Im Zweifel der Nacht

MIO

Mitglied
Am Rande des Wahnsinns

„Was für ein scheiß Spiel ist das hier“, fluchte Wolf seltsam verstimmt vor sich hin, als er über die kieselgrauen Pflastersteine ging und vor ihm drei Jugendliche brutal aufeinander einprügelten. Als er im Hintergrund die Polizeisirene hörte, ging er schnell weiter. Mühsam versuchte er ein Bild dieses Tages aus seinem Kopf zu löschen. Den verfaulten Körper, der wochenlang in der Badewanne lag.
Am Bahnsteig angekommen, schrieb er eine SMS an seine Frau;
„Bin in einer halben Stunde …“.
Sein von links einfahrender Zug unterbrach ihn. Über den Handyrand sah Wolf, wie ein Umschlag zu Boden fiel. Er sah wie die Füße des Mannes, der dicht neben ihm stand, nach vorn traten … Geistesgegenwärtig ließ er das Handy fallen und packte ihn bei der Schulter. Der Mann riss sich los und sprang. Ein grelles Quietschen. Ein qualvoller Schrei. Gespenstische Stille. Der Bahnhofstrubel schluckte seinen eigenen Atem und kotzte ihn erbarmungslos wieder aus.

Sirenengeheul. Wolf zeigte seinen Ausweis. Einer der Polizisten reichte ihm Brieftasche und Schlüssel des Opfers. Nun würde Wolf das tun was er immer tat. Zur Dienstelle fahren. Die Angehörigen benachrichtigen und das Ergebnis seiner Ermittlungen zu Protokoll geben. An der Todesursache gab es keinen Zweifel. Ein fünfter Selbstmord in dieser Woche. Wolf warf noch einen Blick auf die Gleise.
Wie eine hingeworfene Kasperpuppe, lag der Tote vor dem Zug.

In seinem Büro schaltete er den Computer ein und zog den Ausweis aus der Brieftasche. Prof. Dr. Heinrich Fernau war
Leiter des Forschungsinstitutes für künstliche Intelligenz. Er hatte eine Schwester. Friederike Fernau.

Wolf hatte sich mit Friederike Fernau vor dem Eigenheim ihres Bruders verabredet. Er reichte ihr die Hand:
„Was ist mit meinem Bruder?“, fragte sie mit bebender Stimme. Wolf hasste diese Augenblicke. Er hustete kurz:
„Er ist tot. Er hat sich heute Vormittag vor den Zug geworfen. Es tut mir leid.“
Friederike Fernau wurde bleich und griff nach dem Geländer.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, ja geht schon. Mir ist nur ein bisschen schwindlig.“
„Haben Sie eine Ahnung warum er das getan hat?“
„Nein, wir haben seit Jahren keinen Kontakt. Mein Bruder
lebte sehr zurückgezogen.“
Wolf schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
„Würden Sie mich hinein begleiten?“
„Ja, natürlich. Das Haus war die Festung meines Bruders. Hier ließ er niemanden rein.“
Es roch modrig, nach Schimmel und kaltem Rauch. Bedrucktes Papier stapelte sich im Wohnzimmer. Friederike Fernau sagte: „Heinrich konnte sich schon als Kind schwer von etwas trennen. Er hat den Tod unserer Mutter nicht verkraftet.“
„Was ist mit Ihrer Mutter passiert?“
„Sie hatte einen Reitunfall. Sechs Jahre saß sie im Rollstuhl. Sie starb, als er neun war.“
Wolf sah auf die Büchertürme, die bis unter die Decke reichten. Dazwischen, Kleidung, übervolle Aschenbecher und leere Dosen. Ein Trampelpfad führte in den nächsten Raum.
„Seine Sammelwut und sein Verfolgungswahn haben ihn einsam gemacht“, sagte Friederike Fernau mehr zu sich selbst.
Wolf hakte nach: „Verfolgungswahn?“
„Ja, bis vor zwei Jahren forschte er mit der neuesten Technik. Er fand einen Weg, das Gehirn mittels Computerchip zu steuern. Er bekam eine Auszeichnung nach der anderen. Dann von einem Tag auf den anderen igelte er sich hier ein.“ „Wofür war so ein Chip gut?“
„Für Querschnittsgelähmte. Der Chip wird unter die Haut gepflanzt. Er stimuliert das Gehirn. Die Impulse werden weitergeleitet und der Körper bewegt sich wieder. Heinrich ist“ … Sie schluckte und hielt kurz inne. „Heinrich ist so stolz gewesen. Leider aber auch am Rande des Wahnsinns.“

Sie kamen in den Keller. Die Regale an den Wänden waren gefüllt mit Dosen und Flaschen. Whisky, Doppelkorn …
„Hat ihr Bruder getrunken?“
„Nein, den Alkohol hat er zum Tauschen gelagert. Er glaubte, dass unser System kurz vor einem Kollaps steht. Er wollte vorbereitet sein, wenn die Wirtschaft zusammenbricht.“
Sie gingen nach oben und Wolf verabschiedete sich von Frau Fernau, dann sah er sich noch einmal in der Wohnung um. Auf einem der Bücherstapel fand er einen Briefumschlg. Er öffnete ihn und las.

Ich kann mit meiner Schuld nicht leben. Die Gier hat bisher jede Erfindung missbraucht, aber meine wird die schlimmsten Auswirkungen haben. Sie wird die Menschen in ferngesteuerte Konsumenten verwandeln. Weil wir die Zeit nicht zurück drehen können, müssen wir weiter denken, viel weiter …

"Am Rande des Wahnsinns", murmelte Wolf vor sich hin und genau diese vier Worte murmelte er wieder, als er drei Wochen später seinen sechsjährigen Sohn in den Fernseher stieren sah, wo gerade zwei Jugendliche erklärten, wie cool es war, einen Chip unter der Haut am Handgelenk zu tragen.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo MIO,

eine gut erzählte Geschichte, aber für mich etwas zu moralisierend.
Die Probleme, die sich durch solche Chips ergeben, werden nur vermutet, nicht auserzählt.

Du könntest die Geschichte weiterführen und dabei den Sohn in das Zentrum stellen. Wolf würde dadurch hautnah die Auswirkungen eines solchen Chips erleben.

Außerdem erwartet man nach der Benennung von fünf Selbstmorden, dass dieses Detail später eine Bedeutung erhält.

Also gutes Material für eine sozialkritische SF-Story.

cu
lap
 

MIO

Mitglied
Danke für den Feedback. Ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken, die Geschichte noch auszubauen.
LG
 



 
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