In eigener Mission auf See
6. Teil
49
Endlich empfing Falko das Signal des kleinen Senders, den Steffen auf einer der für sie abgelegten Flaschen angebracht hatte. Schnell richtete er seine Peilung darauf aus. Dabei musste er feststellen, dass sie bereits zu weit getaucht waren. Denn die dringend von ihnen benötigten Pressluftflaschen befanden sich weiter nördlich. So mussten sie ihren Kurs ändern und erneut gegen die Strömung ankämpfen. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie ihr Ziel, ließen sich auf den Meeresgrund sinken und tauschten ihre fast leeren gegen die neuen vollen Flaschen. Jens befestigte den kleinen Sender an den leeren Stahlflaschen, um sie wieder einsammeln zu können, wenn der Einsatz vorüber war und sie Zeit dafür hatten.6. Teil
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Um sich nach dem Wechsel neu zu orientieren, tauchte Claus langsam auf und steckte seinen Kopf nur so weit aus dem Wasser, dass er die Positionslichter der Blue Sea erkennen konnte. Er sah auf seinen Kompass, stellte ihn neu ein, kehrte zu seinen Kameraden, die auf dem Meeresgrund auf ihn warteten, zurück und gab die neue Richtung an. Sie machten sich sofort wieder auf den Weg zum Forschungsschiff, um den Freunden schnellstmöglich helfen zu können, die womöglich in diesem Augenblick versuchten, unauffällig an Bord zu gelangen. Sie mussten sich beeilen.
Nach dreiunddreißig Minuten kam die erste Gruppe zur vereinbarten Stelle zurück. Mit sicherem Griff hielten sie sich an der Ankerkette fest und ließen sich gewissermaßen in der Strömung hängen, um Kraft und Luft zu sparen. Wenig später traf die zweite Gruppe ein. Es fehlte nur noch die Dreiergruppe von Ralf, Rainer und Romana.
Als Steffen sich auf die Suche nach ihnen machen wollte, tauchten die drei am Schiffsrumpf auf und kamen zu den schon wartenden Freunden. Er fragte die anderen, wie viele Sprengladungen sie gefunden und mit den kleinen Leuchtstäbchen markiert hatten. Sie zählten zusammen fünf Stück.
Dabei versuchte Romana, mit Handzeichen etwas zu erklären.
Doch weder Steffen noch die anderen verstanden ihre Zeichen.
Gerade, als sie aufgeben wollte, tippte sie sich an den Kopf, als hätte sie eine Idee. Alle sahen ihr gespannt zu, wie sie in ihrer Jacketttasche zu wühlen begann, während Ralf sie hinten an ihrem Jackett festhielt, damit sie nicht von der leichten Strömung weggetrieben wurde.
Sie zog eine kleine Schreibtafel hervor, an der mit einem Faden ein Stift und Radiergummi befestigt waren, die im Wasser schwebten. Schnell griff sie nach dem Bleistift, schrieb ein paar Worte auf die Tafel und reichte sie Steffen, der las:
Unser Funk ist ausgefallen. Kann Euch nicht hören. Eine Ladung, die anders aussieht, direkt zwischen den Wellen der beiden Schiffsschrauben. Sie blinkt.
Steffen gab die Tafel an Pitt weiter, zeigte an Romana gewandt ein Okay-Zeichen und klatschte in die Hände, womit er ihr verständlich machen wollte, dass das mit der Schreibtafel eine gute Idee war.
Nacheinander testeten sie ihre Funkverbindungen zueinander. Dabei mussten sie feststellen, dass auch ihr Funk nicht mehr funktionierte.
Pitt schrieb auf die Rückseite, dass es sich um einen Störsender oder nur um eine Fehlfunktion handeln könnte. Was im Moment aber nicht so wichtig wäre. Er wolle sich lieber zuerst um die von Romana gefundene Ladung kümmern und dann nacheinander um die anderen. Dann reichte er Steffen die Tafel zurück.
Danach machte das Schreibutensil die Runde. Es wurde radiert, neu geschrieben, geantwortet und wieder radiert. Pitt war der Sprengstoffexperte, doch es würde zu lange dauern und seine Luft nicht reichen, bis er alle Sprengladungen allein entfernt oder entschärft hätte. Auch in den Kreislaufgeräten war ihr Luftvorrat begrenzt.
Kapitel 50
50
Luftblasen perlten inmitten der kleinen Gruppe, die sich an der Ankerkette festhielt, nach oben. Dann lösten sich drei Schatten aus dem Dunkel der Tiefe.
Es waren ihre Kameraden, die den langen Weg von der Basis bis hierher getaucht waren.
Steffen tippte mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auf die offene linke Handfläche, um so den Luftvorrat der Neuankömmlinge zu erfahren.
Diese sahen auf ihre Finimeter und hoben ihm die Faust entgegen.
Steffen nickte. Denn damit hatten sie ihm zu verstehen gegeben, dass alle drei nur noch 50 bar Luftreserve in ihren Flaschen hatten. Das würde nicht mehr lange reichen. Er zeigte seinen Freunden die Pressluftflaschen, die für sie an der Ankerkette hingen. Hielt sie jedoch zurück, als sie gerade ihre fast leeren Flaschen gegen die vollen austauschen wollten. Als sie ihn deshalb fragend ansahen, nutzte er die Tafel, die Romana ihm zuschob.
Haben Problem. Flaschenwechsel so spät wie möglich. Braucht jeden Atemzug.
Jens verdrehte wenig begeistert die Augen und reichte die Tafel an die anderen beiden weiter.
Pitt übernahm die Schreibtafel und erklärte mit wenigen darauf geschriebenen Worten die Situation.
Jens gab Handzeichen, dass sie weiter an den Schiffsrumpf ran mussten, damit die Luftblasen von ihm und seiner beiden Kameraden, die bei jedem Ausatmen nach oben perlten, sie nicht verrieten.
Nahe am Rumpf angekommen und somit geschützt vor ungewollter Entdeckung, nahm er die Schreibtafel an sich, radierte alles weg und schrieb in Eile beide Seiten der Tafel voll. Er aktivierte ein kleines Knicklicht, klemmte es dort, wo sonst der Stift gehalten wurde, an die Tafel, die nun von dem grünen Licht schwach illuminiert wurde und somit das Lesen erleichterte.
Einer nach dem anderen las die schnell niedergeschriebenen Zeilen, die Pitt zuletzt erreichten. Nachdem auch er den Vorschlag zu dem neuen Plan gelesen hatte, überlegte er kurz und gab schließlich sein Okay-Zeichen.
Um nicht mehr Luftblasen als nötig an einer Stelle aufsteigen zu lassen, tauchten Jens, Claus und Falko, gefolgt von Thomas und Uwe zurück zur Ankerkette. Letztere halfen den Freunden, die nun gänzlich leeren Pressluftflaschen gegen die Vollen zu tauschen.
Mit frischer Atemluft versorgt tauchten Pitt, Steffen, Jens und Thomas gemeinsam zu der Sprengladung, die sie zuerst entdeckt hatten.
Steffen setzte sich über die Männer, nahm seine Unterwasserlampe zur Hand und leuchtete so nahe wie möglich den kleinen Sprengstoffsatz an, wobei sein Körper den Lichtschein der Lampe nach oben bestmöglich verdeckte.
Pitt zog sein Spezialwerkzeug aus der Tasche und reichte es Thomas, damit er es für ihn hielt, und begann mit seiner Arbeit.
Er besah sich die Sprengladung von allen Seiten. Dabei entdeckte er einen dünnen isolierten Draht, der wie eine kleine Antenne aus dem ansonsten wasserdichten Gehäuse herausragte.
„Wäre doch zu schön gewesen, wenn ich die Dinger hätte einfach nur abziehen und einsammeln brauchen. Aber nein, warum einfach, wenn es auch komplizierter geht“, murmelte er, wenig begeistert, in seine Maske, was nur er hören konnte, da der Funk gestört war. Also zeigte er seinen Freunden durch Handzeichen an, dass er sich erst die anderen Sprengladungen ansehen müsse, bevor er seine Vorgehensweise festlegen konnte. Nacheinander besah er sich nun auch noch die anderen fünf und kam zum selben, nicht zufriedenstellenden Ergebnis. Er konnte bei diesen fünf Haftminen unter Wasser nichts ausrichten.
So wie es aussieht, werden die Dinger über einen Impuls unter Wasser gezündet, überlegte Pitt und weiter: Nur glaube ich nicht, dass dafür einer der Kerle extra baden gehen würde, um die Sprengung auszulösen, wenn sie es eilig hätten und verduften wollten. Nein, er nahm nicht an, dass einer so dumm wäre und sich dieser Gefahr freiwillig aussetzen würde. Es musste noch einen zweiten Mechanismus geben.
Es stellte sich für ihn die Frage, ob das von Romana entdeckte Gerät ihm bei der Lösung weiterhelfen könnte. Dafür müsste er es sich aber erst einmal ansehen.
Gemeinsam tauchten die Männer zum Heck des Forschungsschiffes und hofften, dass nicht gerade die Schiffsschrauben anliefen, während sie sich dort aufhielten.
So wie von Romana beschrieben fanden die Männer schnell den eher unscheinbaren Kasten, Marke Eigenbau, mit den fünf Leuchtdioden.
Wieder setzte sich Steffen von der Gruppe ab und schwebte über ihnen, um mit seinem Körper das Licht der Unterwasserlampe, so gut es möglich war, abzuschirmen.
Pitt richtete zusätzlich den Strahl seiner kleinen Stablampe direkt auf den Kasten unbekannter Bauart und besah sich zuerst die Ränder, um sich ein genaues Bild von dem Gerät und dessen Funktionsweise machen zu können. Dabei fiel ihm ein dünner, isolierter Draht auf, der entgegen wie bei den anderen Minen, direkt von dem Gehäuse aus weiter auf der Außenhaut des Schiffsrumpfes befestigt bis hoch zur Wasseroberfläche führte.
Erwischt. Ein verschmitztes Lächeln zog über Pitts Gesicht. Damit hatte er die Lösung gefunden, die er brauchte.
Schnell gab er den Freunden durch Handzeichen zu verstehen, dass sie an den fünf anderen Haftminen zuerst die Antennen, knapp über den Gehäusen, vorsichtig kappen sollten, bevor er sich diesem Gerät hier widmen könne.
Sofort zogen Jens, Thomas und Steffen mit kleinen Zangen los.
Nacheinander erloschen auf dem Gerät vor Pitt die Leuchtdioden. Jetzt konnte er sich seinerseits daran machen, den dünnen Draht durchzuschneiden, sodass kein Signal mehr an diese und die fünf Minen weitergeleitet werden konnte. Sie tauchten zurück zu einer der anderen Haftminen. Vorsichtig hebelte er diese vom Schiffsrumpf, ohne dass der zweite Magnetkreislauf geschlossen und der darin befindliche Sprengsatz zur Explosion gebracht werden konnte.
Wieder zurück bei der Gruppe ließ er sich von Romana die kleine Schreibtafel geben und schrieb darauf, wie die anderen Haftminen vorsichtig vom Stahlrumpf des Schiffes entfernt werden konnten. Er drückte jedem eine Art Spachtel aus Plastik in die Hand und wünschte ihnen durch Zuwinken viel Glück.
Sofort machten sich alle, in den zuvor schon eingeteilten Gruppen, auf den Weg. Pitt selbst bildete dabei ein Buddyteam mit Steffen. Sie tauchten zu der größeren Hauptmine zurück, um auch diese zu entfernen.
Für die anderen vier wurde die zwischenzeitliche Untätigkeit fast zur Qual. Sie konnten nur warten, ihren Kameraden die Daumen drücken und hoffen, dass es keinen großen Knall geben würde.
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Sofort löste sich Ralf von der Ankerkette, wo er auf die Rückkehr der anderen wartete. Außer Romana verfügte nur er über ein geschlossenes Kreislaufgerät, das keine verräterischen Luftblasen entweichen ließ. Er tauchte durch den Kugelhagel zu dem schnell tiefer sinkenden Körper, bekam ihn am Kragen zu fassen und zog ihn in den toten Winkel nahe zum Schiffsrumpf. Dort war er von den herab hagelnden Geschossen sicher und tauchte von da aus mit seiner Beute zurück zu seinen Kameraden.
Claus und Falko kamen ihm schnell zu Hilfe. Claus steckte dem unbekannten Verletzten seinen Oktopus in den Mund, damit er atmen konnte. Nach einer Weile kam der Mann wieder zu sich, blickte voller Entsetzten in die mit Masken und Mundstücken verdeckten Gesichter der drei Taucher. Panisch und unkontrolliert begann er, um sich zu schlagen, um sich aus dem festen Griff zu befreien und wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen.
Die drei hatten ihre liebe Not, den Fremden zu beruhigen und unter Wasser zu halten. Doch langsam wurden seine Bewegungen schwächer und sie konnten mit ihm im Schlepp zu Romana zurücktauchen.
Die Ärztin schaute in das Gesicht des Mannes, den sie sofort als Lukas Reinmüller, den Funker der Blue Sea, erkannte. Schnell wühlte sie in den Taschen, die sie am Bleigurt mit sich führte, aber fand nichts, was sie zum Abbinden der stark blutenden Wunden verwenden könnte. Also versuchte sie, ihren Freunden durch Handzeichen klarzumachen, was sie benötigte.
Falko griff in seine Jacketttasche, in der er die restlichen Stricke hatte, die sie zum Verschnüren der Kerle auf der Basisstation verwendet hatten, und reichte sie ihr.
Provisorisch band sie die Wunden am Arm und Bein damit ab, während Claus seine Hand fest auf eine Verletzung am Rücken des Mannes presste. Romana zog eine Injektionsspritze aus ihrer Tasche, die eine bessere Blutgerinnung gewährleisten sollte, und gab sie dem Verletzten in die Armbeuge. Das war alles, was sie unter Wasser für den Mann tun konnte.
Nach einer Weile bemerkte sie, dass noch eine weitere Blutspur mit der Strömung weggetrieben wurde, diese jedoch nicht von dem verwundeten Funker stammen konnte. Angestrengt versuchte sie, die Spur zurückzuverfolgen.
Das Blut quoll förmlich am rechten Unterarm aus Ralfs Anzug, der an dieser Stelle zerfetzt war.
Schnell holte sie, ohne erst nachzudenken, ihr Tauchermesser hervor, schlitzte sich das linke Hosenbein ihres Anzuges der Länge nach auf, setzte das Messer erneut von unten an und machte einen weiteren Schnitt.
Die anderen schauten verwundert, verstanden weder was noch warum sie das tat. Romana hielt schließlich ein etwa zehn Zentimeter breites, langes Neoprenstück ihres Longjohn in der Hand. Sie tauchte zu Ralf und verband ihm damit die Wunde, die er wegen des hohen Adrenalinschubs in seinem Körper scheinbar selbst noch nicht bemerkt hatte. Dann drückte sie Falko das Messer in die Hand und forderte ihn auf, ihr das restliche Stück des nun lose in der Strömung wehenden Hosenbeins oberhalb ihres Oberschenkels abzutrennen. So entstanden feste Druckverbände für den schwer verletzten Funker.
Claus war heilfroh, denn ihm begann bereits die Hand zu verkrampfen, vom ständigen Druck auf die Wunde am Rücken des Mannes, den er nicht einmal kannte.
Nach einer Weile zeigte er an, dass nur wenig Luft in seiner Flasche blieb. Er forderte Falko auf, dem Verletzten seinen Oktopus zu reichen. Es dauerte etwas, bis sie das auch Lukas Reinmüller begreiflich machen konnten. Wobei dieser erneut panisch reagierte, weil er das Mundstück, das ihn atmen ließ, wieder hergeben sollte. Doch sobald er verstanden hatte, funktionierte der Wechsel ohne Schwierigkeiten.
In der Zwischenzeit hatten die anderen Taucher die vier Haftminen entfernt und kehrten mit ihrer Beute zum Treffpunkt an der Ankerkette zurück. Sie packten alle vorsichtig in eine Netztasche und sorgten dafür, dass sie sicher voneinander getrennt darin verstaut waren.
Jetzt fehlten nur noch Pitt und Steffen, die sich um den Sprengsatz an Achtern kümmern wollten.
Thomas sah auf seine Taucherarmbanduhr. Dreißig Minuten waren bereits vergangen, seitdem sie sich getrennt hatten. Er begann, sich Sorgen zu machen und zeigte den anderen per Handzeichen an, dass er zum Heck tauchen und nachschauen wolle. Rainer ließ sich die Schreibtafel von Romana geben und schloss sich Thomas an. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
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Eigentlich sollte auch die letzte Haftmine problemlos entfernt werden können. Steffen leuchtete wieder den Sprengkörper an und schirmte den Lichtkegel nach oben hin mit seinem Körper ab. Pitt begann, vorsichtig den Plastikspatel hinter dem Gehäuse zu platzieren, um den Kasten vom Schiffsrumpf abzuhebeln, als sich plötzlich ein Kontakt schloss und ein digitaler Zahlenblock aufleuchtete, dessen Ziffern schnell rückwärts zählten. Erschrocken sahen sich beide Männer an.
Pitt hoffte, dass bei den anderen nicht die gleichen Schwierigkeiten aufgetreten waren wie bei ihm jetzt. Denn so wie es aussah, war diese Mine zusätzlich an eine Art Zeitzünder gekoppelt, der sich nach dem Abtrennen der kleinen Antenne, durch einen Kurzschluss aktiviert hatte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit der Mine aufzutauchen, um sie an der Wasseroberfläche zu entschärfen.
Ganz dicht am Schiffsrumpf, sodass sie von Bord aus nicht entdeckt werden konnten, tauchten sie auf.
Während sich Pitt um den Sprengsatz kümmerte, sorgte Steffen dafür, dass sein Freund nicht von der stärkeren Oberflächenströmung mitgerissen werden konnte, sicher auf den Wellen schaukelte und dabei dicht an der Rumpfwand blieb.
Hoch konzentriert ging Pitt an die Arbeit.
Seine kleine, wasserdichte Stablampe, an die Seitenhalterung der Vollgesichtsmaske geklemmt, machte er sich vorsichtig daran und öffnete, Schraube für Schraube, bis er die Deckplatte entfernen konnte. Darauf achtend, dass nicht der kleinste Tropfen Wasser in das Gehäuse gelangen konnte, vertiefte er sich in die Schaltkreise des Zeitzünders, die diesen aktiviert hatten.
Laut den Ziffern auf dem Zahlenblock blieben ihm noch fünf Minuten und achtzehn Sekunden, bis ihm, seinen Freunden und all den Menschen an Bord des Schiffes, alles um die Ohren fliegen würde. Schweiß rann ihm hinter der Maske über die Stirn und lief über die Braue ins Auge. Unter Wasser konnte er sich nicht einfach den Schweiß von der Stirn wischen oder sich die Augen reiben. Also versuchte er, das Brennen durch Blinzeln zu mildern, was nur unzureichend gelang. Zudem begann das Glas seiner Tauchermaske zu beschlagen. Erst da wurde ihm bewusst, dass er die Maske, da er über Wasser war, einfach abnehmen konnte. Schnell schob er sie nach oben, atmete einmal erleichtert die frische Seeluft ein und wischte sich übers Gesicht. Die kleine Stablampe klemmte er sich nun zwischen die Zähne, um so das Gehäuse optimal ausleuchten zu können und trotzdem die Hände für seine Arbeit freizuhaben.
Er inspizierte nochmals akribisch alle Schaltkreise mit den daran befindlichen Relais. Ihm blieben noch drei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden bis zum großen Knall, den es zu verhindern galt.
In aller Ruhe zog er aus seiner kleinen Tasche feine Kunststoffblättchen, die er zwischen die einzelnen Relais steckte, um einen Kontakt zu vermeiden. Doch sie hielten nicht. Immer wieder rutschten sie heraus, schnippten im hohen Bogen weg und versanken im Wasser. Er musste sich die Mühe machen, jedes Blättchen zusätzlich zu knicken und so zu falten, dass sie dick genug waren, um zwischen den beiden Kontaktenden fest stecken zu bleiben.
Steffen bedauerte, ihm dabei nicht helfen zu können. Doch er hatte alle Hände voll zu tun, die Lampe auf den Zündmechanismus zu richten und Pitt festzuhalten. Denn sein Freund benötigte jede Sekunde, um den Sprengkörper zu entschärfen, und durfte keine wertvolle Zeit fürs eigene Tarieren oder Festhalten verschwenden.
Bei einer Minute und sieben Sekunden hatte Pitt alle Blättchen behutsam mit einer Pinzette an die entsprechenden Stellen platziert. Jetzt brauchte er noch kleine Klemmen, um Drähte miteinander zu verbinden und damit andere Relais zu überbrücken.
Seine Fingerkuppen waren vom langen Aufenthalt im Salzwasser schon so aufgeweicht und runzlig, dass es ihm schwerfiel, die winzigen Teile zu halten. Einige sackten schnell Richtung Meeresgrund.
Als er endlich den letzten Kontakt überbrückt und einen anderen getrennt hatte, blieben die rückwärts laufenden Zahlen bei den Ziffern 00:04 stehen und erlosch. Erleichtert ausatmend entfernte Pitt sicher den Zündmechanismus, der direkt neben der Zeitschaltuhr und dem Sprengsatz angebracht war.
Die Blicke der beiden sprachen Bände, als er den Zünder wie eine Trophäe zwischen den Fingern hochhielt. Pitt zog sich die Maske vors Gesicht und beide tauchten langsam wieder ab.
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In diesem Augenblick der Erleichterung kamen Thomas und Rainer schnell näher. Schon während sie auf die beiden zu tauchten, hatte Rainer etwas auf die Tafel geschrieben, die noch immer durch das grüne Knicklicht beleuchtet wurde, und reichte sie Steffen, der die kleine Unterwasserlampe gelöscht und sie Pitt zurückgegeben hatte.Er las:
Haben angeschossenen Gast. Ralf verletzt. Können nicht über Leiter. Müssen Gruppe splitten. Claus + Falko kaum noch Luft b.w.
Steffen wendete die Tafel und las weiter:
1 Gruppe zu Plattform. Müssen Verletzten an Deck helfen. Keine andere Option.
Steffen nickte seinen Kameraden zu und gab die Tafel an Pitt weiter.
Uns bleibt heute aber auch nichts erspart, dachte er, nachdem er die Nachricht gelesen hatte.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Bug des Schiffs.
Um keine Zeit zu verlieren, entwickelte Steffen bereits auf dem Weg dorthin einen Plan und nahm in Gedanken die Einteilung der einzelnen Mitglieder seiner Truppe vor.
Als sie bei dem Rest ihrer Gruppe ankamen, wechselten Falko und Jens gerade ihre Positionen. Der Verletzte bekam nun Jens‘ Oktopus in den Mund gesteckt, um weiteratmen zu können.
Mit Handzeichen stellte Steffen die neuen Gruppen zusammen.
Jens sollte mit dem Verwundeten, Romana, Ralf und Uwe zum Heck tauchen und dort warten, bis die beiden Leitern heruntergelassen wurden. Mit dem Rest der Männer würde er über die Jakobsleiter auf das Schiff klettern, um sich zur Taucherplattform durchzuschlagen.
Jens, Claus und Falko zogen einige Beutel von ihren Gürteln und reichten sie an ihre Freunde weiter. Mit einem eindeutigen Handzeichen signalisierten sie ihnen, dass sich darin je eine Schusswaffe mit einem zusätzlichen Magazin befand.
Schnell waren die wasserdicht verpackten Pistolen unter den Anzügen der Männer verstaut. Kurze Zeit später verschwand die Gruppe mit dem Verletzten in ihrer Mitte in Richtung Heck des Forschungsschiffs.
Die anderen tauchten an der Ankerkette etwas höher, leerten dort langsam die Luft aus ihren Jacketts, bis sie keinen Auftrieb mehr hatten. Zogen sich an der Kette bis auf drei Meter weiter nach oben. Während eines kurzen Stopps streiften sie rasch ihre Tarierwesten mit den Atemgeräten ab und befestigten sie mit Schlingen und Karabinern unterhalb der Wasserlinie an den starken Kettengliedern. Zuletzt öffneten sie ihre Bleigurte und hängten sie dazu.
Mit langen Schwimmzügen tauchten sie, dabei immer leicht ausatmend, ohne ihre Geräte in Richtung Schiffsbug auf und schwammen leise nahe am Rumpf entlang bis zum Fallreep, das gut einen Meter über ihren Köpfen endete.
Die Männer zogen die Waffen aus ihren Anzügen hervor, nahmen einen Zipfel des Beutels zwischen die Zähne und bissen fest darauf, um die Pistolen darin nicht zu verlieren, aber dennoch die Hände freizuhaben. Mit einem kräftigen Flossenschlag erreichte so einer nach dem anderen die unterste Sprosse der Jakobsleiter. Dort gaben sie ihre Flossen nach unten ab und ließen sie erst im Wasser los, sodass sie lautlos in die Tiefe sanken. Schnell kletterten sie weiter nach oben, um dem nächsten Platz zu machen.
Steffen schwang sich als Erster über die Reling, riss den Beutel auf, entnahm die Pistole und sicherte den Aufstieg seiner Freunde. Einer nach dem anderen sprangen sie leise an Deck und suchten sich sofort Deckung.
Sobald alle sechs Männer es geschafft hatten, holten sie ihre Headsets hervor, die sie in kleinen wasserdichten Tüten unter ihren Tauchanzügen verstaut hatten, setzten sie auf und führten einen schnellen Funkcheck durch. Routiniert kontrollierten sie die Waffen und machten sich auf den Weg zum Heck des Schiffes, wobei sie jeden dunklen Winkel für sich nutzten.
Plötzlich hob Steffen, als Zeichen der Warnung, die Faust.
Sofort zogen sich die Männer lautlos ins Dunkel zurück.
Der vom Mondlicht geworfene Schatten eines Menschen kroch auf sie zu. Es war deutlich zu erkennen, dass er eine Waffe geschultert trug.
„Rotmilan, dein Mann“, hörte Claus Steffens Stimme übers Headset flüstern.
Die Schritte kamen näher. Sie sahen im matten Licht des Mondes, wie die Gestalt zur Reling ging und eine Zigarettenkippe im hohen Bogen ins Meer schnippte.
Wie aus dem Nichts tauchte Claus hinter ihm auf, dann knackte es kurz und er zog den Wachposten in Richtung seiner Freunde, was der Mann schon nicht mehr spürte.
Thomas griff sich sofort dessen Maschinenpistole, die mit Schalldämpfer ausgerüstet war. Pitt nahm das Handfunkgerät samt Gürtel des Kerls an sich und schnallte ihn über seinen eigenen. Falko und Rainer schleiften den Piraten zur Tür eines kleinen Kabuffs, in dem Reinigungsgeräte und Putzmittel gelagert wurden, und versteckten ihn darin.
Eigentlich bräuchten sie dringend Ralf mit an Deck. Er war neben Romana derjenige, der sich auf der Blue Sea bestens auskannte. Nun aber musste die Beschreibung ausreichen, die er ihnen schon auf der >El Warda< gegeben hatte.
Sich gegenseitig sichernd liefen die sechs nacheinander über das offene Deck zur Treppe, die nach unten zu den Labors und den ersten Mannschaftsunterkünften führte.
Keine Menschenseele war zu sehen. Trotzdem waren sie vorsichtig und achteten stets auf ihre Deckung. Am Ende des Ganges wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen. Laute Stimmen drangen an ihr Ohr.
„Ach Mensch, Vlad, sei doch kein Frosch.“
„Nein, ich weiß nicht, John, der Boss sieht das nicht gerne“, antwortete der Angesprochene mit russischer Sprachfärbung.
„Bla, bla … der Boss sieht das nicht gerne“, äffte der Kleinere von den beiden mit englischem Akzent nach. „Der Boss ist nicht da und kommt auch nicht zurück, bevor es hell ist. Also los, wir holen uns die heiße Schwarzhaarige und haben etwas Spaß mit ihr. Bis der Alte wieder da ist, sitzt die schon längst wieder unten bei dem anderen Gesocks.“
Die beiden Männer, deren Stimmen bisher nur zu hören waren, traten auf den schmalen Gang, jeder eine Flasche Bier in der Hand, und schwankten Richtung Treppe, die weiter nach unten führte.
Blitzschnell und geräuschlos waren Pitt und Steffen hinter ihnen und tippten den Kerlen in Hawaiihemden auf die Schulter.
„Sorry, die Herren, aber daraus wird nichts“, sagte Pitt, als sich die Männer verwundert umdrehten. Noch bevor diese begriffen, was passierte, schlugen er und Steffen zeitgleich zu. Ohne lange zu überlegen, schleppten sie die leblosen Körper zurück in die Kabine, aus der sie zuvor erst gekommen waren, fesselten sie und legten sie in die Kojen, die links und rechts im Raum standen.
„Na dann schlaft mal schön, ihr lieben Kleinen.“ Steffen steckte ihnen einen Knebel in den Mund und deckte sie bis zur Nasenspitze zu. Auf dem Weg nach draußen schnappte er sich die beiden Maschinenpistolen mit Schalldämpfer, die an der Kabinenwand lehnten, und reichte sie an Thomas und Rainer weiter. „Ich denke, es ist genau das richtige Spielzeug für euch.“
„Okay Jungs, weiter“, flüsterte Claus in sein Mikro und übernahm die Führung. Geräuschlos stiegen sie die Stufen nach unten und erreichten den nächsten Flur, der sich wenig später rechts und links teilte.
„Das Beste ist, wir trennen uns hier“, schlug Steffen vor. „Wir müssen nicht alle zum Heck laufen und Zielscheibe spielen. Es reicht aus, wenn zwei von uns den anderen bei der Leiter aufs Deck helfen. Zwei von uns sichern und zwei können in der Zwischenzeit hier ein bisschen herumschnüffeln und schon mal damit anfangen, etwas Dreck wegräumen, wenn sie gerade drüber stolpern sollten.“ Er überlegte kurz. „Okay, Thomas geht als unser Scharfschütze mit zum Heck und übernimmt mit Falko die Sicherung von Rainer und Pitt, die den anderen aus dem Wasser helfen. Claus und ich, wir sehen uns hier mal etwas um“, entschied er. „Nachdem ihr unsere Fische auf dem Trockenen habt, denke ich mal, dass Frau Doktor mit dem Verletzten sofort zur Krankenstation will. In dem Fall begleitet ihr sie dorthin und lasst einen Mann von uns zur Sicherheit mit dort. Der Rest schwärmt wie geplant aus. Noch Fragen?“
„Keine Fragen“, kam von Rainer die Antwort. „Aber passt auf eure Ärsche auf.“
„Ihr auch“, antwortete Claus grinsend.
Daraufhin trennten sich die Männer. Die Vierergruppe beeilte sich, jede Deckung nutzend, um zum Heck des Schiffes zu gelangen, wo die Kameraden längst angekommen waren und im Wasser auf sie warteten.
Thomas und Falko suchten sich links und rechts der nicht mehr weit entfernten Taucherplattform einen sicheren Standort, von wo aus sie alles überblicken konnten und eine freie Schussbahn hatten. „Hier Turmfalke, Plattform gesichert“, meldete sich Thomas leise übers Headset. „Ihr könnt kommen.“
Schnell huschten die Schatten der zwei in schwarzen Neoprenanzügen gekleideten Männer über das offene Deck bis hin zur Plattform, wo sie hinter einer niedrigen Trennwand verschwanden. Lautlos ließen sie die beiden Einstiegsleitern zu Wasser.
Kurz darauf erschien der Kopf des schwer verletzten Funkers, zusammen mit dem von Jens. Pitt kletterte die Leiter ein Stück nach unter, um den Verwundeten übernehmen zu können. Er fasste ihm unter die Arme und zog ihn, so vorsichtig wie möglich, aus den Wellen, während Jens ihn von unten hochschob. Auf der Plattform übernahm Rainer den Mann und trug ihn, über die Schulter geworfen, in sichere Deckung, hinter die niedrige Wand, die als Abtrennung vom restlichen Deck fungierte.
Nacheinander kletterten die anderen, so schnell es ihnen möglich war, an Bord.
Gerade, als Pitt Ralf hoch helfen wollte, entdeckte Falko einen roten Lichtpunkt, der auf Pitts Rücken zu tanzen begann. Mit einem großen Satz sprang er aus seinem Versteck, lief auf Pitt zu, drehte sich abrupt um, zielte und drückte ab. Nur ein kurzes, dumpfes Plopp war zu hören, dann schlug ein menschlicher Körper hinter ihnen aufs Deck auf. Pitt wandte sich zu Falko um, hob zum Dank grinsend den Daumen, während Rainer und Jens den Toten bereits in eine dunkle Ecke zogen, wo seine Leute ihn nicht so schnell entdecken würden.
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Romana hatte von diesem Zwischenfall nichts mitbekommen. Sie kletterte gerade erst an Deck und zog sich erleichtert die Maske vom Gesicht. Der abdichtende Rand ihrer Tauchermaske hatte schmerzhaft auf die noch frische Platzwunde an der Stirn gedrückt. Dabei war die Wundnaht aufgebrochen. Eine dünne Blutspur rann über ihr Gesicht, die sie vermeintlich für Wasser hielt und mit dem Ärmel ihres Tauchanzuges wegwischte, dabei aber nur das Blut im Gesicht breit schmierte.Nachdem alle an Bord waren und ihre Headsets aufgesetzt hatten, meldete Thomas: „Hier Turmfalke, die restlichen Raubvögel sind sicher gelandet. Bringen jetzt Seeadler und Habicht mit Gast zur besprochenen Position.“
„Roger“, kam Steffens knappe Antwort.
Unter Ralfs Führung machte sich die kleine Gruppe, einander sichernd, auf dem kürzesten Weg zur Krankenstation, die sich auf dem ersten Unterdeck befand.
Pitt hatte den verletzten Funker geschultert und wurde von den anderen abgeschirmt und geschützt, indem sie ihn in ihre Mitte nahmen.
Ohne Zwischenfälle gelangten sie bis kurz vor ihr Ziel.
Abrupt stoppten sie und drückten sich ins schützende Dunkel des Flurs. Die Tür zum Behandlungsraum war nur angelehnt. Die Lichtkegel von hin und her schwenkenden Taschenlampen drangen durch den Spalt.
Bemüht, nicht das geringste Geräusch zu machen, schlichen sich Jens und Uwe an die Tür heran. Blitzschnell trat Jens mit einem großen Schritt durch den Lichtstrahl, wechselte auf die andere Seite der Türöffnung und ging mit der Pistole im Anschlag in Position. Uwe zählte für Jens sichtbar mit den Fingern von drei rückwärts, dann stürmten sie gleichzeitig den Raum.
Die anderen, die auf dem engen Gang zurückgeblieben waren, hörten nur ein kurzes Poltern, danach herrschte Stille.
„Hier Bussard, die Luft ist rein, ihr könnt kommen.“
Erleichtert schlüpften sie durch die offene Tür, zuletzt Thomas, der die Tür hinter sich schloss.
„Oh mein Gott!“ Romana erschrak. „Lasst die beiden los“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Das sind welche von der Besatzung.“
„Das dachten wir uns auch schon, als wir sahen, in welchem Zustand sie sind und dass sie keine Waffen bei sich haben“, erwiderte Uwe.
„Wir mussten nur sichergehen, dass sie nicht vor Schreck laut losschreien“, klang die Stimme von Jens entschuldigend.
Langsam, immer darauf gefasst, sofort wieder fest zuzugreifen, ließen sie von ihnen ab und nahmen ihre Hände vom Mund der beiden Männer, die mit vor Angst weit aufgerissenen Augen auf die Fremden schauten, die sie überrascht hatten.
Ralf tastete nach dem Lichtschalter. Flackernd gingen die Leuchtstoffröhren an und gleißendes Licht erhellte den Raum. Geblendet blinzelten alle, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt, hatten.
„Ralf? Romy? Ihr?“, staunte einer der Männer der Besatzung ungläubig, während Pitt den schwer verletzten Funker sacht auf dem Behandlungstisch ablegte und Romana sich sofort um ihn zu kümmern begann.
„Ja, Björn, wir sinds.“ Ralf trat auf die beiden Männer zu. „Ich sagte doch, dass ich wieder komme. Aber was macht ihr hier?“
„Wir haben uns vorm Einschluss davonschleichen können und wollten ein paar Medikamente und Verbandszeug für unsere Leute organisieren. Allerdings ist nicht mehr viel davon da“, antwortete Matthias.
„Oh, ihr habt Lukas gefunden.“ Björn trat an den Behandlungstisch, auf dem der schwer verwundete Kollege lag. „Er hat die Kerle ablenken wollen, damit wir uns hier her aus dem Staub machen konnten.“
„Dabei ist er dann über Bord gesprungen und die Schweine haben auf ihn geschossen“, ergänzte Matthias und fragte besorgt, „Wie geht es ihm?“ Aber er erhielt keine Antwort.
Romana und Björn kümmerten sich gemeinsam um die Wunden des Funkers. Als sie sicher war, dass Björn, der eine Sanitätsausbildung besaß, sich auch allein weiter um seinen Kollegen kümmern könne, ging sie zu Ralf, um sich seine Verletzung am Arm anzusehen.
„Romy, lass mal“, wehrte er ab. „Du blutest selbst wieder“, dabei deutete er auf ihre Wunde an der Stirn.
„Das überlebe ich schon.“
„Und ich auch. Also lass es.“ Wehrte er sanft ihre helfende Hand ab.
„Björn, Matthias, kommt ihr allein mit Lukas zurecht?“, wandte Romana sich dann an die beiden Männer der Schiffsbesatzung. „Wo werden die anderen festgehalten?“
„Ja, wir kommen schon klar“, antwortete Björn keinen Blick von dem Verletzten lassend.
„Einige sind in der Messe eingesperrt und der Rest wurde im Sportraum eingeschlossen“, fügte Matthias hinzu. „Den Käp behalten sie immer zusammen mit dem Ersten auf der Brücke. Und unsere beiden Maschinisten werden unten im Maschinenraum festgehalten. Wir hatten hauptsächlich Lukas als Verbindungsmann, der uns, soweit er etwas mitbekommen hatte, berichtete.“
„Danke Jungs, das hilft uns weiter“, sagte Ralf und wandte sich an Romana. „Du bleibst mit hier und wir gehen derweil mal mit den bösen Buben spielen.“
„Oh nein, vergiss es. Du hast gehört, Björn und Matze kommen gut allein zurecht. Ich komme natürlich mit euch mit. Und versucht gar nicht erst, mich davon abzubringen.“
„Romy, das ist nicht wie in deinen Kampfturnieren. Hier gibt es im Nahkampf kein Fair Play und kein Verbot unter die Gürtellinie zu schlagen. Diese Art von Kampf ist weder edel noch harmlos. Da wird auch gebissen, gekratzt, geschlagen und zugestochen, mit allem, was man hat oder in die Finger kriegen kann. Es wird dorthin geschlagen, wo man den größtmöglichen Schaden beim Gegner anrichten, ihm und seinem Körper am meisten schaden kann. Man will und muss ihn zerstören, denn genau das ist das Ziel.
Es gibt dafür keine Choreografie wie in den Actionfilmen, die du so gern siehst. Dabei gibt es keine Sicherheiten, keiner achtet dabei auf die Gesundheit und Unversehrtheit seiner Gegner. Ganz im Gegenteil. Der Kampf um Leben und Tod kennt keine Regeln. Er ist schmutzig, schmerzhaft, grausam und unerbittlich. Wer unterliegt, ist Geschichte und bekommt keine zweite Chance. Da gibt es keine Zeit für Bedauern oder Zurückhaltung. Man geht in den Kampf, um dem Gegner größtmögliche Schmerzen zuzufügen, ihn auszuschalten und ja, auch um ihn zu töten, ehe er die Chance bekommt. dich zu töten“, versuchte es Ralf trotzdem und die anderen nickten, diese Aussage bekräftigend.
„Ja und? Was willst du mir damit sagen? Meinst du etwa, das habe ich noch nicht begriffen? Oder denkst du, weil ich Ärztin bin und einen Eid geschworen habe, kann ich das nicht?
Okay, einfach so grundlos angreifen und töten könnte ich sicher nicht“, gab sie zu. „Aber wenn meine Freunde oder ich angegriffen werde, dann weiß ich mich schon zu wehren“, widersprach sie heftig. „Ich habe keine Angst. Ich komme mit. Ende der Diskussion.“
Die Freunde zuckten nur mit den Schultern und sahen Ralf fragend an.
„Okay, der Frau kann man eh nichts ausreden. Ehe sie am Ende vielleicht noch allein loszieht“, entschied er resigniert.
„Hier Bussard“, flüsterte Jens daraufhin ins Mikrofon seines Headsets, „Alle. Ich wiederhole, alle Vögel fliegen aus. Das Augenmerk liegt auf Messe, Sportraum, Brücke und Maschinenraum.“
„Roger, sind gerade auf dem Weg zum Maschinenraum. Danke für die Info. Rotmilan Ende“, kam kurz darauf die Antwort von Claus.
Kapitel 55
55
Steffen und Claus war klar, dass sie sich auf Wachen im Maschinenraum gefasst machen mussten. Es war wichtig, vorsichtig vorzugehen, um nicht das Leben der dort Gefangenen zu gefährden. Ein schnelles, umsichtiges Handeln war gefragt.
Einander Schutz gebend, drangen sie in den großen, gut zwei Stockwerke hohen Raum ein, der die Maschinen der Blue Sea beherbergte. Ihre Deckung beibehaltend, lugten sie über das Geländer aus Stahlrohren in die Tiefe. Geräuschlos und flink liefen sie die aus Stahlgittern bestehenden Stufen nach unten, dabei hielten sie sich an die Seitenwand gedrückt.
Plötzlich, auf dem letzten Absatz der Treppe, prallten laut pfeifend Querschläger, die aus dem Nichts zu kommen schienen, von der Stahlwand, knapp neben ihnen ab. Wie auf Kommando sprangen die beiden Männer über das Geländer, duckten sich hinter einen Maschinenblock und bezogen dort Stellung. Sie entsicherten ihre Waffen und schauten vorsichtig in die Richtung, aus der sie die Schüsse vermuteten.
Ein muskulöser Kerl in Achselshirt kam aus der Deckung und schob vor sich einen verängstigten jungen Mann von kleiner Statur her, die Pistole auf seinen Kopf gerichtet. „Okay, du Arsch. Komm vor oder ich puste deinem Kumpel hier das Hirn aus der Birne“, schrie er mit osteuropäisch klingendem Akzent. Dabei hallte seine Stimme mehrfach im Raum wider.
Schnell gaben sich die beiden Freunde ein kurzes Zeichen, dann trat Steffen mit erhobenen Händen aus seiner Deckung hinter dem Maschinenblock hervor. „Okay, ich gebe auf. Ich habe keine Waffe“, schrie er dem Mann entgegen und trat einige Schritte weiter auf den Gang zwischen den Maschinen.
Bevor der Kerl, die Waffe noch immer auf den jungen Maschinisten gerichtet, sein Funkgerät vom Gürtel ziehen konnte, um den Eindringling zu melden, traf ihn ein Projektil aus Claus‘ Pistole in die Stirn. Er fiel wie ein Stein nach hinten und schlug laut polternd auf dem Stahlgitter auf.
„Ups, das tat weh“, kommentierte es Claus mit schauspielerisch verzogenem Gesicht, als er aus seiner Deckung trat.
Professionell durchsuchten sie den großen Raum nach weiteren Piraten.
„Hier Steinadler“, meldete sich Steffen bei den anderen, dabei grinste er Claus anerkennend an. „Der Maschinenraum ist sauber.“
Beide wandten sich dem jungen Maschinisten zu, befreiten erst ihn, dann seinen Kollegen und Chefingenieur der Maschinen der Blue Sea von den Fesseln. Sie übermittelten ihnen die Grüße von ihren gemeinsamen Freunden Ralf und Romana und baten sie, sich vorläufig noch ruhig zu verhalten.
Steffen erkundigte sich, wie die Mistkerle es mit der Wachablösung an Bord des Schiffes hielten.
Er war sichtlich erleichtert, als er hörte, dass ein Wechsel erst um sechs Uhr morgens stattfinden würde. Somit hatten sie noch gute zwei Stunden Zeit, die Blue Sea samt Entführer in ihre Gewalt zu bringen, ohne auf zusätzliche, unliebsame Überraschungen gefasst sein zu müssen.
Das dachten sie zumindest, als sie den Maschinenraum verließen. Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
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Bevor die Männer bei den Mannschaftsquartieren ankamen, wo sie die Wachablösung der Piraten vermuteten, sprang das Funkgerät an Pitts Gürtel an: „Eindringlinge an Bord. Ich wiederhole, Eindringlinge an Bord!“„Hier Waldkauz. Wir wurden entdeckt. An alle, wir wurden entdeckt. Meldung erfolgte gerade über feindlichen Funk. Passt auf eure Ärsche auf“, warnte Pitt seinerseits sofort per Headset die anderen.
Steffen und Claus durchfuhr es wie ein Blitz. Sie stoppten in ihrer Bewegung, sahen sich kurz an, machten auf dem Hacken kehrt und rannten, so schnell sie konnten, zurück zum Maschinenraum.
„Wir hätten das Funkgerät von der Beutelratte mitnehmen sollen“, ärgerte sich Steffen.
„Das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Fest steht, dass einer von den beiden da unten ein elender Singvogel ist“, raunte Claus ihm zu.
„Genau das dachte ich mir auch gerade. Also gehen wir und stopfen ihm ordentlich den vorlauten Schnabel.“ Steffen öffnete erneut leise die Tür zum Maschinenraum. Rasch, ohne einen Laut von sich zu geben, liefen sie zurück nach unten, wobei sie stets auf ihre Deckung achteten. Sie drangen weiter vor bis zu einem kleinen Büroraum, dessen Seitenwände zum größten Teil aus Plexiglas bestanden. Dort beobachteten sie, wie der jüngere Mann das Sprechfunkgerät noch immer an den Mund hielt und den älteren mit einer Pistole bedrohte.
„Du Flachwichser!“, schrie Steffen wütend, stieß die Bürotür auf und schimpfte weiter: „Kaum aus den Windeln und schon andere Menschen mit einer Waffe bedrohen.“
Claus warf sich im selben Moment mit einem Hechtsprung auf den bewaffneten Mann und fiel mit ihm zu Boden, noch bevor der Kerl wusste, wie ihm geschah.
Steffen stieß mit dem Fuß die Pistole zur Seite, nachdem der junge Maschinist sie fallen gelassen hatte.
„Wow, das hat wehgetan“, kommentierte Claus, zog den Kerl unsanft am Kragen hoch und massierte sich kurz die schmerzende Schulter.
Steffen ging langsam auf den Widersacher zu und sah ihm eindringlich in die Augen. „Was muss man eigentlich für ein Arsch sein, wenn man seine eigenen Kollegen und Freunde verrät?“
Doch der Kerl grinste ihn nur frech an.
Steffen konnte nicht anders. Er verpasste ihm einen gezielten Knockout aufs Kinn, was den Verräter sofort zusammensacken ließ. Dann hob er die zuvor weg gestoßene Waffe auf und reichte sie dem älteren Mann. „Wir haben gerade wenig Zeit, um uns mit dem Abschaum zu beschäftigen. Hier, pass auf den Vollidioten auf und verpasse ihm eine damit in die Kniescheibe, wenn er nicht spuren will. Wir melden uns bald.“ Und schon verließ er das kleine Büro und eilte die Stufen erneut, gefolgt von Claus, nach oben.
„Mein lieber Scholli, du bist heute aber aufgebracht“, meinte Claus überrascht.
„Wieso, stört es dich?“
„Nö, absolut nicht. Habe dich nur sehr lange nicht mehr so erlebt … aber zugegeben, so gefällst du mir sogar wieder richtig.“ Dabei grinste er Steffen frech an, als dieser kurz stehen blieb und ihn verwundert ansah.
„Okay, dann lernst du mich heute neu kennen. Los komm, mir ist es gerade mal danach, ein paar Menschenverächtern und geldgierigen Haien mächtig in den Arsch zu treten.“
„Hier Rotmilan. Haben Singvogel das Futter entzogen und den Schnabel gestopft“, informierte Claus die anderen übers Headset, während sie eilig weiterliefen.
„Hier Turmfalke. Haben ins Wespennest gestochen und bräuchten Hilfe auf dem Mitteldeck“, kam die Meldung von Thomas, der mit Falko in einen Schusswechsel mit Männern von der Wachablösung geraten war.
„Roger, sind schon auf dem Weg.“ Steffen voran, eilten beide weiter hoch zum Mitteldeck.
„Wir müssen verhindern, dass die nen Funkspruch zur Jacht absetzen können“, rief Claus.
„Hier Bussard, die Brücke übernehmen Habicht und ich. Seeadler übernimmt mit Mauersegler den Funkraum. Wir sind schon auf dem Weg“, meldete Jens.
Sofort machten Ralf und Uwe kehrt und schlugen zuerst den Weg zum Funkraum ein, um sich danach zur Messe zu begeben, um dort ihren Kampfgefährten zu helfen und ein Blutbad zu verhindern, nachdem die Geiselnehmer über Funk gewarnt wurden.
Pitt und Rainer waren in der Zwischenzeit zur Sporthalle unterwegs, um dort die Gefangenen zu befreien, ohne dass sie erst noch ihren Peinigern zum Opfer fallen konnten. Sie hofften, dass ihre Freunde die Wachmannschaft so lange in Schach halten konnten, um eine Eskalation zu vermeiden.
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„Romy, da ist kein Herankommen“, warnte Jens leise, als er die Situation überschaut hatte. Die Brücke wurde von vier der Piraten mit Waffen gesichert. „Doch, wir müssen da rein“, widersprach sie trotzig. „So wie es aussieht, denken die bestimmt, dass ihre Leute alles alleine wieder in den Griff bekommen. Ist also für uns die beste Chance, bevor die vielleicht doch noch einen Funkspruch absetzen.“
„Und wie willst du das anstellen, ohne eure beiden Leute zu gefährden? Wir sind zu zweit, die sind zu viert und noch dazu gut bewaffnet.“
„Genauso, wie ihr es auf der Basis gemacht habt. Mit einer List. Nur in einer klein wenig abgewandelten Form. So wie diese Kerle hier mit meiner Freundin und den anderen Frauen an Bord umgegangen sind, schließe ich daraus, dass die notgeil sind, also nutzen wir das doch“, gab Romana entschlossen zurück. „Ich habe mir da bereits etwas einfallen lassen. Also gehe auf die andere Seite und warte ab.“
Jens war nicht wohl in seiner Haut. „Was hast du vor?“
„Gehe einfach rüber und sag, wenn du in Stellung bist, dann wirst du schon sehen und verstehen.“ Leicht genervt schob sie den Mann weg. „Nun mach schon.“
„Okay“, schnaubte Jens, noch immer skeptisch. „Versuchen wir, was auch immer du vorhast.“ Geduckt lief er quer über das hintere Außendeck des Brückenaufbaus zur anderen Brückennock, um zur dortigen Tür zur Brücke zu gelangen.
Romana atmete tief durch, um ihre eigene Angst in den Griff zu bekommen. Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres Anzuges über das Gesicht, um die Blutspur von der Stirn zu wischen. Dann zog sie das Gummiband aus dem Haar, mit dem sie ihre Mähne gebändigt hatte. Wuschelte mit den Händen durch das offene Haar, um es aufzulockern, und schüttelte energisch den Kopf. Die rote Haarpracht wirbelte in der Luft herum und fiel schließlich in wilden Locken über ihre Schultern.
Flink schälte sie sich aus der Neoprenweste des Tauchanzuges. Zog den Reißverschluss des eng anliegenden Longjohn bis zur Taille auf und streifte dessen Träger zusammen mit denen ihres Badeanzuges nach unten. Erneut schüttelte sie den Kopf. Das noch leicht feuchte Haar wirbelte abermals herum, um dann ihren nun nackten Oberkörper verführerisch zu umspielen.
Vorsichtig blickte sie um die Ecke, durch das kleine Fenster. Noch konnte sie Jens auf der anderen Seite nicht entdecken. Sie war nervös, es fiel ihr schwer, zu warten.
„Bin auf Position“, ließ er endlich übers Headset verlauten.
All ihren Mut zusammennehmend, strafte Romana ihren Körper, trat vor die Stahltür mit dem Bullauge und schlug sie mit einem Ruck nach innen auf.
Nackt, wie von Gott geschaffen, stellte sie sich lasziv in den Türrahmen. „Und, hat jemand von euch Lust?“, gurrte sie mit verführerischem Lächeln.
Erst richteten die Männer erschrocken ihre Waffen auf sie. Dann klappten ihre Kinnladen nach unten und ihre Blicke hafteten gierig auf dem nackten Frauenkörper.
Einer der Kerle ließ grinsend seine Waffe sinken und ging auf sie zu.
Herausfordernd lächelnd empfing Romana ihn mit offenen Armen. Alle Blicke waren nur noch auf sie gerichtet.
Das war für Jens der Moment, zuzuschlagen. Er stürmte von seiner Seite auf die Brücke, rannte auf zwei der ihm am nächsten stehenden Kerle zu, setzte zum Sprung an und stieß dem einen dabei beide Beine in die Magengrube. Den anderen erwischte er noch während seines eigenen Falls den Schwung ausnutzend mit der Handkante an der Halsschlagader, was ihn sofort zu Boden schickte. Bevor der dritte auf den Angriff reagieren konnte, hatte Jens seine Waffe auf ihn gerichtet und abgedrückt. Als der Mann, den er zuerst zur Seite gestoßen hatte, wieder zu sich kam, knockte er ihn sofort mit einem Ellenbogenschlag ins Gesicht aus und nahm auch ihm seine Waffe weg.
In der Zwischenzeit hatte es Romana mit dem anderen Kerl aufgenommen. Noch bevor ihm gewahr wurde, was gerade hinter ihm passierte, machte sie einen schnellen Schritt auf ihn, zog seinen Kopf nahe an sich heran, drückte ihn weiter nach unten und hielt ihn fest. Mit Schwung und aller Kraft zog sie dann ihr Knie an und traf damit präzise das Nasenbein des Kerls, sodass man es unschön knirschen hörte. Sie beobachtete scheinbar überrascht, wie der Geiselnehmer blutend reglos zu Boden fiel. Daraufhin hatte sie sich auch schon auf den Piraten gestürzt, den Jens mit einem Handkantenschlag zu Boden geschickt hatte, der aber bereits wieder aufgesprungen war, um anzugreifen, und warf ihn mit einem gekonnten Judogriff zu Boden.
Während Jens, noch überrascht von Romanas Auftritt, aufstand und sich auf der Brücke umsah, eilte sie auf die Brückennock zurück, wo sie ihren Badeanzug gelassen hatte und zog ihn schnell wieder über.
Derweil kümmerten sich Jens, der Kapitän und der erste Offizier um die vier außer Gefecht gesetzten Wachposten, die verletzt waren, und verschnürten sie fachgerecht.
Nur in Badeanzug und Taucherschuhen, die Weste und den ohnehin zerschnittenen Longjohn unter den Arm geklemmt, kam Romana nach wenigen Minuten auf die Brücke zurück.
„Wow!“, bewunderte Jens sie, noch immer atemlos. „Du hättest mich lieber vorwarnen sollen. Mir ist da draußen ja fast das Herz stehen geblieben, bei dem Anblick.“
„Wieso, war der so schlimm und du deshalb schockiert?“, konterte sie und ließ den Neoprenanzug fallen, um die Hände freizuhaben. Sie sah sich zuerst die Schuss- und anderen Verletzungen der Überwältigten an und stellte erleichtert fest, dass nichts davon lebensgefährlich war. Erst danach wandte sie sich Kapitän Dirk Schöller zu und umarmte ihn herzlich.
„Hier Bussard“, meldete Jens an seine Kameraden weiter. „Haben die Brücke dank eines federlosen Habichts in unserer Hand.“
Der Spruch brachte Jens ein böses Funkeln aus Romanas grünen Augen ein, auf welches er nur mit einem verschmitzten Lächeln und erhobenen Händen antwortete.
„Hier Mauersegler“, war kurz darauf Uwes Stimme zu hören, der mit Ralf erfolgreich erst den Funkraum gesichert hatte und dann in die Messe eingedrungen war. „Habe ich das richtig verstanden? ... Der Habicht ohne Federn? Ich hätte auch gern einen gerupften Habicht gesehen.“
„Unterstehe dich“, tönte Ralfs knappe Antwort aus allen Kopfhörern. „Die Messe ist übrigens unser. Hier gibt es viele Verletzte. Aber nichts Lebensbedrohliches.“
„Hier Sperber. Sporthalle gesichert. Auch hier jede Menge leicht bis mittelschwer Verletzte.“ Falko konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er weitersprach. „Ich hoffe, unser Habicht hat sein Federkleid wieder an, nicht dass unser Bussard oder andere von uns sich die Augen verblitzten und erblinden.“
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„Hier Waldkauz. Schön, dass ihr euren Spaß habt, Jungs“, schaltete sich Pitt in das Gespräch ein. „Aber hier ist die Kacke immer noch am Dampfen. Wäre schön, wenn ihr eure Ärsche herbemühen könntet. Sind im Mitteldeck bei den Mannschaftsunterkünften. Entweder konnten unsere Informanten nicht richtig zählen, oder die Kerle haben Junge gekriegt. Auf jeden Fall steppt hier der Bär. Wenn ihr das nicht verpassen wollt, wäre es besser, ihr nehmt die Beine in die Hand. Waldkauz Ende.“„Roger“, erklangen knapp die Stimmen der anderen drei Teams. „Sind unterwegs.“
„Romy, du bleibst hier. Dort wird geschossen. Das ist nichts für dich.“ Jens lief bereits los, noch bevor Romana etwas erwidern konnte.
„Dirk, welche der Mannschaftsunterkünfte betrifft es, in denen sich die Kerle eingenistet haben? Wo genau liegen die? Sind das die Mittschiffs oder Achtern?“, wandte sich Romana dem Kapitän fragend zu.
„Hier, in dem Bereich.“ Er zeigte auf die Stelle am Querschnitt der Kontrolltafel des Schiffes.
„Kannst du den Bereich durch das Schließen der entsprechenden Schotten dicht machen?“
Der Kapitän wusste bereits, worauf Romana anspielte. „Ja klar. Allerdings wäre da die Messe inbegriffen, sie befindet sich auf dem gleichen Gang. Dort halten sie ein paar unserer Leute gefangen.“
„Okay.“ Sie betätigte ihr Headset. „Hier, Habicht, an alle. Schafft die Leute aus der Messe raus, schnell. Bringt sie und euch zu den Aufgängen. Haltet die Mistkerle aber davon zurück. Meldet euch, wenn ihr so weit seid, dann schließen wir dort die Schotts und haben sie im Schwitzkasten.“
„Roger. Guter Einfall, Habicht“, lobte Steffen. „Wir geben unser Bestes. Wartet auf unser Zeichen.“
„Roger, machen wir“, gab sie zufrieden zurück.
Der Erste Offizier und der Kapitän hielten bereits ihre Finger über der Schalttafel bereit, um ohne Verzögerung die beiden Schotts zu schließen, sobald Romana das Kommando dazu gab.
„Hier Mauersegler an Habicht und den Rest der Vogelschar“, meldete sich Uwe nach einer Weile. „Wir haben hier einige Verletzte. Es wird also noch etwas dauern, ehe wir sie alle rausgebracht haben. Haltet noch durch und die schießwütigen Idioten von uns fern.“
Am liebsten wäre Romana sofort losgelaufen, doch Dirk hielt sie am Arm zurück. „Romy, wie sollen wir ohne dich wissen, wann wir die Schotten schließen können?“
Sie überlegte kurz, nahm dann ihr Headset ab und drückte es dem Ersten Offizier, Peter Janson, der dicht neben ihr stand, in die Hand. „Hier, ihr werdet es hören.“ In großer Eile beugte sie sich über ihren achtlos fallen gelassenen Neoprenanzug und zog daraus den wasserdicht verschlossenen Beutel mit der Waffe hervor.
Entschlossen sah sie den Kapitän an und nickte ihm zu. Dann rannte sie, den Beutel aufreißend, die Pistole herausziehend und unter den Badeanzug schiebend, über das Oberdeck zu jener Treppe, die der Messe am nächsten lag.
„Romy, was machst du hier?“ Ralf erschrak, als sie mit offenem Haar nur im Badeanzug auf dem Gang auftauchte, und schon einen Mann mit verletztem Bein stützte und mit ihm zur Treppe lief.
„Das ist zu gefährlich für dich“, mahnte er besorgt. „Ich denke, du bist oben auf der Brücke?“
„Hab mein Headset Peter gegeben, also werden sie hören, wann die Schotten zu schließen sind. Außerdem braucht ihr hier jede Hand, um die Leute so schnell wie möglich rauszubringen.“
Von der anderen Seite des Ganges war der Krach von abgefeuerten Waffen, das Pfeifen von Querschlägern, das Klirren von splitterndem Glas und dazwischen ein lautes Durcheinander männlicher Stimmen zu hören.
„Hier Seeadler, hier Seeadler“, meldete sich Ralf. „Wir haben den Letzten aus der Messe raus. Wir kommen zu euch und decken euren Rückzug aus der Zone.“ Er wandte sich mit Nachdruck an Romana: „Du bleibst hier.“ Und schon rannte er gemeinsam mit Uwe los.
„Brücke, könnt ihr mich hören?“, rief Steffen übers Headset.
„Ja, laut und deutlich“, erwiderte der Erste Offizier.
„Schließt das vordere Schott. Ich wiederhole, schließt das vordere, aber wirklich nur das vordere Schott“, schrie Steffen in das kleine Mikrofon, dicht vor seinen Lippen. Dann stutzte er. „Warum ist Habicht nicht dran? Ich denke, sie ist auf der Brücke? Wo ist sie?“
„Okay, vorderes Schott wird jetzt geschlossen“, verlautete die Stimme des Ersten Offiziers.
Im selben Moment schien eine dicke Stahlwand aus dem Nichts zu kommen, schob sich langsam von oben in den Flur und riegelte ihn damit zu dieser Seite mit einem dumpfen Knall vollständig ab.
„Hier Seeadler. Habicht ist hier unten. Sie hat geholfen die Verletzten rauszubringen. Ist jetzt in Sicherheit“, informierte Ralf die anderen.
„Rückzug!“, schrie Steffen fast im selben Moment.
Allmählich zogen sich die Männer, geordnet, einander immer wieder mit kurzen Feuerstößen sichernd, aus dem großen Mannschaftsraum in den Gang zurück.
Im letzten Augenblick, bevor sie die schützende Deckung an der Treppe erreicht hatten, sackten Thomas und kurz darauf auch Uwe getroffen zusammen.
„Los, lauft!“, rief Thomas, zielte im Liegen auf die langsam aus ihrer Deckung kommenden Gegner und schoss. „Wir geben euch Feuerschutz, solange wir können! Seht zu, dass ihr rauskommt!“
Steffen zog Rainer, der ebenfalls verwundet wurde, mit sich in den sicheren Bereich und setzte ihn auf einer Stufe, der nach oben führenden Treppe, ab.
Auch Claus, der sich mühsam auf eigenen Beinen hielt, suchte Schutz beim Treppenaufgang. Kurz danach kamen auch Falko und Pitt, die leicht angeschlagen wirkten, dort an. Wenig später trafen Ralf und Jens ein. Als sich die meisten von ihnen in sicheren Schutz vor den herumschwirrenden Geschossen der Gegner und der Querschläger gebracht hatten, verlangten Steffen und Jens für sich Feuerschutz, um Thomas und Uwe aus der Gefahrenzone holen zu können.
In geduckter Haltung eilten sie zu den beiden zurück. „Habt ihr geglaubt, wir lassen euch hier? Das könnt ihr vergessen. Ich hasse nämlich Heldenbegräbnisse“, schrie Steffen und packte Uwe beim Kragen.
Jens lud sich Thomas auf seine Schultern und beide rannten mit ihren Freunden zurück Richtung des noch offenen Schotts.
Die anderen gaben ihnen bestmöglichen Feuerschutz.
Noch dreizehn Meter trennten die vier Männer vom schützenden Schott und der restlichen Gruppe, als sie nacheinander meldeten, dass ihre Magazine leer geschossen waren.
Sie konnten nur untätig zusehen und ihre Kameraden anfeuern, sich zu beeilen, damit sie nicht auf dem letzten Stück des Weges getroffen wurden.
Für alle unerwartet trat Romana vor. Sie stellte sich in der Mitte des Ganges vor den Männern auf und nahm ihre Pistole völlig konzentriert in Anschlag. „Runter mit euch!“, schrie sie aus voller Lunge.
Das ließen sich Jens und Steffen nicht zweimal sagen, als sie Romana mit gezogener Waffe stehen sahen. Sie ließen sich samt Thomas und Uwe sofort zu Boden fallen. Schon pfiffen schnell nacheinander abgefeuert die Kugeln aus Romans Pistole über ihre Köpfe hinweg. Dann hörten sie knapp hinter sich das schmerzverzerrte Aufschreien von Männern, deren Körper zusammensackten.
„Weiter“, rief sie, nachdem sie sah, dass sich die Angreifer in ihre Deckung zurückgezogen hatten.
Rasch rappelten Steffen und Jens sich auf, luden die beiden verletzten Kameraden wieder auf ihre Schulter und rannten los.
Romana blieb weiter in Position und beobachtete genau das Geschehen hinter den Freunden, die nur wenige Meter vor sich hatten. „Steinadler, rechts zur Seite!“, warnte sie.
Kaum dass sich Steffen mit Uwe an die Wand gedrückt hatte, feuerte sie erneut einen einzelnen Schuss aus ihrer Waffe ab, der nahe an ihnen vorbeizischt.
Die Männer konnten sehen, wie ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht aus einer Ecke kippte. Steffen schaute zu Romana, die mit offenem Haar, nur mit ihrem schwarzen Badeanzug bekleidet, noch immer mitten auf dem Gang stand und keine Miene verzog. Dann rannten er und Jens wieder los.
Kurz nachdem sie die sichere Deckung erreicht hatten, schrie Jens in das Mikrofon seines Headsets: „Schott schließen, jetzt!“ Im letzten Moment drängten sie sich durch den immer enger werdenden Spalt. Dann hörten sie das Krachen der Kugeln gegen die Stahlwand, die sich mit einem dumpfen Schlag geschlossen hatte.
Die Männer atmeten erleichtert auf und sahen Romana erstaunt an, die noch immer wie angewurzelt mitten auf dem Gang stand, die Waffe mit beiden Händen hielt und sie nur langsam senkte. Alle schwiegen von dem gerade Gesehenen noch ganz überrascht.
„Ich habe den Eid geschworen, Menschenleben zu retten und jetzt habe ich welches absichtlich genommen“, brachte sie mit erstickender Stimme hervor. Dabei wurde sie von einer zur anderen Minute blass, als sich ihr Adrenalinspiegel wieder senkte. „Könnten wir vielleicht erst einmal einen Kaffee trinken, bevor ich euch verarzte?“, fragte sie nach einer kurzen Pause leise. Sie nahm eine Hand von der Pistole, wischte sich damit den vermeintlichen Schweiß von der Stirn und verschmierte sich das Gesicht dabei erneut mit ihrem Blut, das ohne Unterlass aus ihrer Platzwunde sickerte.
„Also, dich möchte ich nie zum Feind haben“, murmelte Jens, der das Zittern in ihrer Stimme bemerkt hatte. Nur langsam ging er auf sie zu. Behutsam nahm er ihr die Waffe aus ihrer Hand, die sie noch immer fest umklammerte und reichte sie an Steffen weiter. Dann zog er sie sanft in seine Arme.
Er wusste, dass nach solch einem Adrenalinschub Menschen, die nicht daran gewöhnt waren, erst einmal mit eventueller Übelkeit bis hin zur Desorientierung und aufsteigender Panik zu kämpfen haben konnten. Und was dagegen half, war menschlicher Kontakt, er linderte zwar nicht die Symptome, aber machte sie erträglicher.
„Die ist leer“, erklärte Romana nur noch flüsternd, als Steffen die Pistole überprüfte. „Die letzten Meter, die ihr noch vor euch hattet, habe ich nur geblufft. Ich hätte nicht gedacht, dass das klappt. Aber die Kerle haben sich nicht mehr aus ihrer Deckung getraut.“
Steffen sicherte die Waffe, nahm das Magazin heraus, fuhr den Schlitten zurück und sah in den Lauf der Pistole.
„Leer“, bestätigte er erstaunt.
„Na, das sagte ich doch gerade. Ich habe in der Schule zählen gelernt“, gab sie zurück.
„Romy hat uns wirklich, nicht eine Sekunde zu spät, mit den letzten Patronen und nem mutigen Bluff den Arsch gerettet? Ich kann es nicht fassen“, brachte Jens hervor, als es Steffen und den anderen längst die Sprache verschlagen hatte.
Erschöpft setzten sich die zehn Freunde auf die Treppenstufen und atmeten tief durch.
Von oben waren Schritte zu hören. Nur wenige sahen auf, die anderen waren zu geschafft und müde.
In diesem Moment kamen der Kapitän und der Erste Offizier um die Ecke, wollten die Treppe schon weiter hinab eilen, als sie die Gruppe von Männern und ihre ehemalige Bordärztin in ihrer Mitte auf den Stufen sitzen sahen.
„Und, hat es geklappt? Ist so weit alles in Ordnung?“ Dirk Schöller klang besorgt.
„Na ja, wie man’s nimmt.“ Claus rieb sich müde das Kinn. „Wenn wir hier nicht schnellsten einen starken Kaffee bekommen, will und kann unsere Frau Doktor die anderen und uns nicht verarzten. Weil sie höchstwahrscheinlich dabei einschlafen würde, so fertig wie sie ist. Und wir übrigens auch.“
„Und dann sieht es schlecht für einige von uns aus“, meinte Thomas und verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Ähhhm … Kaffee?“, fragte der Kapitän verdutzt. „Ja klar, gleich hier im Besprechungsraum, eine Etage höher.“ Er schickte seinen Ersten sofort los, um den Kaffeeautomaten in Gang zu bringen.
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Erschöpft vom Kampf, der langen Nacht und dem wenigen Schlaf in letzter Zeit, schleppten sich die Männer, einander stützend, die Stufen nach oben und waren froh, sich in bequeme Sessel fallen lassen zu können.„Sorry, wenn wir euch hier die schönen Polster versauen“, entschuldigte sich Jens.
Der Kapitän winkte nur lächelnd ab, während er und Peter Janson, Kaffee an alle ausschenkten. „Glaubt mir, darauf kommt es nicht an. Wir sind nur heilfroh, dass ihr uns geholfen habt und ihr alle noch am Leben seid. Es ist euer Verdienst, dass es nicht noch mehr Opfer auf dem Schiff gegeben hat.“ Plötzlich stand ihm blankes Entsetzen im Gesicht.
„Was ist los?“, erschrak Steffen.
„Die Sprengladungen! Wir wissen nicht, wo die Sprengladungen sind!“, stieß der Erste Offizier der Blue Sea hervor.
Falko atmete erleichtert auf. „Nur keine Panik, Leute. Der Boss, wie er genannt wurde, liegt wie ein Baby, schön eingewickelt, auf der Basis und eure beiden Kollegen halten ihn neben dem anderen Gesocks in Schach. Der legt sicher keinen Schalter mehr um.“
„Nein, der Kerl hatte nur hier auf dem Schiff das Sagen. Der wirkliche Chef, der den Finger am Drücker hat, sitzt da drüben“, dabei zeigte der Kapitän in Richtung Osten, „in sicherer Entfernung auf seiner Jacht.“
Die Männer grinsten sich an und Pitt kramte kurz in der Tasche, die er am Gürtel trug. „Na, dann soll er es mal versuchen. Ich glaube kaum, dass er viel Erfolg damit haben dürfte“, meinte er, legte fünf Zünder plus die Hauptmine mit dem Unterwasserzündverteiler auf den Tisch und Uwe legte die Gehäuse der Haftminen mit den Sprengladungen daneben.
Erleichtert wischte sich der Kapitän den Schweiß von der Stirn. In diesem Moment erkannte er Ralf, der ganz hinten in einer Ecke neben Romana Platz genommen hatte. Freudestrahlend ging er auf ihn zu. „Mensch, Junge, hast du dich in den paar Wochen aber verändert. Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Ich bin so froh, dass du es geschafft hast und hier mit solch guten Männern zurückgekommen bist. Wir hatten bis zuletzt nicht so recht daran geglaubt, dass du es wirklich schaffen könntest, uns rauszuhauen. Aber ihr alle habt uns eines Besseren belehrt. Danke. Vielen Dank.“
„Okay, genug der Dankeshymnen. Am Ende glauben wir das noch“, brummte Jens verlegen. „Wir brauchen eine sichere Funkverbindung zum Festland und zu unseren Behörden sowie zu Interpol. Ich denke mal, die netten Jungs werden bestimmt schon in einigen Ländern gesucht. Außerdem will ich nicht selbst wieder da unten reingehen, um die schießwütigen Subjekte da rauszuholen.“
„Stimmt genau. Gleich samt den Kerlen da drüben, auf der Jacht“, gab Steffen ihm recht. „Das können die Profis übernehmen.“
„Na ja“, mischte sich Ralf ein. „Ich denke, die werden wir wohl da noch etwas beschäftigen müssen, bis die Einsatztruppen hier sein können, wenn wir nicht wollen, dass die Kerle bis dahin das Weite suchen. … Aber sag mal, Dirk, was schmuggeln die Kerle denn nun eigentlich genau? Waffen oder Drogen?“
„Beides. Hauptsächlich aber Waffen, im ganz großen Stil, bis hin zu Atomsprengköpfen von den Russen nach Libyen, Saudi-Arabien, Jordanien und in den Sudan. Jeder bekommt das Zeug nach Wunsch und Geldbeutel geliefert.“
„Und wie kommt das Zeug ins Rote Meer?“, wollte Falko wissen.
„Eher dubiose Handelsschiffe bringen es schwarz durch den Sueskanal hier her. Wir werden dann als Zwischenstation missbraucht und mussten es, an den Seestreitkräften vorbei, breit fahren, oder der Mistkerl da drüben übernahm auch schon mal selbst kleinere Fuhren. Meist hält er sich aber in sicherer Entfernung zu uns auf.“
„Jungs“, sagte Steffen, der den Bericht des Kapitäns erst einmal kurz verdauen musste, „wollen wir zulassen, dass sich dieses Ekelpaket in letzter Minute aus dem Staub machen kann?“
Alle schüttelten den Kopf. Romana erhob sich, sichtlich erschöpft. „Okay, ihr wackeren Ritter, bevor ihr hier zu neuen Heldentaten aufbrecht, will ich mir doch einige von euch vornehmen und das möglichst, bevor ich einschlafe oder ihr ausblutet.“ Sie trank den letzten Schluck ihres Kaffees aus und ging voraus zur Tür. „Ich bitte die Herren, mir zum Medizindeck zu folgen.“ Als sich keiner rührte, drehte sie sich zu ihnen um, dabei wurde sie etwas lauter und plötzlich richtig energisch und resolut: „Na, vielleicht wird es bald? Hopp, hopp, setzt euch in Bewegung. Oder meint ihr, ich trage euch dorthin?“
Murrend und maulend wälzten sich die ersten aus den bequemen Sesseln und folgten, sich gegenseitig stützend, der Freundin.
Als Romana das Arztzimmer betrat, deckten Björn und Matthias gerade den Körper des Funkers mit einem weißen Laken zu. „Er hat es leider nicht geschafft, Romy“, sagte Björn traurig. „Einer der Wachmänner ist rein gekommen und hat ihn einfach abgeknallt, noch bevor wir den Kerl überwältigen konnten.“ Dabei zeigte er in die Ecke, wo der Wachposten lag.
Noch einer, den die Mistkerle auf ihrem Gewissen haben, dachte Romana zornig. Nein, diese Kerle durften auf keinen Fall davon kommen.
Nacheinander versorgten sie, gemeinsam mit Björn und Matthias die Wunden der Männer, so gut sie konnten.
Einige von ihnen waren durch Streifschüsse oder Querschläger verletzt wurden. Zum Glück war keine der Wunden gefährlich.
So wie sie schon vermutet hatte, waren nicht mehr ausreichend Medikamente zur Betäubung an Bord. Und das, was sie bei ihrem Tauchequipment am Gürtel mit hergebracht hatte, würde bei Weitem nicht reichen. Alle anderen Medikamente und Verbandsmaterial, das sie ebenso dringend benötigten, befanden sich noch auf der >El Warda<.
Als sie das ihren Freunden mitteilte, entschieden sie kurzerhand, dass sie anhand der Verletzungen bestimmen solle, wer die wenigen Medikamente am dringendsten benötigte. Der Rest würde eben die Zähne zusammenbeißen müssen.
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Romana schmerzte jeder Stich, den sie bei den Männern, ohne jegliche Betäubung, setzen musste, um die blutenden Wunden zu verschließen. Matthias half ihr danach beim Verbinden. Zuletzt ließ sie sich von Björn ihre Platzwunde ohne Betäubung neu vernähen und verpasste sich dann selbst eine nur dünne Mullbinde, die sie wie ein Stirnband unter dem langen Haar verknotete. Steffen entfernte ihr vorsichtig den durchnässten, blutgetränkten Verband vom Arm. „Das wasserdichte Pflaster hat nicht richtig gehalten. Und die von dir veranstalteten Aktionen haben auch keinen positiven Einfluss darauf gehabt“, stellte er besorgt fest, während er die Wunde versorgte. „Macht nichts. Die von dir so fein gemachte Naht hat doch gehalten, alles andere muss warten“, tat sie seine Bedenken ab. „Also verbinde mir den Arm einfach nur wieder. Aber nimm nicht so viel von dem Verbandsmaterial. Ich brauche den kläglichen Rest für die am schwersten Verletzten von der Blue Sea. Ich muss nachher sowieso schon mehr improvisieren, als mir lieb wäre, weil das Zeug nicht vorn und hinten reicht. Steffen, ich benötige dringend das mitgebrachte Material von der >El Warda<, um den Leuten optimal helfen zu können. Wir müssen uns da unbedingt etwas einfallen lassen“, raunte sie ihm zu.
Die über ihre Befreiung dankbaren Besatzungsmitglieder brachten den Männern etwas von ihrer Kleidung, damit sie nicht in den zerfetzten Neoprenanzügen oder nur in Badehosen herumlaufen mussten. Nur Ralf hatte in seiner Kabine an Bord seine eigenen Sachen, die er redlich mit Steffen und Jens teilte.
Der Wind auf dem Meer hatte wieder aufgefrischt und brachte kalte Luft aus dem Norden. Die Männer waren froh, in warme und bequeme Kleidung schlüpfen zu können.
Schüchtern betrat die schwarzhaarige Isabel das Arztzimmer. „Hier Romy, ich habe dir ein paar Sachen von Lisa herausgesucht. Sie braucht sie ja nicht mehr.“ Mit Tränen in den dunklen Augen reichte sie ihr die Kleidungsstücke. „Sie dürften dir passen. Ihr hattet ja die gleiche Größe und hattet schon oft eure Klamotten getauscht.“
Romana nahm Isabel die Sachen dankbar ab und strich gedankenversunken über den Stoff des Pullis, der obenauf lag. Sie dachte daran, dass sie den Pullover schon immer hatte tragen wollen, doch Lisa hatte ihn nie herausgerückt, weil es ihr Lieblings- und Glückspulli sei.
„Nein, Isa, diesen Pullover kann ich nicht nehmen. Den soll Lisa bekommen. Ihr habt sie doch noch hier an Bord, oder?“
„Ja, sie liegen alle in den Kühlkammern“, antwortete die junge Frau schluchzend.
„Dann soll sie ihn tragen, er hat ihr immer viel bedeutet. Ich suche mir lieber einen anderen aus ihrem Spind heraus, bei dem sie nichts dagegen hätte, wenn ich ihn mir eine Weile ausleihe.“ Romana reichte ihr Lisas Pullover wieder zurück.
Ihre Freunde, die alles beobachtet hatten, saßen schweigend und bedrückt auf den Stühlen im Arztzimmer und wagten kaum, sich zu rühren. Sie konnten nachfühlen, was in beiden Frauen vorgehen musste. Jeder von ihnen hätte Romana in dem Moment gern freundschaftlich in den Arm nehmen wollen, um sie zu trösten und Kraft zu spenden. Sie alle hatten sie als starke Frau kennen, schätzen und lieben gelernt. Doch sie wussten, dass sie da ganz allein durch musste, und dies auch so wollte.
Nach einer Weile hatte sich Romana wieder gefangen. „Gut Jungs, geht wieder in den Besprechungsraum, vielleicht haben die anderen uns Neues zu berichten. Ich komme gleich nach. Ich gehe mir nur mit Isabel noch etwas zum Überziehen holen.“ Daraufhin wandte sie sich Björn und Matthias zu. „Und ihr zwei kümmert euch bitte, so gut es geht, um die Kollegen. Ich stoße nachher gleich mit dazu.“ Dann legte sie den Arm um die zierliche Meeresbiologin und verließ mit ihr den Raum.
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Als Romana aus der Kabine trat, die sie sich einst mit ihrer Freundin Lisa geteilt hatte, stieg gerade die Sonne im Osten aus dem Meer. Doch so gern sie den Sonnenaufgang bewundert hätte, mied sie die Steuerbordseite des Schiffes, um nicht von den Leuten der weiter draußen liegenden Jacht gesehen zu werden. An der Backbordseite machte sie sich auf den Weg zurück zum Besprechungsraum, der ein Deck höher lag. Wie sie eintrat, richteten sich alle Augenpaare auf sie. Sie trug weiße Turnschuhe, dazu eine dreiviertellange, eng anliegende Stretch-Jeans und einen schwarzen Pullover, dessen Ärmel sie über die Ellenbogen geschoben hatte. Ihre Haare hielt sie mit einem Tuch locker im Nacken zusammen.
„Entschuldigt, wenn ich so spät komme“, begann sie, „aber ich …“
„Ist schon okay, Kleines, wir wissen Bescheid. Nimm dir einen Kaffee und setzt dich mit zu uns“, bot Steffen an.
Sie nahm sich eine Tasse von der Anrichte, stellte sie in den Automaten, wählte ihren Kaffee ohne Milch und Zucker und setzte sich mit an einen der Tische, die zu einer langen Tafel zusammengeschoben waren. In der Mitte standen Teller mit belegten Brötchen, die Mannschaftsmitglieder für die kleine Gruppe zurechtgemacht hatten. Jens, Steffen und Ralf erzählten abwechselnd, was sie in der Zwischenzeit erreicht und erfahren hatten.
So erfuhren alle, dass die Eingreiftruppen der Ägypter, wie auch der Deutschen, nicht vor dem nächsten Tag hier sein würden. Dass Interpol längst an den international handelnden Waffenschmugglern dran gewesen sei, sie aber nie hatte überführen können, da bei Zugriff die Schiffe samt Besatzungsmitgliedern unauffindbar verschwunden waren. Dass Interpol nicht nur an den modernen Piraten, sondern hauptsächlich an den Hintermännern interessiert wären, die im Augenblick vielleicht gerade da draußen auf der Jacht saßen.
Der Kapitän des Schiffes berichtete, dass die Blue Sea nach deren Plänen noch zwei Tage hier vor Anker liegen und dann zum Treffen mit einer extremistischen Gruppe aufbrechen sollte. Der erste Offizier ergänzte, dass derzeit Maschinengewehre mit Munition, Panzerfäuste und Raketenwerfer im Bauch der Blue Sea schlummerten.
„Und warum ist der sogenannte Boss über das Fallreep ins Boot geklettert, wo es doch von der Plattform aus viel leichter gewesen wäre?“, wollte Claus wissen.
„Weil er eigentlich die Anweisung hatte, auf der Blue Sea zu bleiben“, erklärte Dirk Schöller. „Wäre er da von der Taucherplattform aus ins Boot gestiegen, hätten sie es von der Jacht aus gesehen. Und das hätte garantiert Ärger gegeben.“
„Aber der Blödmann hat sich doch auf der Basis per Funk angemeldet. Wie passt das zusammen?“, warf Falko skeptisch ein.
Peter, der Erste Offizier der Blue Sea, erklärte, dass sie mit der Jacht für gewöhnlich auf anderen Frequenzen kommunizierten. Und der Boss war davon ausgegangen, dass der Chef die Funkfrequenz zur Basisstation bestimmt nicht mit abhören würde, da ihn das angeblich nicht sonderlich interessierte.
„Komische Bande. Keine Zucht und Ordnung in dem Sauhaufen“, warf Thomas ein.
„Nein, ich denke eher, die fühlen sich ungemein sicher, werden nachlässig und begehen deshalb Fehler. Was uns nur recht sein kann“, bekräftigte Jens.
Steffen berichtete von der Befragung des Maschinisten, der sich als Verräter entpuppt hatte. Von diesem jedoch nicht viel in Erfahrung zu bringen war. Er hatte sich im Irrglauben, besser damit zu fahren, wenn er die anderen verrate, erst an Bord von ihnen kaufen lassen. „Dabei hat der Idiot nicht einmal bemerkt, dass er für die Kerle nur Mittel zum Zweck war. Die hätten ihn ebenso wie all die anderen ohne mit der Wimper zu zucken über die Klinge springen lassen, um ihre Spuren zu verwischen und die eigene Haut zu retten. Damit ist wohl auch klar, wer den Kerlen alles über die geplanten Fluchtversuche gesteckt hat. Die waren demnach immer schon vorher darüber informiert. Wir haben den Jungen zu seiner eigenen Sicherheit eingesperrt. Ein Gericht wird sich später mit ihm befassen und Recht über ihn sprechen müssen, nicht wir“, sagte Steffen abschließend zu diesem Thema. „Was unsere besonderen Freunde unten angeht, sind die hinter den Schotten sicher. Die Kerle werden unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen mit Lebensmitteln und Wasser versorgt. Für die Verwundeten wurde etwas vom restlichen Verbandsmaterial ebenfalls durch den schmalen Spalt am Schott durchgereicht, was daraufhin gleich wieder geschlossen wurde. Denn so schießwütig, wie einige von denen immer noch sind, wäre es Selbstmord dort reingehen zu wollen, um die Verletzten medizinisch zu versorgen.“
„Unser Problem besteht jetzt darin, dass wir die Kerle da draußen auf der Jacht so lange wie möglich im Glauben lassen, dass hier alles in bester Ordnung ist. Anderenfalls müssen wir sie von der Flucht abhalten, bis die Einsatzkräfte eintreffen und alles Weitere übernehmen“, fuhr Ralf nahtlos fort.
„Der Kapitän hat uns netterweise die Kabinen nahe der Brücke zur Verfügung gestellt.“ Jens überlegte einen Moment. „Wir werden diese zu je drei Mann beziehen und Wachen aufstellen, damit jeder auch wieder die Gelegenheit bekommt, etwas zu schlafen, um zu Kräften zu kommen und seine Wunden zu lecken. Trotzdem herrscht ständige Funkbereitschaft, also lasst die Headsets auf Empfang.“
„Und ich?“ Romana sah ihn fragend an. „Für die verletzten Besatzungsmitglieder zu sorgen, ist das eine. Dafür habe ich genügend Helfer hier an Bord. Allerdings bräuchten wir endlich das mitgebrachte Zeug, was noch auf der >El Warda< ist. Ich habe also freie Kapazitäten. Oder gehöre ich jetzt plötzlich nicht mehr mit zu der Truppe?“
Steffen musste lächeln. „Klar, gehörst du mit zur Truppe, Romy. Auf dich würden wir um nichts in der Welt verzichten wollen. Nur … du bekommst hier wieder eine eigene Kabine und Koje. Aber in die Wache werden wir dich nicht einbeziehen, oder hast du auch so eine tiefe Stimme drauf, um die Kerle am Funk zu täuschen, dass du der Boss hier auf dem Schiff bist?“
Romana zog die Schultern hoch und blickte in die Gesichter der Männer, die sie verschmitzt anlächelten. „Okay, ich gebe es ja zu. Ihr habt gewonnen, Jungs, denn das kann ich wirklich nicht.“
Die Männer mussten herzhaft lachen.
„Wow, dass ich das noch erleben darf. Endlich mal etwas, was du nicht kannst“, bemerkte Uwe belustigt. Als Antwort bekam er ihre herausgestreckte Zunge zu sehen, was erneutes Gelächter hervorrief. Einige versuchten, sich wegen ihrer Wunden mit schmerzverzerrten Gesichtern das Lachen zu verkneifen. Doch vergeblich.
„Seht ihr, das habt ihr nun davon.“ Romana grinste schadenfroh. Noch vor wenigen Tagen hätte sie anders reagiert. Doch die Zeit mit diesen Männern und den gemeinsamen Erlebnissen hatten sie verändert. Sie war härter zu ihnen und sich selbst geworden. Ihre Art von Humor hatte sich dem der Männer angepasst. Sie steckte Dinge weg, die sie früher nie geglaubt hätte, durchstehen zu können. Diese Männer hatten ihr ein bis dahin fremdes, völlig neues, nicht alltägliches Leben gezeigt. Ihr Vorbild hatte sie gelehrt, über sich hinauszuwachsen, zu kämpfen und zu überleben. Als sie sich dies vergegenwärtigte, betrachtete sie gedankenversunken und dankbar einen nach dem anderen. Zum Schluss blieb ihr Blick auf Ralfs Gesicht haften.
„Okay, Pitt und Rainer, ihr übernehmt die erste Schicht auf der Brücke, allen anderen wünsche ich einen guten und hoffentlich ruhigen Schlaf. Aber denkt daran, ihr habt Bereitschaft.“ Steffen holte mit diesen Anweisungen auch Ralf und Romana zurück in die Wirklichkeit. „Damit ist die Besprechung beendet.“
Der erste Offizier gab der jungen Frau, die er heimlich bewunderte, ihr Headset zurück, das sie dankend entgegennahm und wieder, ganz Profi, gleich aufsetzte.
Alle zogen sich in die zugewiesenen Kabinen zurück, legten sich müde auf die Kojen und ruhten sich aus.
Ralf teilte sich die Kajüte mit Steffen und Jens, wie sie es schon im Hotelzimmer taten. Nachdem sie sich hingelegt hatten, wandte sich Steffen zu Ralf um, der die gegenüberliegende Koje belegte und sah ihn forschend an. „Das ist doch alles Quatsch. Denkst du nicht auch?“
„Was meinst du?“ Ralf wusste nicht, worauf Steffen hinauswollte.
„Wir sind nur gute Freunde“, äffte dieser Ralf nach. „Da glaubst du doch selbst nicht dran. Seid ihr wirklich sicher, dass ihr nur das seid? Alle hier sehen mehr darin. Nur ihr benehmt euch wie kleine Kinder. Es wird Zeit, dass ihr endlich euch selbst gegenüber mal ehrlich seid und eure Gefühle füreinander zugebt.“
„Meinst du wirklich?“, fragte Ralf verunsichert.
„Ja, das meinen nicht nur ich, sondern wir alle. Außerdem sieht es sogar ein Blinder mit nem Krückstock.“ Jens schüttelte amüsiert den Kopf. „Das Beste wäre, du machst den Anfang und sagst ihr, was du für sie empfindest.“
„Und das am besten gleich jetzt. Das Elend ist ja nicht mehr mit anzusehen. So wie ihr euch nur anschmachtet“, ermunterte ihn Steffen, bevor er nachdenklich fortfuhr: „Wer weiß, ob du noch einmal die Chance dazubekommst. Du weißt, was wir noch vor uns haben.“
Eine Weile grübelte Ralf darüber nach, was seine besten Freunde gerade von sich gegeben hatten. „Ihr habt recht, Jungs. Ich gehe sofort zu ihr“, entschied er dann und erhob sich von seiner Koje.
„Das wird aber auch langsam Zeit“, schnaubten Jens und Steffen im Chor, drehten sich zur Wand und versuchten ein wenig zu schlafen, bevor sie ihre Wache antreten mussten.
Leise verließ Ralf die Kabine. Er konnte nicht mehr sehen, wie seine beiden Freunde zufrieden lächelten.
62
Vor Romanas Kabine angekommen, stand die Tür einen Spalt weit offen. „Romy, schläfst du schon?“, fragte Ralf leise in den Raum. Obgleich keine Antwort kam, trat er ein. Seine Freundin lag weder in der Koje noch war sie im Raum oder dem kleinen Sanitärtrakt zu finden.
Romy, wo bist du denn nur, dachte er besorgt. Musste er doch unwillkürlich an ihren Unfall auf der >El Warda< denken. Doch er wollte nicht gleich seine Kameraden mobilisieren, indem er sie übers Headset rief. Er erinnerte sich, was sie ihm erzählt hatten, als sie auf der Krankenstation gewesen waren. Mit einem Mal wusste er, wo er zu suchen hatte. So schnell er konnte, hetzte er die Stufen nach unten, um zu jener Kabine zu gelangen, die Romana ein Jahr lang mit ihrer besten Freundin Lisa geteilt hatte.
Doch auch diese Kabine war leer.
Wo sollte er nur auf der riesigen Blue Sea weitersuchen? Ratlos trat er auf den Gang zurück.
„Ralf, suchst du Romy?“ Isabel stand vor ihm und schaute ihn aus ihren großen dunklen Augen an.
„Ja. Hast du sie gesehen oder weißt vielleicht, wo sie jetzt ist?“, fragte er besorgt, dabei umfasste er die schmalen Schultern der zierlichen Meeresbiologin.
„Sie war vorhin noch bei Pepe, um sich seine Wunden noch einmal anzuschauen und zu versorgen. Sie wollte von mir wissen, in welchem der Kühlräume Lisa liegt.“
„Und in welchem liegt sie?“
„In der Drei. Wir haben da extra die Lebensmittel raus …“ Weiter kam sie nicht. Isabel sah Ralf verwundert nach, wie er in besagte Richtung rannte, als ginge es um Leben und Tod.
Leise öffnete er die Tür zum Kühlraum und schob erst nur seinen Kopf durch den Spalt. Inmitten des kalten Raumes stand Romana über die Leiche der Freundin gebeugt. Sie hatte bereits die längliche Wunde vom Unterleib bis hin zur Brust vernäht und ihren Körper gewaschen. Sie begann gerade damit, Lisas Leichnam anzukleiden. Dicke Tränen rollten dabei über ihre Wangen und tropften auf den Körper der Toten.
„Darf ich dir helfen?“, fragte Ralf leise. Noch unsicher, wie sie darauf reagieren würde, trat er in die Kühlkammer. „Sie war doch auch für mich eine gute Kollegin und Freundin.“ Ohne Romanas Antwort abzuwarten, stellte er sich auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und half ihr, Lisa den Lieblingspullover überzustreifen.
Dankbar sah Romana zu ihm auf.
„Das war ihr Glückspullover. Wusstest du das?“, sagte sie tränenerstickt. „Nur hat sie ihn wohl an diesem Tag nicht getragen, als sie ihn am nötigsten gebraucht hätte.“ In dem Moment gewannen ihre Gefühle die Überhand.
„Ralf, ich will diesen Schweinen in die Gesichter sehen. Versprich mir, dass du sie mir bringst“, brachte sie laut schluchzend und bitterlich weinend unter Tränen hervor. Ralf trat um den Tisch, auf dem ihre gemeinsame Freundin lag, auf sie zu und nahm sie fest in seine Arme. „Ja, das verspreche ich dir. Wir kriegen diese Kerle und wir werden sie dir bringen. Jeden Einzelnen von ihnen.“ Versprach er und küsste ihre Tränen fort.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigte. Gemeinsam schoben sie Lisas Leichnam in das Kühlfach zurück, damit Familie und Freunde zu Hause auch noch von ihr Abschied nehmen und danach mit allen Ehren bestatten konnten.
Während sie zurück zu ihrer Kabine gingen, hielt Ralf die geliebte Frau noch immer fest und beschützend im Arm. „Romy, ich werde dich nie mehr hergeben oder loslassen“, flüsterte er und wischte ihr sanft die Tränen von den Wangen. „Auch wenn wir eigentlich eine Abmachung haben, muss ich dir was gestehen. … du bedeutest mir mehr als mein Leben, ich liebe dich über alles.“
Romana lächelte ihn an. Ihr tränen verschleierter Blick suchte seine Augen. „Ich dich auch“, gestand sie, erleichtert darüber, es ihm endlich sagen zu können. Sie schloss die Lider, fühlte seine wohltuenden Lippen auf ihren und vergaß für diesen Moment all das Leid um sich herum.
Einige Zeit später schlief sie in seinen Armen ruhig in ihrer Koje ein.
Fortsetzung folgt
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