anbas
Mitglied
In der Wand
Durch das neben dem Waschbecken hängende Handtuch steige ich in die Wand hinein. Ich brauche es nur leicht gegen die Fliesen zu drücken, und schon löse ich mich in meine Atome auf, um dann sogleich regelrecht in das Mauerwerk hineingezogen zu werden. Mir bereitet dies immer wieder große Freude. Außer diesem Handtuch, das ich im Darknet erworben habe, benötige ich keine weiteren Hilfsmittel zum Einsteigen wie auch für das spätere Verlassen.
Es ist wieder einmal Zeit für meinen Kontrollgang. Zunächst überprüfe ich die Fliesen des Badezimmers und bin beruhigt, sie sitzen alle noch fest. Hier und da sind kleine Risse in den Fugen, doch das ist nicht so schlimm. Um die können wir uns in nächster Zeit mal kümmern.
Geschmeidig gleite ich in der Wand weiter. Nun geht es ins Wohnzimmer. Die Tapeten zeigen keinerlei Ablösungserscheinungen.
Im Schlafzimmer ist ebenfalls alles in Ordnung. Hier gilt mein Hauptaugenmerk der Wand hinter dem riesigen Kleiderschrank. In der letzten Wohnung hatte sich dort Feuchtigkeit gesammelt, es kam zur Schimmelbildung. Angeblich hätten wir nicht gut genug gelüftet. Diese Behauptung unseres Vermieters war natürlich kompletter Unsinn, und wir haben den Prozess auch gewonnen, aber waren mit den Nerven am Ende. Das wird uns hier in der neuen Wohnung nicht mehr passieren. Ich habe darauf bestanden, dass wir von Anfang an jeden Tag ein Lüftungsprotokoll führen. So können wir dann im Ernstfall zweifelsfrei beweisen, dass wir immer gut gelüftet haben.
Fast hätte ich die Küche vergessen. Auf dem Weg dorthin begutachte ich im Flur die Stelle, an der wir neulich das Regal angedübelt haben. Du hast wirklich akkurat gearbeitet – die Bohrlöcher sind absolut sauber gesetzt. Hier von der Innenseite der Wand aus, kann man die Schönheit deiner Arbeit erst so richtig erkennen. Ich bin wirklich stolz auf dich.
In der Küche stelle ich fest, dass der kleine Schaden neben dem Türrahmen noch nicht behoben wurde. Ich meine die Stelle, an der etwas Putz abgefallen ist, als du bei unserem letzten Streit wutentbrannt die Tür zugeschlagen hast. Das Tageslicht, das durch den Spalt in die Wand dringt, blendet mich ein wenig.
Wie so oft hatten wir uns nach dem Streit schnell wieder versöhnt. Doch diesmal entbrannte sofort der nächste Krach, als wir die schadhafte Stelle neben der Küchentür entdeckten. Ich war mir nämlich sicher, dass der Putz abgefallen war, weil du die Tür so heftig zugeschlagen hattest. Du knallst immer mit den Türen, wenn du sauer bist. Daher war es nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem größeren Schaden kommen würde. Aber du wolltest das ja nie einsehen. Jetzt haben wir den Ärger.
Du behauptetest dagegen, dass der Putz an der Stelle schon seit unserem Einzug vor acht Monaten locker gewesen wäre, und ich hätte das längst reparieren sollen. Aber du hast mir nie etwas von der Stelle erzählt, und auf meinen Kontrollgängen habe ich nichts davon gesehen. Natürlich hätte ich das sonst sofort in Ordnung gebracht.
Nun schmollst du. Sagst, ich würde dir immer an allem die Schuld geben. Doch das stimmt nicht! Das angebohrte Kabel in der Wohnzimmerdecke, dort, wo ich die Lampe anbringen wollte, geht absolut auf meine Kappe. Ich hätte damals neben der Wand eben auch die Decke von innen begutachten sollen. Doch im Gegensatz zu dir stehe ich zu meinen Fehlern und lerne aus solchen Vorfällen. Seit diesem Malheur kontrolliere ich regelmäßig auch die Zimmerdecken und sogar die Fußböden. So habe ich schon mehrfach Ungeziefer aufgespürt, das sich dort in irgendwelchen Spalten verkrochen hatte.
Ich denke, wir sollten uns möglichst bald mal in Ruhe aussprechen. Aber jetzt setze ich erstmal meinen Kontrollgang weiter fort. Ich will mir noch die Außenwände ansehen. Obwohl das Haus recht alt ist, gibt es an der Bausubstanz nichts auszusetzen – aber sicher ist sicher.
Am liebsten würde ich jetzt noch kurz bei den Nachbarn durch die Wände gehen und mich dort etwas umschauen. Aber ich habe dir versprechen müssen, das nicht mehr zu tun. Und meine Versprechen halte ich – auch, wenn es mir schwerfällt. Schließlich können sich dort auch Schäden befinden, die sich irgendwann auf unsere Wohnung auswirken. Wie gesagt: Sicher ist sicher.
Noch einmal husche ich schnell durch alle Wände unserer Wohnung und kontrolliere überall die dort unter Putz verlegten Kabel und Rohre. Sie sind alle intakt. Auch die Anschlussstellen an den Steckdosen, den Lichtschaltern und dem Sicherungskasten weisen keine Schäden auf.
Nun mache ich mich auf den Rückweg ins Bad, um dort wieder durch das Handtuch aus der Wand herauszusteigen. Unterwegs entdecke ich im Flur einen Nagel, der sich gelockert hat. Es ist der, an dem eines unser Hochzeitsfotos hängt, die du überall in der Wohnung verteilt hast. Noch besteht keine Gefahr, dass das Bild in Kürze herunterfällt, aber wir sollten die Stelle im Blick behalten und bei Gelegenheit direkt daneben einen neuen Nagel einschlagen.
Jetzt bin ich im Bad angekommen und stelle fest, dass das Handtuch verschwunden ist. Durch einen kleinen Spalt in einer der Fugen sehe ich, wie du es in der Hand hältst und mit einem merkwürdigen Lächeln zu mir herüberschaust. Du weißt, dass ich hier bin und dich sehe.
Dein Lächeln wird zu einer böse-grinsenden Fratze. Dann hängst du das Handtuch über die Halterung neben dem Waschbecken. Ich hatte mich schon gewundert, warum ich die dort anbringen sollte. Nun entfernst du sogar den Haken, an dem es bis eben noch hing.
Du weißt doch, dass ich das Handtuch benötige, um wieder aus der Wand herauszukommen. – Sag mal, bist du immer noch sauer auf mich?
Durch das neben dem Waschbecken hängende Handtuch steige ich in die Wand hinein. Ich brauche es nur leicht gegen die Fliesen zu drücken, und schon löse ich mich in meine Atome auf, um dann sogleich regelrecht in das Mauerwerk hineingezogen zu werden. Mir bereitet dies immer wieder große Freude. Außer diesem Handtuch, das ich im Darknet erworben habe, benötige ich keine weiteren Hilfsmittel zum Einsteigen wie auch für das spätere Verlassen.
Es ist wieder einmal Zeit für meinen Kontrollgang. Zunächst überprüfe ich die Fliesen des Badezimmers und bin beruhigt, sie sitzen alle noch fest. Hier und da sind kleine Risse in den Fugen, doch das ist nicht so schlimm. Um die können wir uns in nächster Zeit mal kümmern.
Geschmeidig gleite ich in der Wand weiter. Nun geht es ins Wohnzimmer. Die Tapeten zeigen keinerlei Ablösungserscheinungen.
Im Schlafzimmer ist ebenfalls alles in Ordnung. Hier gilt mein Hauptaugenmerk der Wand hinter dem riesigen Kleiderschrank. In der letzten Wohnung hatte sich dort Feuchtigkeit gesammelt, es kam zur Schimmelbildung. Angeblich hätten wir nicht gut genug gelüftet. Diese Behauptung unseres Vermieters war natürlich kompletter Unsinn, und wir haben den Prozess auch gewonnen, aber waren mit den Nerven am Ende. Das wird uns hier in der neuen Wohnung nicht mehr passieren. Ich habe darauf bestanden, dass wir von Anfang an jeden Tag ein Lüftungsprotokoll führen. So können wir dann im Ernstfall zweifelsfrei beweisen, dass wir immer gut gelüftet haben.
Fast hätte ich die Küche vergessen. Auf dem Weg dorthin begutachte ich im Flur die Stelle, an der wir neulich das Regal angedübelt haben. Du hast wirklich akkurat gearbeitet – die Bohrlöcher sind absolut sauber gesetzt. Hier von der Innenseite der Wand aus, kann man die Schönheit deiner Arbeit erst so richtig erkennen. Ich bin wirklich stolz auf dich.
In der Küche stelle ich fest, dass der kleine Schaden neben dem Türrahmen noch nicht behoben wurde. Ich meine die Stelle, an der etwas Putz abgefallen ist, als du bei unserem letzten Streit wutentbrannt die Tür zugeschlagen hast. Das Tageslicht, das durch den Spalt in die Wand dringt, blendet mich ein wenig.
Wie so oft hatten wir uns nach dem Streit schnell wieder versöhnt. Doch diesmal entbrannte sofort der nächste Krach, als wir die schadhafte Stelle neben der Küchentür entdeckten. Ich war mir nämlich sicher, dass der Putz abgefallen war, weil du die Tür so heftig zugeschlagen hattest. Du knallst immer mit den Türen, wenn du sauer bist. Daher war es nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem größeren Schaden kommen würde. Aber du wolltest das ja nie einsehen. Jetzt haben wir den Ärger.
Du behauptetest dagegen, dass der Putz an der Stelle schon seit unserem Einzug vor acht Monaten locker gewesen wäre, und ich hätte das längst reparieren sollen. Aber du hast mir nie etwas von der Stelle erzählt, und auf meinen Kontrollgängen habe ich nichts davon gesehen. Natürlich hätte ich das sonst sofort in Ordnung gebracht.
Nun schmollst du. Sagst, ich würde dir immer an allem die Schuld geben. Doch das stimmt nicht! Das angebohrte Kabel in der Wohnzimmerdecke, dort, wo ich die Lampe anbringen wollte, geht absolut auf meine Kappe. Ich hätte damals neben der Wand eben auch die Decke von innen begutachten sollen. Doch im Gegensatz zu dir stehe ich zu meinen Fehlern und lerne aus solchen Vorfällen. Seit diesem Malheur kontrolliere ich regelmäßig auch die Zimmerdecken und sogar die Fußböden. So habe ich schon mehrfach Ungeziefer aufgespürt, das sich dort in irgendwelchen Spalten verkrochen hatte.
Ich denke, wir sollten uns möglichst bald mal in Ruhe aussprechen. Aber jetzt setze ich erstmal meinen Kontrollgang weiter fort. Ich will mir noch die Außenwände ansehen. Obwohl das Haus recht alt ist, gibt es an der Bausubstanz nichts auszusetzen – aber sicher ist sicher.
Am liebsten würde ich jetzt noch kurz bei den Nachbarn durch die Wände gehen und mich dort etwas umschauen. Aber ich habe dir versprechen müssen, das nicht mehr zu tun. Und meine Versprechen halte ich – auch, wenn es mir schwerfällt. Schließlich können sich dort auch Schäden befinden, die sich irgendwann auf unsere Wohnung auswirken. Wie gesagt: Sicher ist sicher.
Noch einmal husche ich schnell durch alle Wände unserer Wohnung und kontrolliere überall die dort unter Putz verlegten Kabel und Rohre. Sie sind alle intakt. Auch die Anschlussstellen an den Steckdosen, den Lichtschaltern und dem Sicherungskasten weisen keine Schäden auf.
Nun mache ich mich auf den Rückweg ins Bad, um dort wieder durch das Handtuch aus der Wand herauszusteigen. Unterwegs entdecke ich im Flur einen Nagel, der sich gelockert hat. Es ist der, an dem eines unser Hochzeitsfotos hängt, die du überall in der Wohnung verteilt hast. Noch besteht keine Gefahr, dass das Bild in Kürze herunterfällt, aber wir sollten die Stelle im Blick behalten und bei Gelegenheit direkt daneben einen neuen Nagel einschlagen.
Jetzt bin ich im Bad angekommen und stelle fest, dass das Handtuch verschwunden ist. Durch einen kleinen Spalt in einer der Fugen sehe ich, wie du es in der Hand hältst und mit einem merkwürdigen Lächeln zu mir herüberschaust. Du weißt, dass ich hier bin und dich sehe.
Dein Lächeln wird zu einer böse-grinsenden Fratze. Dann hängst du das Handtuch über die Halterung neben dem Waschbecken. Ich hatte mich schon gewundert, warum ich die dort anbringen sollte. Nun entfernst du sogar den Haken, an dem es bis eben noch hing.
Du weißt doch, dass ich das Handtuch benötige, um wieder aus der Wand herauszukommen. – Sag mal, bist du immer noch sauer auf mich?