Im Wald

arbir

Mitglied
Ich bin fremd hier. Trinke Waldquelle-Mineralwasser und bin fremd im Wald. Ängstlich habe ich mich ins Gras gesetzt. Interesse gegen Abneigung und Ekel. Ich fürchte mich vor den Spinnen, Ameisen, Käfern; vor den Insekten im Gras. (Gerade krabbelt eine Spinne neben mir im Gras). Wohl anerzogene Abneigung oder besser gesagt Furcht.
Ich bin fremd im Wald, weil ich die Geräusche des Waldes nicht kenne. Wie stelle ich mir den ihn vor, den großen Unbekannten, wenn ich daheim im dunklen Zimmer sitze? - Still.
Still ist er aber nicht. Der Wind fährt durch die Bäume, lässt sie mit Ästen knacken, mit Blättern rascheln. Leise bewegt er die Grashalme. Sie zittern regelmäßig hin und her. Ein optisches Geräusch.
Vogelgezwitscher. Keine Ahnung, welche Vögel, aber aus allen Richtungen und immer anders. Normalerweise blende ich solche Geräusche aus. Höre sie nicht. Ich muss bewusst hinhören, um sie heute wahrzunehmen, zu bemerken.
Hinter jedem Knacken im Unterholz vermute ich ein wildes Tier oder den breitschultrigen Forstarbeiter im karierten Frotteehemd und in grüner Latzhose. Ob es hier überhaupt Forstarbeiter gibt? Oder wilde Tiere? Wölfe, Braunbären, Schlangen? Und was würden diese Kreaturen tun?
Würde mich der Wolf vom dunklen Unterholz aus, zwischen den schattigen Bäumen stehend mit stechenden, gelben Augen mustern und seine Schnauze zu einem ungehörten Knurren verziehen? Würde mich die Hornviper aus dem Gras heraus anzischen oder würde mich der Forstarbeiter aus dem Privatforst verjagen?
Idiotisch, aber ganz allein in der Natur habe ich mehr Paranoia als in der menschenvollen Stadt. Liegt wohl daran, dass die Natur mir fremd ist, während ich mich an die Stadt schon lange gewöhnt habe.
Aber menschenleer ist diese Natur nicht wirklich, denn a.) bin ja ich hier und b.) ist es, um in dieser Gegend wirklich keines Menschen ansichtig zu werden, besser in den eigenen vier Wänden zu bleiben, als hinaus in die Wildnis zu gehen, die schon lange keine mehr ist.
Ich sitze jetzt in einer Waldlichtung und nenne es Natur. Nenne es ursprünglich. Aber diese Lichtung gibt es nur weil ein Mensch vor Jahren die Bäume hier setzte und Jahre später die Lichtung wieder rodete. (Knacksen vor und hinter mir. Schrecke auf, Mücke im Haar gelandet. Verjage sie. Kleiner Käfer am Schreibheft, krabbelt über die Zeilen. Gras kitzelt am Knie. Die Sonne brennt mir aufs Gesicht. Ein Schmetterling im Tiefflug rechts an mir vorbei, der Sonne entgegen. Vogelgezwitscher, tip-tap-tap-tip-tap-tap. Scharren im Unterholz um mich herum, unaufhörlich. Ich niese, vielleicht eine Allergie.)
Vor mir liegen altbekannte Straßen, die Siedlung meiner Großeltern. Felder, Stromleitungen, Wege. Alles schon gesehen, alle Wege schon gegangen. Natur ist es schon, aber Menschliches überall.
Fremd bin ich in dieser Natur aber nur von mir aus gesehen. Jedes Geräusch, jedes Knacken lässt mich noch aufschrecken und jeder noch so kleine Käfer ist für mich tödlicher Ekel. Das gibt sich, keine Frage. Bald schreckt mich hier nichts mehr, bald kenne ich es, dieses Unbekannte. Und dann fürchte ich mich nicht mehr. Und der Natur bin ich nicht fremd, war es nie. Ich bin ein Teil von ihr, ob ich will oder nicht. Bald bin ich auch für die Käfer nichts besonderes mehr. Kein gefährlicher Riese mehr. Den Pflanzen bin ich sowieso egal, sie haben anderes zu tun. Und sollte ich jetzt und hier sterben und niemand meine Leiche finden, in einem Jahr wäre ich selbst ganz zur Natur geworden. Teil des Bodens. Selbst Boden.
(Inzwischen Falter in Orange, Gelb und Weiß gesehen. Alle flogen an mir vorbei und suchten Blüten. Zwei Falter, gelb und orange tänzeln hoch oben, drei vier Meter hoch durch die Luft. Der gelbe Schmetterling fliegt graziös an mir vorbei und in den Wald. Eigentlich flog er nicht an mir vorbei. Er flog einfach.)
 
wunderbar! Eine Bestandesaufnahme und ein Volltreffer. Genauso sitze auch ich (und möglicherweise die meisten Stadtmenschen) im Wald. Und der letzte Satz "eigentlich flog er nicht an mir vorbei, er flog einfach" zeigt die ganze Gleichgültigkeit, mit der die Natur dem Menschen begegnet. Das ist das eigentlich Beängstigende! Dafür rächt sich der Mensch seit Jahrhunderten mit seiner Zivilisation. Letztlich tötet er aus Angst den Schoss aus dem er kroch und vernichtet sich selbst. Schrecklich dumm aber leider konsequent... ein grosses Thema wird hier in seinen Anfängen eingefangen, sehr nah an einem einzigen Menschen beobachtet.
Daraus wäre noch viel mehr zu machen....
 

arbir

Mitglied
Danke für so viel Lob. Freut mich auch, dass eine der Aussagen des Textes den Leser erreichen kann. Dass die Geschichte nur einen Anfang darstellt, ist klar, da ich sie in einem Stück am Originalschauplatz niedergeschrieben habe. Außerdem stellt jede Geschichte nur einen "Anfang" dar, da es bisher noch niemals gelungen ist, die Welt im Ganzen auf ein paar Seiten einzufangen. Würde mich aber über Vorschläge freuen, wie jemand anderes das Thema weiterverfolgen würde.

P.S. Bitte kommentiert auch mal meine andere Geschichte "An Milena". Freue mich über jede Reaktion.
 

Andrea

Mitglied
8 von 10 Punkten

Ich glaube nicht, daß soviel mehr aus dem Text zu machen ist (im Sinne von weiterschreiben), denn er ist, wie Lukas es so hübsch sagte, eine Bestandsaufnahme, und als solche ist die Geschichte auch wirklich gut gelungen. Würde man sie fortführen, es kämen ja doch nur dieselben Erkenntnisse zutage, und dann würde der Text langweilen.

Was mir u.a. gut gefällt, sind die eliptischen Beschreibungen im Gegensatz zu den Gedanken, aber auch am Anfang die Waldquelle gegenüber dem Wald. Netter Einfall.

Zu Lukas möchte ich noch sagen: Der Mensch tötet nicht nur aus Angst, sondern auch aus Dummheit, auch wenn viel Angst aus Dummheit entspringt.

Ach, und arbir, zu deinem PS: Geduld braucht der Mensch, und der Autor im Besonderen. Drei Tage sind zu verkraften...
 

arbir

Mitglied
Viel mehr Geschichte (im Sinn von Abfolge von Ereignissen) passt in diesen Text nicht hinein. Das stimmt. (Es ist auch nicht mein Ziel, die Geschichte mit mehr "Handlung" auszustatten.) Falsch ist aber, dass im Falle einer Fortführung der Gedankengänge, die diesen Text ausmachen, "ja doch nur dieselben Erkenntnisse zutage kommen" würden. Glaub mir, es liegen noch genug nicht ausformulierte und zu Ende gedachte Gedanken in diesem Text versteckt.

Ach, und Andrea - mal Hand aufs Herz - hättest du ohne mein P.S. meine andere Geschichte kommentiert?
 

Andrea

Mitglied
Hand aufs Herz

Ja. Weil ich sie nämlich vorher gelesen und vorher kommentiert hatte...
(Man achte auch auf Uhrzeiten.. ;) )
 



 
Oben Unten