LilienMond
Mitglied
Im Schatten der Rose
Ein Blick in den Spiegel sagt mir wieder, wie anders ich bin. Mein Teint ist viel zu blass für dieses Land, meine Glieder zu zart für die Feldarbeit, mein Körper zu schmal um später einmal eine gute Ehefrau zu sein und meine Gesichtszüge zu weich, um denen meines Volkes ähnlich zu sein. Kurzum, ich sehe nicht aus wie eine Saranierin, sondern wie eine Porzellanpuppe. Das ich so sofort auffalle, wenn ich durch die Straßen laufe, ist also selbstverständlich. Also schnappe ich mir den neuen blauen Wollumhang, den mein Bruder mir zur Verlobung geschenkt hat, ziehe ihn trotz der warmen Sommerluft draußen an und Stopfe meinen langen Goldblonden Zopf in meinen Gürtel. Durch diese Haarfarbe falle ich nicht besonders auf, in meinem Land sind beinahe alle Blond. Die Kapuze des Umhangs ziehe ich mir tief ins Gesicht, stöhne bei dem Gedanken an die brütende Hitze außerhalb des kühlen Gemäuers aber jetzt schon auf. Ich will ja aber schließlich nicht erkannt werden. Eine edle Tasche aus Wildleder hängt über meinem Stuhl, ich schnappe sie mir, husche aus meiner Kammer und rufe nach Marge. Marge ist meine Zofe, aber eigentlich ist sie mehr meine Freundin. „Hör zu Marge, ich gehe jetzt, wenn mein Bruder nach mir verlangt, wirst du ihm sagen, mir ginge es nicht gut. Ich habe mich zurückgezogen. Verstanden?“, verlange ich von ihr. Marge zieht die Augenbrauen zusammen. Dass sie nicht begeistert davon sein würde, dass ich alleine auf die Straße gehen wollte, war mir klar, aber ich kenne kein erbarmen. „Ich gehe nicht in die Wälder, verlasse nicht die Grenzen und stelle nichts Dummes an. Ich bin ein braves Mädchen, niemand wird etwas bemerken. Du weißt ich muss meine Freiheit genießen, solange ich noch welche habe.“ Meine Stimme bekommt einen traurigen Unterton und meine Augen füllen sich mit Tränen. Sie sind das einzige was ich an mir mag: Groß, rund und Wasserblau, von einem Dichten Wimpernkranz umgeben. Ich kann mit ihnen sehr Mitleiderregend gucken, ein großer Vorteil, den ich gerne gegen die weichherzige Marge einsetze, wenn sie mal wieder versucht, mich von einem Waghalsigen Plan abzubringen. Doch diesmal ist es nicht nur Masche um Marge zu erweichen, sondern ich habe wirklich Angst vor dem was kommt. Mein Bruder hat mich mit dem Grafen von Sol verlobt, einem ernsten, verstaubten Mann, der viel von seinem Stand hält. Ganz im Gegenteil zu mir. Marge öffnet den Mund, schließt ihn wieder und beginnt dann zaghaft, mir in meinen Plan hinein zu reden: „Aber ich kann deinen Bruder nicht belügen! Das gehört sich nicht. Und das steht mir nicht zu!“ Sie hat gute Argumente, aber meine sind besser:„Ach papperlapapp! Sonst belügst du ihn auch! Außerdem musst du mir gehorchen und nicht Pan!“ Marge macht ein Schuldbewusstes Gesicht und ich weiß, dass ich gewonnen habe. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe sie abwartend an, bis sie schließlich notgedrungen nickt und mich ziehen lässt. Also lasse ich sie stehen, husche wie eine Maus durch die kalten Mauern meines Zuhauses und nutze dabei die weniger belebten Gänge. Hinunter in die Küche. Dort schnappe ich mir einen kleinen, runden Ziegenkäse, wickele ihn sorgfältig in ein Stück Leder ein und stecke ihn in meine Tasche. Ein paar kleine Kuchen mit Kirschfüllung stechen mir ins Auge, auch die wandern in meine Tasche, sowie ein Weinschlauch, in den ich kalte Zitronenbrause fülle und ein paar Rotbackige Äpfel. Die Gesamte Küche ist leer, ich frage mich, wo all die Leute sind, die hier sonst für geschäftiges Treiben sorgen, aber eigentlich ist es mir egal. Ich verlasse die Küche durch den Gesindeausgang, trete hinaus ans Licht und mir bricht augenblicklich der Schweiß aus. Es sind mindestens fünfunddreißig Grad, eigentlich nicht ungewöhnlich, aber ich trage ein Korsett, das zwickt und mir eine ’weiblichere’ Form verleihen soll, ein Unterkleid aus dünnem Leinen und ein rauchblaues Leinenkleid, in dem mich mein Bruder unter normalen Umständen niemals auf die Straße lassen würde. Ach ja, und den Wollumhang natürlich. Ich lasse mich von der Hitze aber nicht abhalten, wer weiß wie viele Chancen ich noch bekomme. Ich atme tief durch, checke im Kopf noch mal ob ich alles bei mir trage, ausreichend bewaffnet und verpflegt bin und trete in die unbarmherzige Sonne.
Es ist Mittagzeit in Helleyna, also sind die Straßen belebt und hoffnungslos verstopft. Trotz meiner Tarnung jedoch scheinen mich die Leute zu erkennen und rücken zur Seite, damit ich passieren kann. Meine Füße führen mich wie von selbst zu den Stallungen, in der ich mein Pferd untergebracht habe. Ellouise ist meine beste Freundin und ewig währende Begleiterin in einem. Ich habe sie von meiner Mutter bekommen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Damals war sie wild und bockig, genau wie ich. Bei ihr hat sich das geändert, bei mir nicht. Sie ist das liebste und schönste Pferd das ich kenne. Ist ja auch meins. Als ich in die Box komme, wartet sie schon auf mich. Jeremy der Stallbursche hat sie bereits fertig gemacht, wie ich es aufgetragen habe. Mein Mädchen ist ein mächtiges Tier, ihre Schultern überragen meinen Kopf um mindestens zwanzig Zentimeter. Ihr langes, weiches Fell ist silberfarben und schimmert in allen Schattierungen, wenn Sonnenlicht darauf fällt. Mähne und Schweif heben sich durch einen dunkleren Grauton ab.
Ich steige auf, verknote den Henkel meiner Tasche am Sattel und wir sausen los. Hinaus aus dem Stall, hinaus auf die Straßen, hinaus aus dem Guten Viertel, in die schäbigeren Gassen, immer auf dem Weg zum Osttor. Das Osttor ist in Helleyna das kleinste und am wenigsten bewachte Tor, also hoffe ich, weit genug weg zu sein, wenn meinem Bruder Meldung gegeben wird, dass ich die Stadt verlassen habe. Wenn ich viel Glück habe, erfährt er es gar nicht. Wir werden sehen. Ich versuche nicht allzu genau auf die Armut zu schauen, die leider auch hier herrscht. Wir haben zwar bei weitem nicht so viele Hungertote wie andere Länder, jedoch sind es in meinen Augen immer noch viel zu viele. In einer schmutzigen Gasse zu meiner rechten zanken sich zwei schmutzige kleine Kinder mit eingefallenen Wangen mit einer Ratte um einen Brotkanten. Entsetzt und angewidert verfolge ich das Schauspiel, bis eine ebenso schmutzige, dürre Frau aus einem der kleinen, schiefen Häusern kommt, mir einen bösen Blick zuwirft und der fetten Ratte einen Tritt verpasst. Wohlhabende sind in solchen vierteln nicht gerne gesehen. Ich greife in die Tasche, sehe wie sich die Frau verkrampft und an ihren Gürtel greift, und werfe ihr einen der Äpfel zu. Besser als nichts. Sieht die Frau wohl nicht so, denn sie beginnt mich zu beschimpfen, was mit Apfel-gefülltem Mund ziemlich bescheuert klingt. Ich bin so was gewöhnt, und außerdem habe ich nicht ewig Zeit, also reite ich weiter, die schimpfende Frau ignorierend. Am Stadttor angekommen, steige ich vom Pferd, welches nervös Tänzelnd stehen bleibt und gehe auf die Wachen zu. Der eine, ein dürrer, dem noch die Pickel im Gesicht sprießen, schläft schnarchend, an seine Lanze gelehnt. Der andere hat sich auf einem Hocker niedergelassen und springt auf als ich näherkomme. „Anlass?“, begehrt er zu wissen. Ich streife die Kapuze von meinem Kopf und sage nichts. Lasse meinen Anblick wirken. „Prinzessin! Verzeiht!“ Plötzlich ist er ganz bleich. Komisch. Ich habe noch nie irgendwem was getan, nur weil er nicht gleich auf die Knie gefallen ist, als er mich gesehen hat. Genau aus dem Grund will ich lieber unerkannt bleiben. „Ich komme in einem Auftrag des Königs, sehr geheim, du wirst Augen und Ohren verschließen und mich nicht gesehen haben, falls jemand nach mir fragt, verstanden? Selbst wenn es die speziellen Gesandten des Königs sind. Von der Sache dürfen nur mein Bruder und ich etwas wissen, und ich vertraue dir hiermit sozusagen das Königreich an, klar? Also enttäusch mich nicht und vergiss sofort das ich hier war, wenn ich das Tor passiert habe“, teile ich dem jungen Mann mit scharfer Stimme mit. Er glaubt mir den quatsch, nickt eifrig und nimmt Haltung an. „Wie ihr befielt, Milady“ So ein Dummtropf. Ich lache in mich hinein, gehe zu Ellouise, steige auf und wir sind raus aus der Stadt. In meinem Unterbewusstsein klopft ein kleines Stimmchen an mein Gewissen und flüstert, dass ich hiermit mein Versprechen Marge gegenüber breche. Ich ignoriere es konsequent, man kann es schließlich nicht allen recht machen. Und heute geht es mal um mich. Ich habe schließlich Geburtstag.
Wir reiten über Wiesen und Felder voller Mais, goldenem Weizen und anderen Getreidesorten. An einem Weinstock kommen wir vorbei, ich steige ab und pflücke einige der süßen Reben, bis ein auf mich zu rennender, schreiender, mit seiner Mistgabel rumfuchtelnder Bauer meine Schlemmerei unterbricht. Ich stopfe die Trauben in meine Satteltasche und mache mich davon, es fühlt sich gut an, wie ein einfaches Mädchen behandelt zu werden und nicht wie die Schwester des Königs. Der Bauer hinter uns schimpft immer noch, aber ich bin befreit und locker und kann darum nur lachen. So abgelenkt bemerke ich nicht, dass wir Felder und weites, Flaches Land längst hinter uns gelassen haben und in den tiefen, Dämmerwald geraten sind, der unser Land von dem der Schatten trennt. Mir ist es strengstens verboten, hineinzugehen. Eigentlich ist es jedem strengstens verboten, da es ungemein gefährlich ist. Der Wald ist dicht und viel zu dunkel für Saranier, welche ein Lichtliebendes Volk sind. Ich selbst steh nicht so besonders auf Sonne, wohl noch ein Aspekt, der mich von meinem Bruder unterscheidet. Seid dem Tod unserer Eltern gehe ich nicht mehr gerne unter Leute, nicht mehr gerne ins Sonnenlicht. Ich hänge also eine Weile meinen trüben Gedanken nach, als Ellouise plötzlich unruhig wird. Ihre plötzliche Stimmungswandlung überträgt sich Augenblicklich auf mich. Vor einer Sekunde ist sie noch friedlich vor sich hingetrottet, mich als schlaffen, verträumten Ballast auf ihrem Rücken, jetzt jedoch zuckt sie unruhig mit Ohren und Schweif und tänzelt unruhig hin und her. Ein Eichhörnchen, welches beim erklimmen eines Baumes ein Ästchen abbricht, gibt ihren Nerven den Rest und ihr knallen die Sicherungen raus. Sie scheut, galoppiert los, und ich kann mich nur mit Mühe halten. „Ellouise! Stopp! Alles ist gut!“, brülle ich verzweifelt. „Halt an du Maulesel!“ Das scheint sie als Beleidigung anzusehen, denn sie stoppt so urplötzlich, dass ich über ihren Kopf hinweg fliege und unsanft auf dem Boden lande. „Blödes Gaul! Was sollte das denn?“ Ich bin empört. Das hat sie noch nie gemacht. Aber wir haben uns auch noch nie ’gestritten’. Sie wiehert empört, dass sie mich verstehen kann wusst’ ich ja schon lange, und trampelt auf der Stelle. Blöde Kuh, einscheißern hilft ihr jetzt auch nicht mehr. Aber sie ist schließlich mein Schatzi, also vergebe ich ihr, rappele mich auf und klopfe gerade den Dreck von meinem Kleid, als hinter mir eine Stimme ertönt: „Ein schönes Pferd hast du da, aber wenn du so ein schönes Tier hast, solltest du es auch reiten können!“ Es ist eine Männliche Stimme, sie klingt bedrohlich und definitiv bringt mir diese stimme Ärger ein. Ich vergesse also den Dreck und die Blätter auf meinem Kleid, reiße den Bogen von meiner Schulter und lege, während ich herum wirbele, einen Pfeil an. Dann erstarre ich, mir läuft es kalt den Rücken hinunter, während mein gegenüber nur hämisch zu lachen beginnt. Zunächst einmal ist er nicht so bedrohlich wie zunächst vermutet. Er ist nicht bewaffnet, er hat weder klauen noch fünf Köpfe, was durchaus nicht verwunderlich gewesen wäre, bei dem was sich in diesem Wald so herumtreibt. Er ist auch kein Mann, wie anfänglich vermutet. Eher ein Jugendlicher, aber das heißt leider nicht viel. Dem aussehen nach ist er ungefähr achtzehn, also etwas älter als ich. Auch das ist wenig bedrohlich. Das bedrohlich an ihm sind auch nicht die schwarzen Haare oder der leichenblasse Teint. Er könnte einer der Rebellen sein, die hier in den Wäldern hausen. Das bedrohliche an ihm sind seine Augen. Sie sind blutrot. Ich starre wie gebannt hinein, bin beinahe hypnotisiert. Meine Arme gehorchen nicht mehr und werden schlaff, sodass ich den Bogen sinken lassen muss. Ist aber auch egal, er bring mir ohnehin nicht viel. Ich bin so ein Hörnchen. Wieso habe ich nicht ein einziges Mal auf Pan gehört? Ich sehe schon vor mir, wie die Nachricht durchs ganze Königreich eilt: Prinzessin am sechzehnten Geburtstag ermordet. Kacke. Als mein Gegenüber sieht, wie perplex ich bin, grinst es. Sein Mund ist gespickt mit Messerscharfen Zähnen, wie geschaffen dazu, Fleisch zu reißen. Der junge, dem ich da in die Hände gelaufen bin, ist ein Schatte.
Ich spüre selber wie meine Augen an Größe gewinnen, wahrscheinlich purzeln sie mir gleich aus dem Gesicht. Der Schatte lacht immer noch. Das er mich noch nicht umgebracht hat, kann gleichzeitig gut und sehr, sehr schlecht sein. Wenn ich Glück habe, ist er ein Ausgestoßener aus dem Schattenreich und gar nicht darauf aus, mir etwas zu tun. Vielleicht weiß er auch einfach gar nicht mit wem er es zu tun hat. Hoffentlich. Wenn ich großes Unglück habe, weiß er genau, mit wem er es zu tun hat und nutzt genau das lediglich aus. Vielleicht will er mich foltern und dann langsam töten. Vielleicht will er mich gefangen nehmen und zu seinem König schleifen, damit sie meinen Bruder erpressen oder ihm einfach nur eine reinwürgen können, indem sie mich in Stückchen in Helleyna abliefern. Der Schatte macht jedoch keinerlei Anstalten, mir irgendetwas zu tun. Er grinst nur frech. Ich habe keine Ahnung wie so was abläuft, dieses Treffen ist das erste seiner Art. Ich bin noch nie zuvor einem Schatten begegnet. Mein Bruder hielt mich immer fern allem Bösen und achtete peinlichst genau darauf, dass ich von allem ferngehalten wurde, was einen schlechten Einfluss auf mich haben könnte. Das heißt ich bin so gut wie ausschließlich im Palast aufgewachsen. Ich habe mich oft davon geschlichen, genauso oft habe ich von Pan ärger bekommen. Mein Bruder ist neunzehn, doch er hat einen riesigen Stock im Arsch. Ich hänge hier also meinen Gedanken nach, habe den Schatten vollkommen vergessen, bis er sich räuspert. Ich zucke zusammen und wende meinen Blick wieder zu ihm. „Du bist echt ziemlich besonders, weißt du das?“, fragt er, mit dem anscheinend unvermeidlichen Grinsen im Gesicht. Ich verstehe nur Bahnhof, keine Ahnung was er meint. „Wie meinst du das? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier? Du bist auf dem Land der Saranier, ist dir das klar?“ Langsam habe ich mich gefangen, lasse mich nicht mehr von seinen Blut gefärbten Augen ablenken. Er hebt die Hände, legt den Kopf schief, wie ein hungriger Mantikor und lächelt mich beschwichtigend an. „Ich bin ein Ausgestoßener aus dem Königreich der Schatten, mein Name ist Finn. Und du? Wer verschafft mir die Ehre?“ Ich finde ihn zwar freundlich und vielleicht sagt er die Wahrheit, aber ich habe nicht vor ihm die Wahrheit zu sagen. Ein wenig hektisch blicke ich mich um, mein Blick schießt zu Ellouise und mir kommt eine Idee. „Mein Name ist Ellouise. Ich bin die Zofe der Prinzessin. Hab den Auftrag bekommen, das Königliche Pferd auszuführen.“ Meine Stimme zittert, doch ich hoffe, dass ihm das nicht auf fällt. Mein ganzer Körper bebt, doch ich hoffe, dass auch das ihm nicht auf fällt. Aber es fällt ihm auf, er tritt nähre an mich heran, nimmt meine Hand und streichelt sie sanft. „Shhhhhh, keine Angst. Nur weil ich ein Schatte bin, heißt das nicht, dass ich dich gleich fresse. Ich bin satt für heute, hab zwei kleine Nixen gefrühstückt.“ Er grinst. „Jetzt will ich dir aber mal richtig ins Gesicht sehen können“, sagt er, während ich noch über die Nixenbemerkung nachdenke. Seine Hände streifen mein Gesicht, eiskalt wie die eines toten. Dann packt er die Kapuze des Umhangs, ich hatte vergessen, dass ich sie immer noch trage. Er streift sie ab, während ich beschämt die Augen niederschlage. Er steht näher als es sich für einen Mann gehört. Meine Haare haben sich aus dem Kunstvollen Zopf gelöst, den Marge mir heute Morgen aufgezwungen hat und fallen mir nun lose in die Stirn. Ich befürchte, jetzt wird er merken, dass ich ihn belogen habe, denn der Ruf der hässlichen Saranierprinzessin eilt mir voraus, auch wenn ich die meiste Zeit meines Lebens in meinem Turm weggeschlossen war. Und tatsächlich hält er erstaunt inne, packt mich an den Schultern und hält mich ein Stück von sich weg, nur um mich prüfend zu mustern. „Krass, du bist echt hübsch für son dämlichen Saranier.“, kommentiert er dann. Ich merke wie ich rot werde, und wenn ich rot sage meine ich auch rot, ich sehe aus wie eine reife Tomate. „Siehst deinem Volk aber gar nicht ähnlich“ Ich gucke zu ihm hoch, erst jetzt fällt mir auf wie riesig er ist. Bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich. Schlank, muskulös und eiskalt. Dadurch, dass mir diese Details auffallen, merke ich wieder wie nah ich ihm stehe. Also drücke ich mit den Händen gegen seine Brust und er geht mehr oder weniger bereitwillig einen Schritt rückwärts, strauchelt, hält sich an meinem Handgelenk fest und wir stürzen beide. Ich lande auf ihm, werde wieder rot und beginne zu zittern. So nahe war ich einem männlichen Wesen noch nie. Oh Gott, meine Wangen brennen. Er sieht mich an, und zum ersten Mal blicke ich ihm ins Gesicht. Ich muss ja. Seine Nase ist nur einen Finger breit von meiner entfernt. Er hat bleiche Haut, eine kleine Stupsnase, auf welcher sich winzige, kaum sichtbare Sommersprossen abzeichnen. Ich wundere mich gerade, woher jemand aus dem Schattenreich Sommersprossen hat, als mir noch mehr Details ins Auge springen. Seine blutroten Augen, die mich Anfangs abgeschreckt haben, sind eher von der Farbe einer untergehenden Sonne. Sie sind groß und rund und von dichten, schwarzen Wimpern umgeben, die sich beinahe bis zu den Augenbrauen biegen. Er sieht nicht feminin aus, oder so, sondern einfach hübsch. Ich versuche den Gedanken sofort aus meinem Kopf zu vertreiben, doch ich fürchte, er hat sich eingenistet und wird mich nicht mehr los lassen. Sein Gesicht ist nicht Kantig, aber auch nicht zu weich, eher einfach…perfekt. „Fertig mit bewundern?“, unterbricht mich Finn mit rauer Stimme. Ich schrecke auf, ich hatte nicht bemerkt, dass ich ihn angeglotzt hatte. „Wie wär’s, wenn du mal runtergehst, du bist kein Leichtgewicht. Ich krieg keine Luft mehr, ist zwar nicht so als würde ich welche brauchen, aber is schon unangenehm. Du kannst auch n bisschen höher rutsch…“ Er kann den Satz nicht beenden, da bin ich auch schon aufgesprungen und bis zu Ellouise zurückgewichen. „Ich bin nicht fett!“, sage ich eingeschnappt. „Hab ich auch nicht behauptet, Schönheit“, gibt er Schmeichelnd zurück, nur damit ich wieder rot werde. Ich kneife die Augen zusammen und gucke ihn böse an, dann raffe ich meine Haare zusammen und flechte einen struppigen Zopf, knote ihn zusammen und stopfe ihn zurück in meinen Gürtel. Den Umhang drüber, fertig. Dann trampele ich zu Ellouise, greife in die Satteltasche und ziehe einen Apfel heraus, den ich Finn mit aller kraft entgegen schleudere. Er fängt ihn auf, als wäre es eine herab trudelnde Feder und kein heran rasender Apfel. Ich sacke enttäuscht in mir zusammen, ich hatte gehofft, ihm wenigstens den Apfel an die Birne schmettern zu können, so als kleine Vergeltung für den unerlaubten Körperkontakt vorhin. Statt aber weiter schlechte Laune zu schieben, sattele ich Ellouise ab, nehme die Kostbare Satteldecke, lege sie auf den Boden und setze mich darauf. Mein Magen knurrt und Finn kommt mir bei weitem nicht mehr so bedrohlich vor wie vorhin. Also breite ich die Äpfel, den Käse, die Trauben und die Küchelchen vor mir aus und überlege, an der Zitronenbrause nippend, womit ich zuerst anfangen soll. Völlig selbstvergessen sitze ich so da, bis mir Finn wieder einfällt. Ich vergesse ihn irgendwie permanent. Arme Socke. Jetzt fällt er mir halt wieder ein und ich klopfe auffordernd auf ein freies Stück Decke neben mir. Ich sehe unauffällig hoch, sehe wie er grinsend den Kopf schüttelt und sich zu mir setzt. Ich sehe unauffällig hoch, sehe wie er grinsend den Kopf schüttelt und sich zu mir setzt.
Er betrachtet den Apfel, mit dem ich versucht hatte, ihn zu ’steinigen’ und bevor ich etwas sagen kann, beißt er herzhaft hinein.
Der süße Saft rinnt seine Mundwinkel hinab, und ich merke wie ich mal wieder beginne zu glotzen.
Ich bin so eine leichte Beute, dass es beinahe eine Schande ist.
Ich Hörnchen.
Ich esse mich einmal quer durch das was ich habe, sprechen tu ich nicht viel, allein schon aus dem Grund, mich zu verraten.
Auch Finn spricht nicht viel, knabbert nur schmatzend an seinem Apfel und ich kann mir gut vorstellen, wie es aussieht, wenn er Beute schlägt.
In meinen Kopf drängen sich Bilder von schreienden Nixen, die mit ihren Schwimmflossen bestückten Händen um sich schlagen,
während sich klauen bewährte Hände in ihre weiche Bauchhaut graben,
sie aufreißen und Blut zum Mund schöpfen.
Gefletschte Reißzähne, blutrot glühende Augen und verkrustet abstehende Haare,
die Finns schönes Gesicht umrahmen.
Ich versuche den Gedanken abzuschütteln und merke,
dass sich meine Nackenhärchen aufstellen.
Ich zucke so sehr zusammen, als er mir eine Hand auf den Arm legt, dass er sich ebenfalls erschreckt. Als ich aufgucke, ruht sein Blick auf mir, und mir wird einwenig mulmig zu mute. Ich befinde mich in Gegenwart meines Erzfeindes, aber in mir tobt eine Mixtur der Gefühle. Ich fühle mich wohl und habe panische Angst vor ihm.
Am liebsten will ich sofort weg, jedoch ist das Vertrauen zu dieser vollkommen fremden Person auch ungemein groß.
Ich fühle mich wie eine Verräterin, die ihr Volk ausliefert, und wie eine Pionierin, die in neue Gefilde vordringt.
Ein friedlicher Schatte und eine Prinzessin der Saranier.
Ich kichere stumm vor mich hin, in die Stille hinein, die Situation ist viel zu Paradox.
Wenn mein Bruder wüsste, was ich hier mache, er würde sein Schwert in Stückchen brechen und es aufessen.
Seit unsere Eltern damals von Schattenkriegern getötet worden sind, brennt in Pan das unendliche Feuer der Rache.
Hinter jedem Schatten, der sich in unser Königreich verirrt, vermutet er einen Spion von König Loki.
Unsere Kerker sind voll gestopft von Schatten, die wahrscheinlich alle unschuldig sind, doch Pan zeigt kein Erbarmen.
Nach jedem Angriff des Schattenkönigs, lässt er die Hälfte der Insassen hinrichten. Nur um zwei Wochen später den Knast wieder voll zu haben.
Dank der schlechten Zustände in den Städten der Schatten, leiden viele Schatten Hunger und fliehen in den Dunkelwald, um dort gegen das Gesetz zu wildern. Von der Legion meines Bruders werden sie dort erwartet und eingesammelt wie reife Beeren.
Als Reaktion auf mein Kichern guckt Finn mich verdutzt an
„Wieso lachst du? Bin ich lachhaft? Oder hast du was gegessen, was du nicht verträgst?“, fragt er verwirrt. Jetzt muss ich noch mehr lachen. „Ich lache nur…wegen der Situation…guck uns doch mal an….wenn mein Bruder uns so sehen würde…“, japse ich, ringe um Luft und lasse mich, um mich ein wenig zu beruhigen, auf den Rücken sinken. Jetzt liege ich flach im Laub, Finn sitzt neben mir.
Langsam verfliegt meine Angst und es macht sich ein seltsames Gefühl breit. Beinahe so etwas wie Geborgenheit. Wärme.
Doch dann, wird mir bewusst, was das bedeutet. Ich könnte nie mit ihm befreundet sein, geschweige denn mehr.
In nicht einmal einem Monat werde ich die Gemahlin des Grafen von Sol. Ich sollte froh sein, überhaupt einen Verlobten gefunden zu haben. Es ist das erste Mal, dass ich mir auch nur einen einzigen Gedanken daran erlaube.
Mein Bruder hat ewig lange gesucht, und trotz meines hohen Standes und der ungemein riesigen Mitgift, zusätzlich noch dem Titel, den sich mein Zukünftiger mit der Heirat sichert, hat es Ewigkeiten gedauert, bis sich jemand gefunden hatte, der sowohl Ansehen und ein einigermaßen angemessenes Alter hatte.
Der Graf von Sol ist der Herr einer kleinen Stadt, ganz am Rande der Provinz Saranien.
Eine Stadt mit wenigen Händlern, wenigen Adeligen und vielen Landwirten.
Gegen die ist zwar im Grunde überhaupt nichts einzuwenden, jedoch bin ich buntes Treiben gewöhnt und will nicht in einer Stadt leben, in der kaum Leben herrscht.
Bei dem Gedanken daran, dass ich bald wie eine Nonne in einem Kloster leben muss, wird mir schwarz vor Augen und damit Finn mir meinen Schmerz nicht ansehen kann, rolle ich mich zusammen und drehe mich weg.
Ich atme tief ein, fokussiere meinen Blick auf die trockenen Blätter vor meiner Nase und beobachte einen kleinen, grünen Käfer der durchs Unterholz kriecht, während ich versuche, meine Tränen und das trockene Schluchzen in meiner Kehle zurück zu halten.
Nicht hier.
Nicht jetzt.
Nicht vor ihm.
Aber anscheinend merkt er’s doch. Legt mir eine Hand auf den Rücken, und beugt sich über mich. „Was hast du? Geht’s dir nicht gut? Hast du Schmerzen?“
Seine besorgte, sanfte Stimme gibt mir den totalen Rest und, obwohl ich meine Lippen fest zusammen presse, muss ich schluchzen.
Ich will diesen Beutel nicht heiraten. Auf keinen Fall.
Ich fühle mich so verloren aufgrund meiner Zukunft, dass ich mich zu Fin drehe und mich an ihn klammere. Er legt seine kalten Arme um mich.
Obwohl ich furchtbar friere, schmiege ich mich eng an ihn und genieße das tröstende Geräusch seines Atems.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Er streichelt mir sanft über Kopf und Rücken und nach einer ganzen Weile schaffe ich es, mich zu beruhigen. Ich rappele mich auf, jedoch nicht von seiner Seite weichend und wische mir trotzig die Tränen von den Wangen. Dann lehne ich mich ein wenig erleichterter an ihn und seufze. Alles an ihm ist irgendwie fremd.
Irgendwie anders.
Verboten.
Seine Brust ist trainiert und kalt, sodass es beinahe ist als würde ich mich an eine Betonwand lehnen und seine kalten, dünnen Arme umschlingen mich wie Metallketten. Ich lasse den Kopf zurückfallen, sodass er knapp unter seiner Halsbeuge anlehnt.
Ich versuche mich auf seinen Atem zu konzentrieren, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
„Warum bist du traurig? Willst du’s mir erzählen? Behandelt man dich im Palast schlecht? Soll ich das für dich klären?“ Seine Stimme klingt besorgt.
Ich schüttle den Kopf, ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Er würde sofort erkennen, dass ich gelogen habe.
Ich lehne den Kopf wieder gegen seine Brust und horche.
Außer Atem höre ich nichts.
Sein Herz schlägt nicht. Das hat es noch nie getan.
Und das bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
Er ist ein Schatte.
Ich bin die Schwester des Saranischen Königs.
Es gibt kein wir.
Also winde ich mich aus seinem beruhigenden Griff und beginne damit, das essen vom Boden zu klauben. Ellouise hat den ganzen Nachmittag brav auf der Lichtung gestanden und einzelne Gräser gerupft, jetzt schaut sie erwartungsvoll auf.
„Was tust du da? Hab ich was gesagt, was dich verärgert hat? Wenn ja, tut’s mir leid!“
In seiner Stimme schwingt echtes Interesse und Besorgnis mit.
Es tut beinahe weh ihm die Wahrheit zu verschweigen und ihn hier so stehen zu lassen.
Aber ich sollte jetzt gehen, bevor es für uns beide noch schwieriger wird.
„Was wirst du jetzt tun? Wo wirst du schlafen?“, frage ich, um wenigstens ein bisschen Interesse zu zeigen. Als ich von der Satteltasche aufblicke, kann ich ihn nirgendwo entdecken.
Ich blicke mich auf der Lichtung um, nirgends eine spur, lediglich feiner schwarzer Nebel liegt in Luft. Ich verdrehe die Augen.
Macho. Ich zucke die Schultern und packe weiter meine Sachen in die Satteltaschen.
„Schatten schlafen nicht, vergiss das nicht, mein Täubchen!“, säuselt er plötzlich hinter mir.
Ich fahre herum und blick ihm in die Augen.
Er steht keine zehn Zentimeter vor mir, ich kann jede winzige Sommersprosse sehen und jedes einzelne Wimpernhärchen.
Sein Atem riecht süßlich, aber nicht unangenehm oder so.
Finns Hand streicht über mein Gesicht und bleibt auf meiner Unterlippe liegen.
Mein Atem Stockt und ich schaffe es nur mit Mühe, den Kopf zu drehen.
Während ich bete, dass er die Hand wegnimmt, damit ich weiter atmen kann, wandert diese weiter, bis in mein Genick, der Daumen fährt unter mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen muss.
Seine Augen sind unergründlich und ich versinke darin, während er meine Wange streichelt.
„Sehen wir uns wieder?“, fragt er mit einer Stimme, die es mir unmöglich macht, ihm den Wunsch zu versagen.
Ich nicke.
Dann gestehe ich mir kurz einen winzigen Einbruch in meine Gefühlswelt,
schlinge die Arme um ihn, drücke meinen Kopf feste an ihn und sauge eine letzte Sekunde seinen Geruch ein. Dann, bevor er etwas anderes tun kann als erstaunt gucken, lasse ich ihn los und schwinge mich auf Ellouise.
„Ellouise? Wo und Wann“, ruft er, während er da so verlassen auf der Lichtung steht.
Ich will ihn grade fragen wieso er mit meinem Pferd redet, als mir wieder einfällt, was ich ihm erzählt habe.
Also drehe ich mich um und sehe ihn an. Zucke mit den Schultern.
„Kommt drauf an, wann ich wieder aus dem Palast rauskomme. Ich hab mich heute davon geschlichen, dass könnt also etwas dauern“.
Trauer schwingt viel zu hörbar in meiner Stimme mit. Mist.
Auch Finn scheint das bemerkt zu haben und geht aus diesem Grund auf die wahre Ellouise zu. Das Tier jedoch vertraut im nicht weiter als er es werfen kann und weicht scheu zurück.
Ich erlaube mir einen letzten Blick, schaue ihm in die Augen.
„Du wirst mich schon finden, wenn ich komme!“, sage ich knapp.
Dann gebe ich Ellouise die Sporen und sause los.
Aus dem Wald heraus finden wir schneller und viel unkomplizierter, als ich dachte.
Ellouise scheint den Weg zu kennen.
Gutes Tier.
Über die Felder und Hügel zurück, durch den Weinstock, und je weiter wir uns vom Dämmerwald und somit auch von Finn entfernen, desto schlechter geht es mir.
Als wir wieder in die Stadt kommen, sterbe ich beinahe vor Angst, meinem Bruder gegenüber zu treten. Mittlerweile muss er einfach bemerkt haben, dass weder ich noch mein Pferd auffindbar waren.
Es wird langsam dunkel und echt frisch.
Ich hatte durch das dichte Laub des Waldes den Stand der Sonne nicht sehen können und so die Uhrzeit aus den Augen verloren.
Genauso war mir die Kälte nicht aufgefallen, was aber auch an der schwülen Hitze des Waldes liegen konnte, welche von den Thermalquellen stammt, die überall im Wald zu finden sind. Hier in der Stadt, in welcher sich langsam die rege Betriebsamkeit in Stille verwandelt,
spürt man die Kühle der Nacht besser.
Die Stadt wirkt wie ausgestorben, die Nachtwächter beginnen ihren Rundgang.
Als ich beim Palast ankomme, zittere ich vor Kälte.
Was ich jetzt brauche, ist heiße Schokolade.
Im Palast war es anscheinend den ganzen Tag nicht wirklich warm, denn hier ist es noch kälter als draußen. In meiner Kammer angekommen, ziehe ich erst einmal das Korsett aus, löse den schrecklichen Zopf und fahre mir durch die hüftlangen Haare.
So befreit beginnt mein Magen zu knurren und ich mache mich auf die Suche nach Marge.
Ich habe heute Geburtstag, also soll sie gefälligst kommen und mir etwas zu essen bringen, am besten Kuchen.
Die kleinen Küchelchen und die restliche Verpflegung habe ich mit Finn zusammen im Wald verspeist und bin schon wieder hungrig.
Weil ich sie nicht finden kann, tapse ich schließlich in weichen Stoffschuhen, mit offenen Haaren und einem Kleid, welches von dem Ritt und dem anschießenden Sturz nur noch aus dreckigen Fetzen besteht, in den Thronsaal.
Ganz in die Hoffnung versunken, mein Bruder könnte anderweitig beschäftigt sein, schiebe ich die schwere Flügeltüre zum Thronsaal einen kleinen Spalt auf und husche hindurch, ohne vorher hineinzugucken.
Ein großer Fehler.
Ein sehr, sehr, sehr großer Fehler.
Als ich schließlich die Türe hinter mir zugeschoben habe und mich erwartungsvoll umdrehe, bleibt mir das prophylaktische Lächeln im Halse stecken. An der langen Speisetafel, die im Thronsaal aufgebaut ist, sitzen sämtliche Adeligen des Landes, inklusive meinem Bräutigam in Spe, und starren mich mit geöffneten Mündern an.
Der Blick meines Bruders, welcher am Tischende sitzt, lässt mich vermuten, dass mich heute Abend ein Sturm erwartet.
Ich versuche die Situation zu retten und mache einen meiner Meinung nach anmutigen Knicks in die Richtung meines Bruders.
Er hebt nur die Augen.
„Würdest du so lieb sein, und mir erklären, wo du den ganzen Tag gesteckt hast, während alle hier zu Ehren deines Geburtstages versammelt waren?“, fragt er schließlich mit einer Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Ich versuche ihn so zu behandeln, dass er sich nicht mehr in seinem Stolz verletzt fühlt, als er es jetzt schon ist, also straffe ich meinen Rücken und sage mit so ehrenvoller Stimme wie es mir möglich ist:
„Mir war nicht gut, verzeiht, mein Bruder!
Als es mir besser ging, hielt ich es für angemessen, das schöne Wetter zu nutzen und Ellouise ein wenig Bewegung zu gönnen.
Zumal mir dies ebenfalls gut tat.
Ich bin über die Felder geritten und habe die Uhrzeit und meinen Weg aus den Augen verloren.
Als ich den Rückweg gefunden hatte, dämmerte es bereits, so bin ich im Stall gestürzt und habe mein Kleid an einer Holzdiele zerrissen.
Ich werde es flicken, sobald ich kann und bitte um Verzeihung,
wegen meines unziemlichen Verhaltens.
Ich hätte euch bescheid geben sollen, wo ich mich befinde und meinen Weg im Auge behalten sollen. Verzeiht mein Bruder.“ Bei den letzten, zugegeben sehr heuchlerischen Worten beuge ich unterwürfig den Kopf und hoffe, mein Bruder würde es dabei belassen.
„Bist du verletzt?“, fragt er mich mit Sorge in der Stimme,
anscheinend hat er meine Story geschluckt.
Bei dem Gedanken, was ich wirklich gemacht habe, schwirren tausende winzige Schmetterlinge in meinem Magen umher und lassen mich schwanken.
Bevor ich mich wieder fangen kann, ist Pan von seinem Stuhl geschnellt und steht neben mir.
Er stützt mich, während ich versuche mich zu fangen und nicht mehr an das zu denken was war.
Unweigerlich vergleiche ich meinen Bruder mit Finn.
Sie sehen beide gut aus, wenn auch auf vollkommen verschiedene Art.
Mein Bruder ist riesig und trainiert, blond und gebräunt.
Seine Haare stehen wuschlig von seinem Kopf ab, seine Arme sind muskelbepackt und seine Hände groß, mit langen, groben Fingern.
Mit seinen blauen Augen und den goldblonden Haaren hat er somit das Idealaussehen eines Saraniers. Sein Kinn ist kantig und seine Augen sind stechend.
Finn hingegen ist kleiner, sein Kreuz ist bei weitem nicht so breit, seine Arme sind nicht so muskulös, trotzdem aber trainiert,
seine Haut ist alabasterfarben und seine Haare schwarz und länger, sodass sie zwar wirr vom Kopf abstehen, ihm aber ebenso in die Augen fallen.
Die Farbe seiner Augen ist innen schwarz und wird bis nach außen hin blutrot.
Seine dichten, schwarzen Wimpern verstärken diesen Effekt nur und die zarten Sommersprossen lassen seine ohnehin schon zarten Gesichtszüge feiner und jünger erscheinen.
Seine Hände sind groß und seine Finger lang und elegant.
Insgesamt wirkt er nicht älter als Siebzehn.
Allein die Erinnerung an sein Gesicht und seinen Körper, löst in mir wieder ein Schwindelgefühl aus.
Dieses Mal wird mir so schwindlig, dass ich mich setzen muss, während mich Pan besorgt ansieht.
„Vielleicht solltest du dich hinlegen“, schlägt er vorsichtig vor.
Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, denn mir wird plötzlich furchtbar übel.
Aber was soll ich anderes mit mir anfangen?
Also nicke ich schwach und mache Anstalten, aufzustehen, doch meine Beine knicken mir weg.
Pan fängt mich, aber ich sehe aus dem Augenwinkel wie mein Bräutigam in Spe aufspringt um ebenfalls zu reagieren.
Ich bin froh, dass Pan schneller ist.
Er nimmt mich in seine starken Arme und ich kuschele mich an ihn.
Ausnahmsweise bin ich ihm sehr dankbar für seine Größe und Stärke.
Er trägt mich weg von den neugierigen Blicken, zu meiner Kammer, wo Marge wartet.
Sie macht große Augen, schlägt meine Bettdecke zurück und Pan legt mich hinein.
Dann wendet er sich ab, während sie mir aus dem dreckigen Kleid und in ein Nachthemd hilft. Ich krieche unter die Decke, kuschele mich an das Fell, das auf meiner Matratze liegt und mein Bruder dreht sich wieder um.
Dann scheucht er Marge mit einer Handbewegung raus und trägt ihr auf, mir in der Küche einen Kamillentee zu bereiten.
Als die Türe hinter ihr zu fällt, setzt er sich auf meine Bettkante und streicht mir die Haare aus der Stirn. „So! Das hast du ja elegant gelöst, da unten! Aber was ist wirklich passiert?
Du hast Ginster in den Haaren, und der wächst nur im Dämmerwald.
Also erzähl mir keine Märchen!“, sagt er streng.
Ich schlucke schwer, weil ich mich nicht entscheiden kann, ihm eine weitere Lüge aufzutischen oder die Wahrheit zu sagen.
„Also…ich sag’s dir…aber du darfst nicht böse sein, ja?“, setze ich also an, nachdem ich leider erkannt habe, dass lügen keine gute Idee ist.
Er nickt nur. „Versprochen?“, hake ich noch mal vorsichtshalber nach. Wieder nickt er.
Ein gutes Zeichen. Also atme ich tief ein und beichte.
„Ich hab mich heut morgen davon geschlichen weil ich keine Lust auf diesen Geburtstagsbrimbram hatte.
Ich bin mit Ellouise rumgeritten, und unser Weg hat uns in den Dämmerwald geführt.
Plötzlich ist sie durchgedreht und hat mich abgeworfen. Und dann,“, ich halte inne und gucke in sein Gesicht, um etwaige Wutausbrüche hervorzusehen und rechtzeitig genug zu verschweigen um nicht alles noch schlimmer zu machen.
Aber seine Züge sind offen und entspannt also mache ich weiter „lass mich ausreden und nicht böse sein, ja?“, hake ich trotzdem noch mal nach.
Er runzelt kurz die Brauen, dann nickt er.
„dann stand er da.“ Ich sehe wie Pan sich anspannt. Ich gucke ihn mahnend an.
„Sein Name ist Finn und er ist ein ausgestoßener.
Darum versteckt er sich in den Grenzländern.
Ich habe den Nachmittag mit ihm verbracht, er ist harmlos und unglaublich lieb!“
Meine widersprüchlichen Gefühle verrate ich Pan lieber nicht, denn sein Gesichtsausdruck hat sich von irritiert über verwirrt zu verärgert entwickelt und ich bekomme Angst vor ihm.
„Von wo ist er ausgestoßen? Du hast den ganzen Nachmittag mit ihm verbracht?
Bist du irre geworden?
Was soll dein verlobter dazu sagen, wenn er erfährt, dass du alleine mit einem fremden Mann warst?“ Er schreit fast.
„Er ist ein Schatte. Was dieser dumme Graf sagt, ist mir vollkommen egal! Ich will ihn nicht heiraten, dass willst du!
Wieso heiratest du ihn nicht, wenn du ihn so toll findest?“, brülle ich Pan an.
Wieder wühlen mich meine Gefühle auf.
Aber Pan achtet gar nicht auf mich, sondern denkt anscheinend mal wieder nur an seine verfluchte Rache. „Marge!!“, brüllt er in Richtung Tür und Marge kommt sofort hinein, auch wenn ihr Gesichtsausdruck vor Angst verzerrt ist.
„Trommel die Truppen zusammen! Im Wald ist ein Schatte, ich will, dass sie ihn finden und herbringen!“, fährt er sie an und knurrt darauf hin wie zu sich selbst:
„Wollen wir doch mal sehen, wer am Ende lacht! Dieser Schatte bekommt’s mit mir zu tun!“ Dann sieht er mich an. „Und du! Du wirst hier bleiben und gegen deine Gewohnheit einmal keinen Unfug anstellen!
Ich verbiete dir, je wieder diesen Wald zu betreten! Du wirst nie wieder mit diesem Schatten reden, geschweige denn Zeit mit ihm verbringen!
Und du wirst nie, niemals mehr über deinen Verlobten so schlecht reden, hast du mich verstanden?“, herrscht er mich in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldet.
Ich widerspreche aber trotzdem:
„Bitte, du darfst ihm nichts tun! Er ist doch nur ein Flüchtling! Er hat doch nichts verbrochen! Bitte Pan! Sei einmal in meinem Leben mein Bruder und tu mir diesen winzigen Gefallen!“
„Ich bin dein Bruder und zwar nonstop!
Genau aus diesem Grund werde ich diese minderwertige Kreatur finden und ihn auf die grausamste Art zu Tode kommen lassen! Er wird nie mehr eine Hand an dich legen!“, kreischt mein Bruder mich an.
„Nie hörst du auf meine Gefühle!
Er hat mir nichts getan! Wenn du ihn tötest, tötest du einen Unschuldigen! So wie die Schatten, die du so hasst!“, schreie ich zurück.
Mittlerweile habe ich mich im Bett aufgerichtet und mir laufen Tränen die Wangen hinab.
Bei meinem letzten Satz ist mein Bruder blass geworden und seine Hände zittern.
„Er wird sterben“, sagt er schließlich nur, mit mühsam ruhig gehaltener Stimme.
Dann steht er auf und geht zur Tür, während in mir Panik aufsteigt. Ich springe aus meinem Bett und renne ihm hinterher.
Der Versuch ihn aufzuhalten ist ziemlich zwecklos, also packt er mich am Hals und sieht mir fest in die Augen. Ich beginne auf ihn einzuschlagen, doch es ist als ob man gegen eine Betonwand schlagen würde.
Er hält einfach meine Hände fest und sieht mich mahnend an
„Halt! Den! Mund!“ Dann geht er hinaus, zieht die Tür hinter sich zu und schließt sie ab.
Ich schlage auf die Türe ein, die Verzweiflung, die sich in mir breit macht, ist so schmerzhaft, dass ich laut zu schreien beginne.
Die Vorstellung, dass Finn nur meinetwegen sterben soll, ist so unbeschreiblich qualvoll, dass ich schließlich weinend auf dem Boden kauere.
Irgendwann kommt Marge herein und hilft mir ins Bett.
Ich lasse mich passiv von ihr unter die dicke Decke stecken und sie streichelt mir beruhigend über den Kopf. Irgendwann dämmere ich ein.
Als ich wieder aufwache kniet Marge neben meinem Bett auf dem Boden und schläft mit dem Kopf auf der Bettkante. Ich rapple mich auf und nehme einen Schluck kalten Kamillentee. Von meiner Bewegung wacht Marge auf.
Sie lächelt. „Soll ich mal in der Küche nach schauen gehen, ob ich etwas Leckeres zu naschen für dich finde?“, fragt sie mit mütterlicher Stimme.
Ich nicke wie ein kleines Kind.
Sie geht hinaus und ich höre, wie sie draußen mit jemandem redet.
Mein Bruder bevormundet mich also nicht nur, sondern er sperrt mich auch noch ein.
Wie zur Bestätigung wird der Schlüssel im Schloss umgedreht.
Ich seufze tief, denn irgendwie war das total klar. Also drehe ich mich um, knuddle mich tief in meine Bettdecke und schaue aus dem Fenster in die sternenklare Nacht.
Hoffentlich weiß Finn was er tut.
Da öffnet sich die Türe und es ist Marge, die mich freudestrahlend anzwinkert, ein Tablett mit einem ganzen Berg von Essen in den Armen.
Da mir nicht mehr schlecht ist, läuft mir das Wasser im Munde zusammen und ich schaffe es, mir einzureden, dass Finn es schaffen wird.
Dass Pan es nicht schaffen wird, ihn zu töten.
Also greife ich mir eins der süßen Brötchen und beiße hinein, spüle mit einem Krug warmer Milch hinunter und schlucke hektisch.
Dann schaue ich Marge an, denn sie sieht mich abwartend an.
„Was?“, frage ich einigermaßen unfreundlich.
Sie lässt sich davon nicht beeindrucken sondern beginnt breit zu grinsen.
Ich ziehe die Brauen zusammen.
„Dein Bruder ist zurück. Sie haben den Schatten nicht gefunden, aber dass wirst du nicht von mir haben, wenn er gleich wutschnaubend hier hereinkommt, klar?“, flüstert sie und mir fällt fast das Brötchen aus der Hand.
„Was?“, stoße ich aus, ich kann’s einfach nicht glauben.
„Der Schatte lebt!“, poltert mein Bruder, der plötzlich in der Kammer steht und einen karmesinroten Kopf hat. „Er war nirgends aufzufinden! Glück für dich!“
								Ein Blick in den Spiegel sagt mir wieder, wie anders ich bin. Mein Teint ist viel zu blass für dieses Land, meine Glieder zu zart für die Feldarbeit, mein Körper zu schmal um später einmal eine gute Ehefrau zu sein und meine Gesichtszüge zu weich, um denen meines Volkes ähnlich zu sein. Kurzum, ich sehe nicht aus wie eine Saranierin, sondern wie eine Porzellanpuppe. Das ich so sofort auffalle, wenn ich durch die Straßen laufe, ist also selbstverständlich. Also schnappe ich mir den neuen blauen Wollumhang, den mein Bruder mir zur Verlobung geschenkt hat, ziehe ihn trotz der warmen Sommerluft draußen an und Stopfe meinen langen Goldblonden Zopf in meinen Gürtel. Durch diese Haarfarbe falle ich nicht besonders auf, in meinem Land sind beinahe alle Blond. Die Kapuze des Umhangs ziehe ich mir tief ins Gesicht, stöhne bei dem Gedanken an die brütende Hitze außerhalb des kühlen Gemäuers aber jetzt schon auf. Ich will ja aber schließlich nicht erkannt werden. Eine edle Tasche aus Wildleder hängt über meinem Stuhl, ich schnappe sie mir, husche aus meiner Kammer und rufe nach Marge. Marge ist meine Zofe, aber eigentlich ist sie mehr meine Freundin. „Hör zu Marge, ich gehe jetzt, wenn mein Bruder nach mir verlangt, wirst du ihm sagen, mir ginge es nicht gut. Ich habe mich zurückgezogen. Verstanden?“, verlange ich von ihr. Marge zieht die Augenbrauen zusammen. Dass sie nicht begeistert davon sein würde, dass ich alleine auf die Straße gehen wollte, war mir klar, aber ich kenne kein erbarmen. „Ich gehe nicht in die Wälder, verlasse nicht die Grenzen und stelle nichts Dummes an. Ich bin ein braves Mädchen, niemand wird etwas bemerken. Du weißt ich muss meine Freiheit genießen, solange ich noch welche habe.“ Meine Stimme bekommt einen traurigen Unterton und meine Augen füllen sich mit Tränen. Sie sind das einzige was ich an mir mag: Groß, rund und Wasserblau, von einem Dichten Wimpernkranz umgeben. Ich kann mit ihnen sehr Mitleiderregend gucken, ein großer Vorteil, den ich gerne gegen die weichherzige Marge einsetze, wenn sie mal wieder versucht, mich von einem Waghalsigen Plan abzubringen. Doch diesmal ist es nicht nur Masche um Marge zu erweichen, sondern ich habe wirklich Angst vor dem was kommt. Mein Bruder hat mich mit dem Grafen von Sol verlobt, einem ernsten, verstaubten Mann, der viel von seinem Stand hält. Ganz im Gegenteil zu mir. Marge öffnet den Mund, schließt ihn wieder und beginnt dann zaghaft, mir in meinen Plan hinein zu reden: „Aber ich kann deinen Bruder nicht belügen! Das gehört sich nicht. Und das steht mir nicht zu!“ Sie hat gute Argumente, aber meine sind besser:„Ach papperlapapp! Sonst belügst du ihn auch! Außerdem musst du mir gehorchen und nicht Pan!“ Marge macht ein Schuldbewusstes Gesicht und ich weiß, dass ich gewonnen habe. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe sie abwartend an, bis sie schließlich notgedrungen nickt und mich ziehen lässt. Also lasse ich sie stehen, husche wie eine Maus durch die kalten Mauern meines Zuhauses und nutze dabei die weniger belebten Gänge. Hinunter in die Küche. Dort schnappe ich mir einen kleinen, runden Ziegenkäse, wickele ihn sorgfältig in ein Stück Leder ein und stecke ihn in meine Tasche. Ein paar kleine Kuchen mit Kirschfüllung stechen mir ins Auge, auch die wandern in meine Tasche, sowie ein Weinschlauch, in den ich kalte Zitronenbrause fülle und ein paar Rotbackige Äpfel. Die Gesamte Küche ist leer, ich frage mich, wo all die Leute sind, die hier sonst für geschäftiges Treiben sorgen, aber eigentlich ist es mir egal. Ich verlasse die Küche durch den Gesindeausgang, trete hinaus ans Licht und mir bricht augenblicklich der Schweiß aus. Es sind mindestens fünfunddreißig Grad, eigentlich nicht ungewöhnlich, aber ich trage ein Korsett, das zwickt und mir eine ’weiblichere’ Form verleihen soll, ein Unterkleid aus dünnem Leinen und ein rauchblaues Leinenkleid, in dem mich mein Bruder unter normalen Umständen niemals auf die Straße lassen würde. Ach ja, und den Wollumhang natürlich. Ich lasse mich von der Hitze aber nicht abhalten, wer weiß wie viele Chancen ich noch bekomme. Ich atme tief durch, checke im Kopf noch mal ob ich alles bei mir trage, ausreichend bewaffnet und verpflegt bin und trete in die unbarmherzige Sonne.
Es ist Mittagzeit in Helleyna, also sind die Straßen belebt und hoffnungslos verstopft. Trotz meiner Tarnung jedoch scheinen mich die Leute zu erkennen und rücken zur Seite, damit ich passieren kann. Meine Füße führen mich wie von selbst zu den Stallungen, in der ich mein Pferd untergebracht habe. Ellouise ist meine beste Freundin und ewig währende Begleiterin in einem. Ich habe sie von meiner Mutter bekommen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Damals war sie wild und bockig, genau wie ich. Bei ihr hat sich das geändert, bei mir nicht. Sie ist das liebste und schönste Pferd das ich kenne. Ist ja auch meins. Als ich in die Box komme, wartet sie schon auf mich. Jeremy der Stallbursche hat sie bereits fertig gemacht, wie ich es aufgetragen habe. Mein Mädchen ist ein mächtiges Tier, ihre Schultern überragen meinen Kopf um mindestens zwanzig Zentimeter. Ihr langes, weiches Fell ist silberfarben und schimmert in allen Schattierungen, wenn Sonnenlicht darauf fällt. Mähne und Schweif heben sich durch einen dunkleren Grauton ab.
Ich steige auf, verknote den Henkel meiner Tasche am Sattel und wir sausen los. Hinaus aus dem Stall, hinaus auf die Straßen, hinaus aus dem Guten Viertel, in die schäbigeren Gassen, immer auf dem Weg zum Osttor. Das Osttor ist in Helleyna das kleinste und am wenigsten bewachte Tor, also hoffe ich, weit genug weg zu sein, wenn meinem Bruder Meldung gegeben wird, dass ich die Stadt verlassen habe. Wenn ich viel Glück habe, erfährt er es gar nicht. Wir werden sehen. Ich versuche nicht allzu genau auf die Armut zu schauen, die leider auch hier herrscht. Wir haben zwar bei weitem nicht so viele Hungertote wie andere Länder, jedoch sind es in meinen Augen immer noch viel zu viele. In einer schmutzigen Gasse zu meiner rechten zanken sich zwei schmutzige kleine Kinder mit eingefallenen Wangen mit einer Ratte um einen Brotkanten. Entsetzt und angewidert verfolge ich das Schauspiel, bis eine ebenso schmutzige, dürre Frau aus einem der kleinen, schiefen Häusern kommt, mir einen bösen Blick zuwirft und der fetten Ratte einen Tritt verpasst. Wohlhabende sind in solchen vierteln nicht gerne gesehen. Ich greife in die Tasche, sehe wie sich die Frau verkrampft und an ihren Gürtel greift, und werfe ihr einen der Äpfel zu. Besser als nichts. Sieht die Frau wohl nicht so, denn sie beginnt mich zu beschimpfen, was mit Apfel-gefülltem Mund ziemlich bescheuert klingt. Ich bin so was gewöhnt, und außerdem habe ich nicht ewig Zeit, also reite ich weiter, die schimpfende Frau ignorierend. Am Stadttor angekommen, steige ich vom Pferd, welches nervös Tänzelnd stehen bleibt und gehe auf die Wachen zu. Der eine, ein dürrer, dem noch die Pickel im Gesicht sprießen, schläft schnarchend, an seine Lanze gelehnt. Der andere hat sich auf einem Hocker niedergelassen und springt auf als ich näherkomme. „Anlass?“, begehrt er zu wissen. Ich streife die Kapuze von meinem Kopf und sage nichts. Lasse meinen Anblick wirken. „Prinzessin! Verzeiht!“ Plötzlich ist er ganz bleich. Komisch. Ich habe noch nie irgendwem was getan, nur weil er nicht gleich auf die Knie gefallen ist, als er mich gesehen hat. Genau aus dem Grund will ich lieber unerkannt bleiben. „Ich komme in einem Auftrag des Königs, sehr geheim, du wirst Augen und Ohren verschließen und mich nicht gesehen haben, falls jemand nach mir fragt, verstanden? Selbst wenn es die speziellen Gesandten des Königs sind. Von der Sache dürfen nur mein Bruder und ich etwas wissen, und ich vertraue dir hiermit sozusagen das Königreich an, klar? Also enttäusch mich nicht und vergiss sofort das ich hier war, wenn ich das Tor passiert habe“, teile ich dem jungen Mann mit scharfer Stimme mit. Er glaubt mir den quatsch, nickt eifrig und nimmt Haltung an. „Wie ihr befielt, Milady“ So ein Dummtropf. Ich lache in mich hinein, gehe zu Ellouise, steige auf und wir sind raus aus der Stadt. In meinem Unterbewusstsein klopft ein kleines Stimmchen an mein Gewissen und flüstert, dass ich hiermit mein Versprechen Marge gegenüber breche. Ich ignoriere es konsequent, man kann es schließlich nicht allen recht machen. Und heute geht es mal um mich. Ich habe schließlich Geburtstag.
Wir reiten über Wiesen und Felder voller Mais, goldenem Weizen und anderen Getreidesorten. An einem Weinstock kommen wir vorbei, ich steige ab und pflücke einige der süßen Reben, bis ein auf mich zu rennender, schreiender, mit seiner Mistgabel rumfuchtelnder Bauer meine Schlemmerei unterbricht. Ich stopfe die Trauben in meine Satteltasche und mache mich davon, es fühlt sich gut an, wie ein einfaches Mädchen behandelt zu werden und nicht wie die Schwester des Königs. Der Bauer hinter uns schimpft immer noch, aber ich bin befreit und locker und kann darum nur lachen. So abgelenkt bemerke ich nicht, dass wir Felder und weites, Flaches Land längst hinter uns gelassen haben und in den tiefen, Dämmerwald geraten sind, der unser Land von dem der Schatten trennt. Mir ist es strengstens verboten, hineinzugehen. Eigentlich ist es jedem strengstens verboten, da es ungemein gefährlich ist. Der Wald ist dicht und viel zu dunkel für Saranier, welche ein Lichtliebendes Volk sind. Ich selbst steh nicht so besonders auf Sonne, wohl noch ein Aspekt, der mich von meinem Bruder unterscheidet. Seid dem Tod unserer Eltern gehe ich nicht mehr gerne unter Leute, nicht mehr gerne ins Sonnenlicht. Ich hänge also eine Weile meinen trüben Gedanken nach, als Ellouise plötzlich unruhig wird. Ihre plötzliche Stimmungswandlung überträgt sich Augenblicklich auf mich. Vor einer Sekunde ist sie noch friedlich vor sich hingetrottet, mich als schlaffen, verträumten Ballast auf ihrem Rücken, jetzt jedoch zuckt sie unruhig mit Ohren und Schweif und tänzelt unruhig hin und her. Ein Eichhörnchen, welches beim erklimmen eines Baumes ein Ästchen abbricht, gibt ihren Nerven den Rest und ihr knallen die Sicherungen raus. Sie scheut, galoppiert los, und ich kann mich nur mit Mühe halten. „Ellouise! Stopp! Alles ist gut!“, brülle ich verzweifelt. „Halt an du Maulesel!“ Das scheint sie als Beleidigung anzusehen, denn sie stoppt so urplötzlich, dass ich über ihren Kopf hinweg fliege und unsanft auf dem Boden lande. „Blödes Gaul! Was sollte das denn?“ Ich bin empört. Das hat sie noch nie gemacht. Aber wir haben uns auch noch nie ’gestritten’. Sie wiehert empört, dass sie mich verstehen kann wusst’ ich ja schon lange, und trampelt auf der Stelle. Blöde Kuh, einscheißern hilft ihr jetzt auch nicht mehr. Aber sie ist schließlich mein Schatzi, also vergebe ich ihr, rappele mich auf und klopfe gerade den Dreck von meinem Kleid, als hinter mir eine Stimme ertönt: „Ein schönes Pferd hast du da, aber wenn du so ein schönes Tier hast, solltest du es auch reiten können!“ Es ist eine Männliche Stimme, sie klingt bedrohlich und definitiv bringt mir diese stimme Ärger ein. Ich vergesse also den Dreck und die Blätter auf meinem Kleid, reiße den Bogen von meiner Schulter und lege, während ich herum wirbele, einen Pfeil an. Dann erstarre ich, mir läuft es kalt den Rücken hinunter, während mein gegenüber nur hämisch zu lachen beginnt. Zunächst einmal ist er nicht so bedrohlich wie zunächst vermutet. Er ist nicht bewaffnet, er hat weder klauen noch fünf Köpfe, was durchaus nicht verwunderlich gewesen wäre, bei dem was sich in diesem Wald so herumtreibt. Er ist auch kein Mann, wie anfänglich vermutet. Eher ein Jugendlicher, aber das heißt leider nicht viel. Dem aussehen nach ist er ungefähr achtzehn, also etwas älter als ich. Auch das ist wenig bedrohlich. Das bedrohlich an ihm sind auch nicht die schwarzen Haare oder der leichenblasse Teint. Er könnte einer der Rebellen sein, die hier in den Wäldern hausen. Das bedrohliche an ihm sind seine Augen. Sie sind blutrot. Ich starre wie gebannt hinein, bin beinahe hypnotisiert. Meine Arme gehorchen nicht mehr und werden schlaff, sodass ich den Bogen sinken lassen muss. Ist aber auch egal, er bring mir ohnehin nicht viel. Ich bin so ein Hörnchen. Wieso habe ich nicht ein einziges Mal auf Pan gehört? Ich sehe schon vor mir, wie die Nachricht durchs ganze Königreich eilt: Prinzessin am sechzehnten Geburtstag ermordet. Kacke. Als mein Gegenüber sieht, wie perplex ich bin, grinst es. Sein Mund ist gespickt mit Messerscharfen Zähnen, wie geschaffen dazu, Fleisch zu reißen. Der junge, dem ich da in die Hände gelaufen bin, ist ein Schatte.
Ich spüre selber wie meine Augen an Größe gewinnen, wahrscheinlich purzeln sie mir gleich aus dem Gesicht. Der Schatte lacht immer noch. Das er mich noch nicht umgebracht hat, kann gleichzeitig gut und sehr, sehr schlecht sein. Wenn ich Glück habe, ist er ein Ausgestoßener aus dem Schattenreich und gar nicht darauf aus, mir etwas zu tun. Vielleicht weiß er auch einfach gar nicht mit wem er es zu tun hat. Hoffentlich. Wenn ich großes Unglück habe, weiß er genau, mit wem er es zu tun hat und nutzt genau das lediglich aus. Vielleicht will er mich foltern und dann langsam töten. Vielleicht will er mich gefangen nehmen und zu seinem König schleifen, damit sie meinen Bruder erpressen oder ihm einfach nur eine reinwürgen können, indem sie mich in Stückchen in Helleyna abliefern. Der Schatte macht jedoch keinerlei Anstalten, mir irgendetwas zu tun. Er grinst nur frech. Ich habe keine Ahnung wie so was abläuft, dieses Treffen ist das erste seiner Art. Ich bin noch nie zuvor einem Schatten begegnet. Mein Bruder hielt mich immer fern allem Bösen und achtete peinlichst genau darauf, dass ich von allem ferngehalten wurde, was einen schlechten Einfluss auf mich haben könnte. Das heißt ich bin so gut wie ausschließlich im Palast aufgewachsen. Ich habe mich oft davon geschlichen, genauso oft habe ich von Pan ärger bekommen. Mein Bruder ist neunzehn, doch er hat einen riesigen Stock im Arsch. Ich hänge hier also meinen Gedanken nach, habe den Schatten vollkommen vergessen, bis er sich räuspert. Ich zucke zusammen und wende meinen Blick wieder zu ihm. „Du bist echt ziemlich besonders, weißt du das?“, fragt er, mit dem anscheinend unvermeidlichen Grinsen im Gesicht. Ich verstehe nur Bahnhof, keine Ahnung was er meint. „Wie meinst du das? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier? Du bist auf dem Land der Saranier, ist dir das klar?“ Langsam habe ich mich gefangen, lasse mich nicht mehr von seinen Blut gefärbten Augen ablenken. Er hebt die Hände, legt den Kopf schief, wie ein hungriger Mantikor und lächelt mich beschwichtigend an. „Ich bin ein Ausgestoßener aus dem Königreich der Schatten, mein Name ist Finn. Und du? Wer verschafft mir die Ehre?“ Ich finde ihn zwar freundlich und vielleicht sagt er die Wahrheit, aber ich habe nicht vor ihm die Wahrheit zu sagen. Ein wenig hektisch blicke ich mich um, mein Blick schießt zu Ellouise und mir kommt eine Idee. „Mein Name ist Ellouise. Ich bin die Zofe der Prinzessin. Hab den Auftrag bekommen, das Königliche Pferd auszuführen.“ Meine Stimme zittert, doch ich hoffe, dass ihm das nicht auf fällt. Mein ganzer Körper bebt, doch ich hoffe, dass auch das ihm nicht auf fällt. Aber es fällt ihm auf, er tritt nähre an mich heran, nimmt meine Hand und streichelt sie sanft. „Shhhhhh, keine Angst. Nur weil ich ein Schatte bin, heißt das nicht, dass ich dich gleich fresse. Ich bin satt für heute, hab zwei kleine Nixen gefrühstückt.“ Er grinst. „Jetzt will ich dir aber mal richtig ins Gesicht sehen können“, sagt er, während ich noch über die Nixenbemerkung nachdenke. Seine Hände streifen mein Gesicht, eiskalt wie die eines toten. Dann packt er die Kapuze des Umhangs, ich hatte vergessen, dass ich sie immer noch trage. Er streift sie ab, während ich beschämt die Augen niederschlage. Er steht näher als es sich für einen Mann gehört. Meine Haare haben sich aus dem Kunstvollen Zopf gelöst, den Marge mir heute Morgen aufgezwungen hat und fallen mir nun lose in die Stirn. Ich befürchte, jetzt wird er merken, dass ich ihn belogen habe, denn der Ruf der hässlichen Saranierprinzessin eilt mir voraus, auch wenn ich die meiste Zeit meines Lebens in meinem Turm weggeschlossen war. Und tatsächlich hält er erstaunt inne, packt mich an den Schultern und hält mich ein Stück von sich weg, nur um mich prüfend zu mustern. „Krass, du bist echt hübsch für son dämlichen Saranier.“, kommentiert er dann. Ich merke wie ich rot werde, und wenn ich rot sage meine ich auch rot, ich sehe aus wie eine reife Tomate. „Siehst deinem Volk aber gar nicht ähnlich“ Ich gucke zu ihm hoch, erst jetzt fällt mir auf wie riesig er ist. Bestimmt einen ganzen Kopf größer als ich. Schlank, muskulös und eiskalt. Dadurch, dass mir diese Details auffallen, merke ich wieder wie nah ich ihm stehe. Also drücke ich mit den Händen gegen seine Brust und er geht mehr oder weniger bereitwillig einen Schritt rückwärts, strauchelt, hält sich an meinem Handgelenk fest und wir stürzen beide. Ich lande auf ihm, werde wieder rot und beginne zu zittern. So nahe war ich einem männlichen Wesen noch nie. Oh Gott, meine Wangen brennen. Er sieht mich an, und zum ersten Mal blicke ich ihm ins Gesicht. Ich muss ja. Seine Nase ist nur einen Finger breit von meiner entfernt. Er hat bleiche Haut, eine kleine Stupsnase, auf welcher sich winzige, kaum sichtbare Sommersprossen abzeichnen. Ich wundere mich gerade, woher jemand aus dem Schattenreich Sommersprossen hat, als mir noch mehr Details ins Auge springen. Seine blutroten Augen, die mich Anfangs abgeschreckt haben, sind eher von der Farbe einer untergehenden Sonne. Sie sind groß und rund und von dichten, schwarzen Wimpern umgeben, die sich beinahe bis zu den Augenbrauen biegen. Er sieht nicht feminin aus, oder so, sondern einfach hübsch. Ich versuche den Gedanken sofort aus meinem Kopf zu vertreiben, doch ich fürchte, er hat sich eingenistet und wird mich nicht mehr los lassen. Sein Gesicht ist nicht Kantig, aber auch nicht zu weich, eher einfach…perfekt. „Fertig mit bewundern?“, unterbricht mich Finn mit rauer Stimme. Ich schrecke auf, ich hatte nicht bemerkt, dass ich ihn angeglotzt hatte. „Wie wär’s, wenn du mal runtergehst, du bist kein Leichtgewicht. Ich krieg keine Luft mehr, ist zwar nicht so als würde ich welche brauchen, aber is schon unangenehm. Du kannst auch n bisschen höher rutsch…“ Er kann den Satz nicht beenden, da bin ich auch schon aufgesprungen und bis zu Ellouise zurückgewichen. „Ich bin nicht fett!“, sage ich eingeschnappt. „Hab ich auch nicht behauptet, Schönheit“, gibt er Schmeichelnd zurück, nur damit ich wieder rot werde. Ich kneife die Augen zusammen und gucke ihn böse an, dann raffe ich meine Haare zusammen und flechte einen struppigen Zopf, knote ihn zusammen und stopfe ihn zurück in meinen Gürtel. Den Umhang drüber, fertig. Dann trampele ich zu Ellouise, greife in die Satteltasche und ziehe einen Apfel heraus, den ich Finn mit aller kraft entgegen schleudere. Er fängt ihn auf, als wäre es eine herab trudelnde Feder und kein heran rasender Apfel. Ich sacke enttäuscht in mir zusammen, ich hatte gehofft, ihm wenigstens den Apfel an die Birne schmettern zu können, so als kleine Vergeltung für den unerlaubten Körperkontakt vorhin. Statt aber weiter schlechte Laune zu schieben, sattele ich Ellouise ab, nehme die Kostbare Satteldecke, lege sie auf den Boden und setze mich darauf. Mein Magen knurrt und Finn kommt mir bei weitem nicht mehr so bedrohlich vor wie vorhin. Also breite ich die Äpfel, den Käse, die Trauben und die Küchelchen vor mir aus und überlege, an der Zitronenbrause nippend, womit ich zuerst anfangen soll. Völlig selbstvergessen sitze ich so da, bis mir Finn wieder einfällt. Ich vergesse ihn irgendwie permanent. Arme Socke. Jetzt fällt er mir halt wieder ein und ich klopfe auffordernd auf ein freies Stück Decke neben mir. Ich sehe unauffällig hoch, sehe wie er grinsend den Kopf schüttelt und sich zu mir setzt. Ich sehe unauffällig hoch, sehe wie er grinsend den Kopf schüttelt und sich zu mir setzt.
Er betrachtet den Apfel, mit dem ich versucht hatte, ihn zu ’steinigen’ und bevor ich etwas sagen kann, beißt er herzhaft hinein.
Der süße Saft rinnt seine Mundwinkel hinab, und ich merke wie ich mal wieder beginne zu glotzen.
Ich bin so eine leichte Beute, dass es beinahe eine Schande ist.
Ich Hörnchen.
Ich esse mich einmal quer durch das was ich habe, sprechen tu ich nicht viel, allein schon aus dem Grund, mich zu verraten.
Auch Finn spricht nicht viel, knabbert nur schmatzend an seinem Apfel und ich kann mir gut vorstellen, wie es aussieht, wenn er Beute schlägt.
In meinen Kopf drängen sich Bilder von schreienden Nixen, die mit ihren Schwimmflossen bestückten Händen um sich schlagen,
während sich klauen bewährte Hände in ihre weiche Bauchhaut graben,
sie aufreißen und Blut zum Mund schöpfen.
Gefletschte Reißzähne, blutrot glühende Augen und verkrustet abstehende Haare,
die Finns schönes Gesicht umrahmen.
Ich versuche den Gedanken abzuschütteln und merke,
dass sich meine Nackenhärchen aufstellen.
Ich zucke so sehr zusammen, als er mir eine Hand auf den Arm legt, dass er sich ebenfalls erschreckt. Als ich aufgucke, ruht sein Blick auf mir, und mir wird einwenig mulmig zu mute. Ich befinde mich in Gegenwart meines Erzfeindes, aber in mir tobt eine Mixtur der Gefühle. Ich fühle mich wohl und habe panische Angst vor ihm.
Am liebsten will ich sofort weg, jedoch ist das Vertrauen zu dieser vollkommen fremden Person auch ungemein groß.
Ich fühle mich wie eine Verräterin, die ihr Volk ausliefert, und wie eine Pionierin, die in neue Gefilde vordringt.
Ein friedlicher Schatte und eine Prinzessin der Saranier.
Ich kichere stumm vor mich hin, in die Stille hinein, die Situation ist viel zu Paradox.
Wenn mein Bruder wüsste, was ich hier mache, er würde sein Schwert in Stückchen brechen und es aufessen.
Seit unsere Eltern damals von Schattenkriegern getötet worden sind, brennt in Pan das unendliche Feuer der Rache.
Hinter jedem Schatten, der sich in unser Königreich verirrt, vermutet er einen Spion von König Loki.
Unsere Kerker sind voll gestopft von Schatten, die wahrscheinlich alle unschuldig sind, doch Pan zeigt kein Erbarmen.
Nach jedem Angriff des Schattenkönigs, lässt er die Hälfte der Insassen hinrichten. Nur um zwei Wochen später den Knast wieder voll zu haben.
Dank der schlechten Zustände in den Städten der Schatten, leiden viele Schatten Hunger und fliehen in den Dunkelwald, um dort gegen das Gesetz zu wildern. Von der Legion meines Bruders werden sie dort erwartet und eingesammelt wie reife Beeren.
Als Reaktion auf mein Kichern guckt Finn mich verdutzt an
„Wieso lachst du? Bin ich lachhaft? Oder hast du was gegessen, was du nicht verträgst?“, fragt er verwirrt. Jetzt muss ich noch mehr lachen. „Ich lache nur…wegen der Situation…guck uns doch mal an….wenn mein Bruder uns so sehen würde…“, japse ich, ringe um Luft und lasse mich, um mich ein wenig zu beruhigen, auf den Rücken sinken. Jetzt liege ich flach im Laub, Finn sitzt neben mir.
Langsam verfliegt meine Angst und es macht sich ein seltsames Gefühl breit. Beinahe so etwas wie Geborgenheit. Wärme.
Doch dann, wird mir bewusst, was das bedeutet. Ich könnte nie mit ihm befreundet sein, geschweige denn mehr.
In nicht einmal einem Monat werde ich die Gemahlin des Grafen von Sol. Ich sollte froh sein, überhaupt einen Verlobten gefunden zu haben. Es ist das erste Mal, dass ich mir auch nur einen einzigen Gedanken daran erlaube.
Mein Bruder hat ewig lange gesucht, und trotz meines hohen Standes und der ungemein riesigen Mitgift, zusätzlich noch dem Titel, den sich mein Zukünftiger mit der Heirat sichert, hat es Ewigkeiten gedauert, bis sich jemand gefunden hatte, der sowohl Ansehen und ein einigermaßen angemessenes Alter hatte.
Der Graf von Sol ist der Herr einer kleinen Stadt, ganz am Rande der Provinz Saranien.
Eine Stadt mit wenigen Händlern, wenigen Adeligen und vielen Landwirten.
Gegen die ist zwar im Grunde überhaupt nichts einzuwenden, jedoch bin ich buntes Treiben gewöhnt und will nicht in einer Stadt leben, in der kaum Leben herrscht.
Bei dem Gedanken daran, dass ich bald wie eine Nonne in einem Kloster leben muss, wird mir schwarz vor Augen und damit Finn mir meinen Schmerz nicht ansehen kann, rolle ich mich zusammen und drehe mich weg.
Ich atme tief ein, fokussiere meinen Blick auf die trockenen Blätter vor meiner Nase und beobachte einen kleinen, grünen Käfer der durchs Unterholz kriecht, während ich versuche, meine Tränen und das trockene Schluchzen in meiner Kehle zurück zu halten.
Nicht hier.
Nicht jetzt.
Nicht vor ihm.
Aber anscheinend merkt er’s doch. Legt mir eine Hand auf den Rücken, und beugt sich über mich. „Was hast du? Geht’s dir nicht gut? Hast du Schmerzen?“
Seine besorgte, sanfte Stimme gibt mir den totalen Rest und, obwohl ich meine Lippen fest zusammen presse, muss ich schluchzen.
Ich will diesen Beutel nicht heiraten. Auf keinen Fall.
Ich fühle mich so verloren aufgrund meiner Zukunft, dass ich mich zu Fin drehe und mich an ihn klammere. Er legt seine kalten Arme um mich.
Obwohl ich furchtbar friere, schmiege ich mich eng an ihn und genieße das tröstende Geräusch seines Atems.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Er streichelt mir sanft über Kopf und Rücken und nach einer ganzen Weile schaffe ich es, mich zu beruhigen. Ich rappele mich auf, jedoch nicht von seiner Seite weichend und wische mir trotzig die Tränen von den Wangen. Dann lehne ich mich ein wenig erleichterter an ihn und seufze. Alles an ihm ist irgendwie fremd.
Irgendwie anders.
Verboten.
Seine Brust ist trainiert und kalt, sodass es beinahe ist als würde ich mich an eine Betonwand lehnen und seine kalten, dünnen Arme umschlingen mich wie Metallketten. Ich lasse den Kopf zurückfallen, sodass er knapp unter seiner Halsbeuge anlehnt.
Ich versuche mich auf seinen Atem zu konzentrieren, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
„Warum bist du traurig? Willst du’s mir erzählen? Behandelt man dich im Palast schlecht? Soll ich das für dich klären?“ Seine Stimme klingt besorgt.
Ich schüttle den Kopf, ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Er würde sofort erkennen, dass ich gelogen habe.
Ich lehne den Kopf wieder gegen seine Brust und horche.
Außer Atem höre ich nichts.
Sein Herz schlägt nicht. Das hat es noch nie getan.
Und das bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
Er ist ein Schatte.
Ich bin die Schwester des Saranischen Königs.
Es gibt kein wir.
Also winde ich mich aus seinem beruhigenden Griff und beginne damit, das essen vom Boden zu klauben. Ellouise hat den ganzen Nachmittag brav auf der Lichtung gestanden und einzelne Gräser gerupft, jetzt schaut sie erwartungsvoll auf.
„Was tust du da? Hab ich was gesagt, was dich verärgert hat? Wenn ja, tut’s mir leid!“
In seiner Stimme schwingt echtes Interesse und Besorgnis mit.
Es tut beinahe weh ihm die Wahrheit zu verschweigen und ihn hier so stehen zu lassen.
Aber ich sollte jetzt gehen, bevor es für uns beide noch schwieriger wird.
„Was wirst du jetzt tun? Wo wirst du schlafen?“, frage ich, um wenigstens ein bisschen Interesse zu zeigen. Als ich von der Satteltasche aufblicke, kann ich ihn nirgendwo entdecken.
Ich blicke mich auf der Lichtung um, nirgends eine spur, lediglich feiner schwarzer Nebel liegt in Luft. Ich verdrehe die Augen.
Macho. Ich zucke die Schultern und packe weiter meine Sachen in die Satteltaschen.
„Schatten schlafen nicht, vergiss das nicht, mein Täubchen!“, säuselt er plötzlich hinter mir.
Ich fahre herum und blick ihm in die Augen.
Er steht keine zehn Zentimeter vor mir, ich kann jede winzige Sommersprosse sehen und jedes einzelne Wimpernhärchen.
Sein Atem riecht süßlich, aber nicht unangenehm oder so.
Finns Hand streicht über mein Gesicht und bleibt auf meiner Unterlippe liegen.
Mein Atem Stockt und ich schaffe es nur mit Mühe, den Kopf zu drehen.
Während ich bete, dass er die Hand wegnimmt, damit ich weiter atmen kann, wandert diese weiter, bis in mein Genick, der Daumen fährt unter mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen muss.
Seine Augen sind unergründlich und ich versinke darin, während er meine Wange streichelt.
„Sehen wir uns wieder?“, fragt er mit einer Stimme, die es mir unmöglich macht, ihm den Wunsch zu versagen.
Ich nicke.
Dann gestehe ich mir kurz einen winzigen Einbruch in meine Gefühlswelt,
schlinge die Arme um ihn, drücke meinen Kopf feste an ihn und sauge eine letzte Sekunde seinen Geruch ein. Dann, bevor er etwas anderes tun kann als erstaunt gucken, lasse ich ihn los und schwinge mich auf Ellouise.
„Ellouise? Wo und Wann“, ruft er, während er da so verlassen auf der Lichtung steht.
Ich will ihn grade fragen wieso er mit meinem Pferd redet, als mir wieder einfällt, was ich ihm erzählt habe.
Also drehe ich mich um und sehe ihn an. Zucke mit den Schultern.
„Kommt drauf an, wann ich wieder aus dem Palast rauskomme. Ich hab mich heute davon geschlichen, dass könnt also etwas dauern“.
Trauer schwingt viel zu hörbar in meiner Stimme mit. Mist.
Auch Finn scheint das bemerkt zu haben und geht aus diesem Grund auf die wahre Ellouise zu. Das Tier jedoch vertraut im nicht weiter als er es werfen kann und weicht scheu zurück.
Ich erlaube mir einen letzten Blick, schaue ihm in die Augen.
„Du wirst mich schon finden, wenn ich komme!“, sage ich knapp.
Dann gebe ich Ellouise die Sporen und sause los.
Aus dem Wald heraus finden wir schneller und viel unkomplizierter, als ich dachte.
Ellouise scheint den Weg zu kennen.
Gutes Tier.
Über die Felder und Hügel zurück, durch den Weinstock, und je weiter wir uns vom Dämmerwald und somit auch von Finn entfernen, desto schlechter geht es mir.
Als wir wieder in die Stadt kommen, sterbe ich beinahe vor Angst, meinem Bruder gegenüber zu treten. Mittlerweile muss er einfach bemerkt haben, dass weder ich noch mein Pferd auffindbar waren.
Es wird langsam dunkel und echt frisch.
Ich hatte durch das dichte Laub des Waldes den Stand der Sonne nicht sehen können und so die Uhrzeit aus den Augen verloren.
Genauso war mir die Kälte nicht aufgefallen, was aber auch an der schwülen Hitze des Waldes liegen konnte, welche von den Thermalquellen stammt, die überall im Wald zu finden sind. Hier in der Stadt, in welcher sich langsam die rege Betriebsamkeit in Stille verwandelt,
spürt man die Kühle der Nacht besser.
Die Stadt wirkt wie ausgestorben, die Nachtwächter beginnen ihren Rundgang.
Als ich beim Palast ankomme, zittere ich vor Kälte.
Was ich jetzt brauche, ist heiße Schokolade.
Im Palast war es anscheinend den ganzen Tag nicht wirklich warm, denn hier ist es noch kälter als draußen. In meiner Kammer angekommen, ziehe ich erst einmal das Korsett aus, löse den schrecklichen Zopf und fahre mir durch die hüftlangen Haare.
So befreit beginnt mein Magen zu knurren und ich mache mich auf die Suche nach Marge.
Ich habe heute Geburtstag, also soll sie gefälligst kommen und mir etwas zu essen bringen, am besten Kuchen.
Die kleinen Küchelchen und die restliche Verpflegung habe ich mit Finn zusammen im Wald verspeist und bin schon wieder hungrig.
Weil ich sie nicht finden kann, tapse ich schließlich in weichen Stoffschuhen, mit offenen Haaren und einem Kleid, welches von dem Ritt und dem anschießenden Sturz nur noch aus dreckigen Fetzen besteht, in den Thronsaal.
Ganz in die Hoffnung versunken, mein Bruder könnte anderweitig beschäftigt sein, schiebe ich die schwere Flügeltüre zum Thronsaal einen kleinen Spalt auf und husche hindurch, ohne vorher hineinzugucken.
Ein großer Fehler.
Ein sehr, sehr, sehr großer Fehler.
Als ich schließlich die Türe hinter mir zugeschoben habe und mich erwartungsvoll umdrehe, bleibt mir das prophylaktische Lächeln im Halse stecken. An der langen Speisetafel, die im Thronsaal aufgebaut ist, sitzen sämtliche Adeligen des Landes, inklusive meinem Bräutigam in Spe, und starren mich mit geöffneten Mündern an.
Der Blick meines Bruders, welcher am Tischende sitzt, lässt mich vermuten, dass mich heute Abend ein Sturm erwartet.
Ich versuche die Situation zu retten und mache einen meiner Meinung nach anmutigen Knicks in die Richtung meines Bruders.
Er hebt nur die Augen.
„Würdest du so lieb sein, und mir erklären, wo du den ganzen Tag gesteckt hast, während alle hier zu Ehren deines Geburtstages versammelt waren?“, fragt er schließlich mit einer Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Ich versuche ihn so zu behandeln, dass er sich nicht mehr in seinem Stolz verletzt fühlt, als er es jetzt schon ist, also straffe ich meinen Rücken und sage mit so ehrenvoller Stimme wie es mir möglich ist:
„Mir war nicht gut, verzeiht, mein Bruder!
Als es mir besser ging, hielt ich es für angemessen, das schöne Wetter zu nutzen und Ellouise ein wenig Bewegung zu gönnen.
Zumal mir dies ebenfalls gut tat.
Ich bin über die Felder geritten und habe die Uhrzeit und meinen Weg aus den Augen verloren.
Als ich den Rückweg gefunden hatte, dämmerte es bereits, so bin ich im Stall gestürzt und habe mein Kleid an einer Holzdiele zerrissen.
Ich werde es flicken, sobald ich kann und bitte um Verzeihung,
wegen meines unziemlichen Verhaltens.
Ich hätte euch bescheid geben sollen, wo ich mich befinde und meinen Weg im Auge behalten sollen. Verzeiht mein Bruder.“ Bei den letzten, zugegeben sehr heuchlerischen Worten beuge ich unterwürfig den Kopf und hoffe, mein Bruder würde es dabei belassen.
„Bist du verletzt?“, fragt er mich mit Sorge in der Stimme,
anscheinend hat er meine Story geschluckt.
Bei dem Gedanken, was ich wirklich gemacht habe, schwirren tausende winzige Schmetterlinge in meinem Magen umher und lassen mich schwanken.
Bevor ich mich wieder fangen kann, ist Pan von seinem Stuhl geschnellt und steht neben mir.
Er stützt mich, während ich versuche mich zu fangen und nicht mehr an das zu denken was war.
Unweigerlich vergleiche ich meinen Bruder mit Finn.
Sie sehen beide gut aus, wenn auch auf vollkommen verschiedene Art.
Mein Bruder ist riesig und trainiert, blond und gebräunt.
Seine Haare stehen wuschlig von seinem Kopf ab, seine Arme sind muskelbepackt und seine Hände groß, mit langen, groben Fingern.
Mit seinen blauen Augen und den goldblonden Haaren hat er somit das Idealaussehen eines Saraniers. Sein Kinn ist kantig und seine Augen sind stechend.
Finn hingegen ist kleiner, sein Kreuz ist bei weitem nicht so breit, seine Arme sind nicht so muskulös, trotzdem aber trainiert,
seine Haut ist alabasterfarben und seine Haare schwarz und länger, sodass sie zwar wirr vom Kopf abstehen, ihm aber ebenso in die Augen fallen.
Die Farbe seiner Augen ist innen schwarz und wird bis nach außen hin blutrot.
Seine dichten, schwarzen Wimpern verstärken diesen Effekt nur und die zarten Sommersprossen lassen seine ohnehin schon zarten Gesichtszüge feiner und jünger erscheinen.
Seine Hände sind groß und seine Finger lang und elegant.
Insgesamt wirkt er nicht älter als Siebzehn.
Allein die Erinnerung an sein Gesicht und seinen Körper, löst in mir wieder ein Schwindelgefühl aus.
Dieses Mal wird mir so schwindlig, dass ich mich setzen muss, während mich Pan besorgt ansieht.
„Vielleicht solltest du dich hinlegen“, schlägt er vorsichtig vor.
Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, denn mir wird plötzlich furchtbar übel.
Aber was soll ich anderes mit mir anfangen?
Also nicke ich schwach und mache Anstalten, aufzustehen, doch meine Beine knicken mir weg.
Pan fängt mich, aber ich sehe aus dem Augenwinkel wie mein Bräutigam in Spe aufspringt um ebenfalls zu reagieren.
Ich bin froh, dass Pan schneller ist.
Er nimmt mich in seine starken Arme und ich kuschele mich an ihn.
Ausnahmsweise bin ich ihm sehr dankbar für seine Größe und Stärke.
Er trägt mich weg von den neugierigen Blicken, zu meiner Kammer, wo Marge wartet.
Sie macht große Augen, schlägt meine Bettdecke zurück und Pan legt mich hinein.
Dann wendet er sich ab, während sie mir aus dem dreckigen Kleid und in ein Nachthemd hilft. Ich krieche unter die Decke, kuschele mich an das Fell, das auf meiner Matratze liegt und mein Bruder dreht sich wieder um.
Dann scheucht er Marge mit einer Handbewegung raus und trägt ihr auf, mir in der Küche einen Kamillentee zu bereiten.
Als die Türe hinter ihr zu fällt, setzt er sich auf meine Bettkante und streicht mir die Haare aus der Stirn. „So! Das hast du ja elegant gelöst, da unten! Aber was ist wirklich passiert?
Du hast Ginster in den Haaren, und der wächst nur im Dämmerwald.
Also erzähl mir keine Märchen!“, sagt er streng.
Ich schlucke schwer, weil ich mich nicht entscheiden kann, ihm eine weitere Lüge aufzutischen oder die Wahrheit zu sagen.
„Also…ich sag’s dir…aber du darfst nicht böse sein, ja?“, setze ich also an, nachdem ich leider erkannt habe, dass lügen keine gute Idee ist.
Er nickt nur. „Versprochen?“, hake ich noch mal vorsichtshalber nach. Wieder nickt er.
Ein gutes Zeichen. Also atme ich tief ein und beichte.
„Ich hab mich heut morgen davon geschlichen weil ich keine Lust auf diesen Geburtstagsbrimbram hatte.
Ich bin mit Ellouise rumgeritten, und unser Weg hat uns in den Dämmerwald geführt.
Plötzlich ist sie durchgedreht und hat mich abgeworfen. Und dann,“, ich halte inne und gucke in sein Gesicht, um etwaige Wutausbrüche hervorzusehen und rechtzeitig genug zu verschweigen um nicht alles noch schlimmer zu machen.
Aber seine Züge sind offen und entspannt also mache ich weiter „lass mich ausreden und nicht böse sein, ja?“, hake ich trotzdem noch mal nach.
Er runzelt kurz die Brauen, dann nickt er.
„dann stand er da.“ Ich sehe wie Pan sich anspannt. Ich gucke ihn mahnend an.
„Sein Name ist Finn und er ist ein ausgestoßener.
Darum versteckt er sich in den Grenzländern.
Ich habe den Nachmittag mit ihm verbracht, er ist harmlos und unglaublich lieb!“
Meine widersprüchlichen Gefühle verrate ich Pan lieber nicht, denn sein Gesichtsausdruck hat sich von irritiert über verwirrt zu verärgert entwickelt und ich bekomme Angst vor ihm.
„Von wo ist er ausgestoßen? Du hast den ganzen Nachmittag mit ihm verbracht?
Bist du irre geworden?
Was soll dein verlobter dazu sagen, wenn er erfährt, dass du alleine mit einem fremden Mann warst?“ Er schreit fast.
„Er ist ein Schatte. Was dieser dumme Graf sagt, ist mir vollkommen egal! Ich will ihn nicht heiraten, dass willst du!
Wieso heiratest du ihn nicht, wenn du ihn so toll findest?“, brülle ich Pan an.
Wieder wühlen mich meine Gefühle auf.
Aber Pan achtet gar nicht auf mich, sondern denkt anscheinend mal wieder nur an seine verfluchte Rache. „Marge!!“, brüllt er in Richtung Tür und Marge kommt sofort hinein, auch wenn ihr Gesichtsausdruck vor Angst verzerrt ist.
„Trommel die Truppen zusammen! Im Wald ist ein Schatte, ich will, dass sie ihn finden und herbringen!“, fährt er sie an und knurrt darauf hin wie zu sich selbst:
„Wollen wir doch mal sehen, wer am Ende lacht! Dieser Schatte bekommt’s mit mir zu tun!“ Dann sieht er mich an. „Und du! Du wirst hier bleiben und gegen deine Gewohnheit einmal keinen Unfug anstellen!
Ich verbiete dir, je wieder diesen Wald zu betreten! Du wirst nie wieder mit diesem Schatten reden, geschweige denn Zeit mit ihm verbringen!
Und du wirst nie, niemals mehr über deinen Verlobten so schlecht reden, hast du mich verstanden?“, herrscht er mich in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldet.
Ich widerspreche aber trotzdem:
„Bitte, du darfst ihm nichts tun! Er ist doch nur ein Flüchtling! Er hat doch nichts verbrochen! Bitte Pan! Sei einmal in meinem Leben mein Bruder und tu mir diesen winzigen Gefallen!“
„Ich bin dein Bruder und zwar nonstop!
Genau aus diesem Grund werde ich diese minderwertige Kreatur finden und ihn auf die grausamste Art zu Tode kommen lassen! Er wird nie mehr eine Hand an dich legen!“, kreischt mein Bruder mich an.
„Nie hörst du auf meine Gefühle!
Er hat mir nichts getan! Wenn du ihn tötest, tötest du einen Unschuldigen! So wie die Schatten, die du so hasst!“, schreie ich zurück.
Mittlerweile habe ich mich im Bett aufgerichtet und mir laufen Tränen die Wangen hinab.
Bei meinem letzten Satz ist mein Bruder blass geworden und seine Hände zittern.
„Er wird sterben“, sagt er schließlich nur, mit mühsam ruhig gehaltener Stimme.
Dann steht er auf und geht zur Tür, während in mir Panik aufsteigt. Ich springe aus meinem Bett und renne ihm hinterher.
Der Versuch ihn aufzuhalten ist ziemlich zwecklos, also packt er mich am Hals und sieht mir fest in die Augen. Ich beginne auf ihn einzuschlagen, doch es ist als ob man gegen eine Betonwand schlagen würde.
Er hält einfach meine Hände fest und sieht mich mahnend an
„Halt! Den! Mund!“ Dann geht er hinaus, zieht die Tür hinter sich zu und schließt sie ab.
Ich schlage auf die Türe ein, die Verzweiflung, die sich in mir breit macht, ist so schmerzhaft, dass ich laut zu schreien beginne.
Die Vorstellung, dass Finn nur meinetwegen sterben soll, ist so unbeschreiblich qualvoll, dass ich schließlich weinend auf dem Boden kauere.
Irgendwann kommt Marge herein und hilft mir ins Bett.
Ich lasse mich passiv von ihr unter die dicke Decke stecken und sie streichelt mir beruhigend über den Kopf. Irgendwann dämmere ich ein.
Als ich wieder aufwache kniet Marge neben meinem Bett auf dem Boden und schläft mit dem Kopf auf der Bettkante. Ich rapple mich auf und nehme einen Schluck kalten Kamillentee. Von meiner Bewegung wacht Marge auf.
Sie lächelt. „Soll ich mal in der Küche nach schauen gehen, ob ich etwas Leckeres zu naschen für dich finde?“, fragt sie mit mütterlicher Stimme.
Ich nicke wie ein kleines Kind.
Sie geht hinaus und ich höre, wie sie draußen mit jemandem redet.
Mein Bruder bevormundet mich also nicht nur, sondern er sperrt mich auch noch ein.
Wie zur Bestätigung wird der Schlüssel im Schloss umgedreht.
Ich seufze tief, denn irgendwie war das total klar. Also drehe ich mich um, knuddle mich tief in meine Bettdecke und schaue aus dem Fenster in die sternenklare Nacht.
Hoffentlich weiß Finn was er tut.
Da öffnet sich die Türe und es ist Marge, die mich freudestrahlend anzwinkert, ein Tablett mit einem ganzen Berg von Essen in den Armen.
Da mir nicht mehr schlecht ist, läuft mir das Wasser im Munde zusammen und ich schaffe es, mir einzureden, dass Finn es schaffen wird.
Dass Pan es nicht schaffen wird, ihn zu töten.
Also greife ich mir eins der süßen Brötchen und beiße hinein, spüle mit einem Krug warmer Milch hinunter und schlucke hektisch.
Dann schaue ich Marge an, denn sie sieht mich abwartend an.
„Was?“, frage ich einigermaßen unfreundlich.
Sie lässt sich davon nicht beeindrucken sondern beginnt breit zu grinsen.
Ich ziehe die Brauen zusammen.
„Dein Bruder ist zurück. Sie haben den Schatten nicht gefunden, aber dass wirst du nicht von mir haben, wenn er gleich wutschnaubend hier hereinkommt, klar?“, flüstert sie und mir fällt fast das Brötchen aus der Hand.
„Was?“, stoße ich aus, ich kann’s einfach nicht glauben.
„Der Schatte lebt!“, poltert mein Bruder, der plötzlich in der Kammer steht und einen karmesinroten Kopf hat. „Er war nirgends aufzufinden! Glück für dich!“
