. Geist und Körper ziehen sich zusammen in einem lächerlichen Versuch, einander Schutz zu gewähren; doch nun dringen Kälte und Hitze mit aller Kraft auf ihn ein und überreizen seine Sinne – perfekte Agonie löst sich in einem Schrei des abgrundtiefen Hasses.

Als der erste Strahl der Morgensonne den düsteren Kerker erhellt, vollzieht der Henker den Urteilsspruch.

Und Carneldó lachte.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
bombastisch.

wenn das n bißchen geordneter wäre, ließe es sich besser lesen. na gut, man kann es verstehen, dazu muß man sich aber mühsam bis ans ende fressen. schade. lg
 

mueckstein

Mitglied
Da muß ich dir recht geben; die "Unordnung" im Handlungsaufbau soll jedoch den schizophrenen Geisteszustand des Todesnahen darstellen und ist somit ein (wenn auch zugegebenermaßen schwerfälliges) "Stilmittel".
- Klar, Konstruktion schadet oft dem Lesevergnügen. Werd's mir stufenweise abgewöhnen ;-)

Danke der Rückmeldung!
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo mückstein,

eine lange Geschichte und eine schön geschriebene dazu. Nun, der manchmal überquellende Pathos gehört wohl zum Genre. Ich stelle mir nur die Frage: "Worum geht es hier eigentlich?"
W e r wurde hier w a r u m von w e m in dieses schröckliche Verlies gesperrt? Oder muß man einschlägige Literatur einfach nur kennen, um hier ein Bein auf die Erde zu kriegen?

Gruß Ralph
 

mueckstein

Mitglied
erklärung

Hallo Ralph,

tatsächlich habe ich diese Geschichte in Hinblick auf andere Machwerke aus meiner Feder verfaßt, d.h. sie ist wohl handlungsmäßig nicht ganz eigenständig. Ihren Hauptschwung bezieht sie jedoch aus dem geistigen Zustand der Hauptperson, den zu beschreiben meine wichtigste Absicht war; daher habe ich mich auch entschlossen, sie hier zu veröffentlichen. Ein bißchen (bald schon mehr) Hintergrund findest du, falls es dich interessiert, auf meiner Fantasy-Website
http://www.geocities.com/yddahl/

Danke jedenfalls für die Rückmeldung!

mfg, Roland Mückstein
Experimentator vom Dienst
 



 
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