In der Hitze des Mittags

Ich sitze auf dem großem Platz vor der Kirche und genieße die Ruhe - zerrissen nur durch das Geräusch eines rollenden Koffers auf den Pflastersteinen, die den Schotterbelag der Platzmitte umrunden. Die flimmernde Hitze schmiegt sich zwischen alte Kastanienbäume. Die Blätter rascheln in kaum spürbarer Luftbewegung. Hier und da liegen Menschen auf grünen Parkbänken, den Kopf auf einer zu einem Kissen zusammengerollten Jacke und halten die Augen geschlossen. Manch einer mag schlafen, andere denken an den vergangenen Abend und wieder andere planen den Nachmittag.
Ich sitze auf einer dieser Bänke und beobachte die Szenerie. Den ganzen Vormittag bin ich durch die Stadt gelaufen. Durch überfüllte Fußgängerzonen, über laute Märkte und stille Museen. Die Flut der Eindrücke ließ von Minute zu Minute das Bedürfnis wachsen, mich bald an reizärmere Orte zurückzuziehen. Und nun also sitze ich hier. Gerne würde ich noch ein wenig nachdenken und die Erlebnisse des Vormittags sortieren – den Wahrnehmungen einen Sinn verleihen. Doch meine Augen und mein Verstand sind der aufkommenden Müdigkeit nicht gewachsen. Warum kämpfen? Sich ergeben in den natürlichen Gang der Dinge scheint mir da der sinnvollere Weg. Meine Augen brauche ich nicht zu schließen – sie fallen einfach zu.

Traumfetzen, unterbrochen von der fragmentarischen Wahrnehmung meiner Umgebung, martern meine Seele. Keine Erholung, kein sanftes Schlummern mit der Aussicht auf Frische und sinnigere Wahrnehmung der Welt.
Stattdessen beschleichen mich Ängste, geboren aus dem Übergang zwischen Schlaf und Wachheit und der Gefahr des Verlustes jeglicher Kontrolle.
Nach genau neunmaligem Abnicken des Kopfes zur rechten Schulter hin, beschließe ich, diese Quälerei zu beenden und mich auf eine nahegelegene Wiese zurückzuziehen.

Ich vermute, dass es ihre gesamte Haltung war, die mich so anzog. Es entstand ein Sog, dem ich nur mit Mühe entgegensteuern konnte. Aber wollte ich das überhaupt?
Ihre halblangen braunen Haare bewegten sich im Wind, ihr wohlgeformten Brüste waren unter ihrem T-Shirt deutlich zu erkennen - und zu allem Überfluss: die leuchtenden Augen ihres braunen, weichen Gesichts lachten mich an.
Ich zögerte. Sie saß bereits auf diesem grünen Teppich, übersät mit neugeborenen Gänseblümchen – ich stand noch da. Unschlüssig! Wie so oft in meinem Leben, wenn Erfüllungen greifbar nahe waren.
Meine Müdigkeit kämpfte mit meiner Lust – mehrere Sekunden lang. Und doch war bereits in der ersten Sekunde klar, wie es weitergehen würde, wie es weitergehen musste: ich war einfach zu müde...... Sie hatte gesiegt – die Erschöpfung! Ein ereignisreicher Vormittag lag hinter mir und in diesem Zustand war ich sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen. Nicht zum Reden, geschweige denn zu einem Flirt. Außerdem hatte sie ja auch die Möglichkeit zu mir zu kommen. Wieso immer ich? Warum sollte ich immer alles beginnen? Das war doch immer so.... „Nein, sei still“, sagte ich leise zu mir selbst, „denke nicht immer über dein halbes Leben nach aufgrund von Banalitäten.“
„Wieso immer ich?“ Diese Frage bohrte einfach weiter. Wie oft hatte ich diesen Satz von meiner Mutter gehört. Immer dann, wenn mein Vater Forderungen an sie stellte, denen sie nicht nachkommen wollte. Und nun hatte ich ihn gebraucht. Ich erschrak. Das konnte ich nicht so stehen lassen. Schließlich unterschied ich mich in grundsätzlicher Hinsicht von meiner Mutter. Genau genommen hatten wir nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander. Weder im Aussehen noch im Verhalten, schon gar nicht im Gefühlsbereich.............. Weiter kamen meine Gedanken nicht, denn von tief aus meiner Brust schlich sich dieses mir nur allzu gut bekannte Gefühl von Unstimmigkeit ein. „Denk ein andermal darüber nach, nicht jetzt“, sagte ich zu mir. „Das ist das Blödeste, was du in dieser Situation tun kannst: rumzustehen und den Denker zu spielen!“

Also entledigte ich mich meiner Schuhe, warf sie neben den Platz, den ich mir zum Liegen auserkoren hatte, warf meine Strümpfe hinterher und ließ meinen Körper langsam sinken – die verblühten Reste einiger Gänseblümchen auf der einen und zwei kleine Schlüsselblumen auf der andern Seite.
Diese Geste des Strümpfewerfens schien ihr imponiert zu haben. Aber vielleicht war ja auch wirklich ich gemeint. Wie dem auch sei: Plötzlich stand sie neben mir und schaute auf mich herab. Bei der ersten Silbe ihres ersten Wortes öffnete ich erschrocken die Augen. „Kennen wir uns von irgendwo her?“ In Sekundenbruchteilen hatte ich mich gefasst. „Plumpe Anmache!“, ging es mir durch den Kopf. Ehrlich verneinte ich ihre Frage und in ihren Augen blitzte für einen kurzen Moment Enttäuschung auf. Zumindest bildete ich mir das ein. Aber vielleicht war ja auch nur ich enttäuscht. Enttäuscht von mir selbst – wie konnte ich nur eine so blöde Antwort geben. Sofort wurde ich mir meines Fehlers bewusst. Ich stammelte etwas von „... vielleicht ja doch ...“ und „... wer weiß wo ....“ vor mich hin. Doch damit war ich wohl recht unverständlich, denn in ihrem Gesicht bogen sich die Fragezeichen. Schließlich kam mir der rettende Gedanke oder besser gesagt: die rettenden Worte sprudelten aus meinem Mund – denn gedanklich war nicht mehr viel aus mir herauszuholen. Ob ich sie zu einem Cappuccino einladen dürfe, fragte ich. Denn wenn wir uns schon nicht kennen würden, wäre dies ja die beste Chance uns kennenzulernen.

Als ich die Tür des Cafés öffnete, spielten sie gerade Diana Krall’s „The Look Of Love“. Fest davon überzeugt, dass es sich hier nie und nimmer um einen Zufall handeln könnte, huschte ein Grinsen über meine Lippen. Wir setzten uns an einen der runden Tische mit einer brennenden Kerze in der Mitte. Die Zeitschrift, die unsere Vorgängerin zurückgelassen hatte, fragte uns, ob wir heute schon geküsst hätten. Auch unsere Kleidung wurde bemängelt und fürs Abendessen schlug sie uns vor, mal wieder Steaks zu grillen. Spätestens an dieser Stelle wurde mir bewusst, dass das Schicksal doch kein Arrangement für uns getroffen hatte: Ich bin Vegetarier und vertrete schlichtweg den Standpunkt, dass es bessere Dinge zu essen gibt als tote Tiere. Ich konnte nicht umhin, dies sofort und klar zu äußern. Und so hatten wir denn auch gleich ein Gesprächsthema. Mein Gegenüber äußerte dabei ebenso klar, dass es fleischlichen Genüssen überhaupt nicht abgeneigt sei. „Auch nicht im zwischenmenschlichen Bereich“, fügte sie grinsend hinzu. Ich nehme an, ich wurde rot. Jedenfalls brach sie in schallendes Gelächter aus, was die anderen anwesenden Gäste dazu brachte, ihren Kopf zu uns hin zu drehen. Peinlichkeiten kannte sie nicht und ich frage mich heute noch, wie die Geschichte weitergegangen wäre, wäre nicht plötzlich die Tür aufgegangen und eine gut aussehende Frau, ungefähr Mitte dreißig, mit schulterlangen blonden Haaren den Raum betreten hätte.
Meine Begleiterin und sie schienen sich zu kennen. Herzlich war die Begrüßung und ich spürte sofort, dass ich von nun an keine bedeutende Rolle mehr spielen würde. Mehr als kurze Blicke in einem Gespräch, das ausschließlich zwischen den beiden stattfand (und mich – so sei ehrlicherweise gesagt – auch überhaupt nicht interessierte) erntete ich nicht. Selbst diese kurzen Blicke galten nicht mir. Zufällig trafen sie mich, wie man im konzentrierten Gespräch mal dahin und dorthin schaut, der Blick vielleicht eine Stuhllehne trifft, eine Kaffeetasse oder auch eine gerade am Tisch vorbeigehende Person. Ich versank in die Bedeutungslosigkeit.
Wie wäre er wohl gewesen – ein Kuss von ihr? Wäre da nicht der Gedanke gewesen, dass man mir beim Denken zuschauen würde, was ich absolut nicht ertragen kann – da könnte ja einer meine Gedanken erraten – ich hätte mir eine solche Situation in allen Feinheiten vorgestellt. Ich ließ es bleiben. Stattdessen schob sich jetzt mehr und mehr der Gedanke in mein Hirn, wie dieser Situation wohl am galantesten zu entkommen wäre.

Ich stehe auf. „Noch einiges zu besorgen“, antworte ich auf die erwartete Warum-Frage. Es scheint mir, dass meine Antwort keine so recht interessiert. Eine zurückhaltende Handbewegung, ein kurzer Blick, und schon finde ich mich auf der Straße wieder.
Dieser letzte Blick! Da war es wieder – dieses Gefühl: Das passt zwischen uns, da ist ein Band spürbar, da schwingt etwas. Ich nehme Kurs auf die Wiese, breite mich der Länge nach aus, lege meine Jacke unter den Kopf und atme tief durch. Es war schon richtig, was ich ihr sagte: Ich habe noch einiges zu besorgen. Gleich werde ich mich aufmachen. Aber zuerst einmal ...
Die Sonne strahlt in mein Gesicht. Ich fühle mich spürbar erleichtert und wundere mich darüber. Beim Einschlafen denke ich an meine Mutter ...
 



 
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