fossie
Mitglied
Georg saß im Zug und schaute zu, wie die Landschaft an ihm vorbeizog. Es wurde immer dunkler draußen und er konnte sie nur noch schemenhaft wahrnehmen. Spätestens, wenn er die Grenze bei Konstanz erreichen würde, wäre es Nacht. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, denn er versuchte sich abzulenken.
Er war schockiert, konnte nicht glauben, wie leicht das alles in seinem Land gegangen war. Da kam einer mit seinen Anhängern und erzählte ihnen etwas von „Arbeit für alle“ und dass er Deutschland wieder zur Größe verhelfen wolle, „Alles für Deutschland“ verkündete er wie ein Heilsprediger. Wahrscheinlich hielt sich dieser gottlose Mensch für einen Messias.
Auch Jesus hatte Anhänger, aber ganz im Gegensatz zu diesem H. predigte er Liebe unter den Menschen, glaubte an das Gute in ihnen. Für seine Ideale ist er am Kreuz gestorben.
Noch einmal ließ er die Gründe für seine Tat Revue passieren. Noch vor einigen Jahren verdiente er in der Uhrenfabrik in Konstanz durchschnittlich 50 Reichsmark in der Woche. Die Abgaben hielten sich mit 5 Reichsmark in Grenzen. Darunter fielen Steuern, Krankenkasse, Arbeitslosenunterstützung und Invalidenmarken. Und jetzt? Jetzt lagen sie bereits bei insgesamt 25 Reichsmark wöchentlich, eine satte Steigerung. Was ihn daran ärgerte, waren die gesunkenen Löhne. Arbeit für alle, hatte dieses Regime versprochen, aber man hatte das Volk belogen und ihnen nicht gesagt, dass man weniger verdiente. Eine nationale Revolution hatte man propagiert, das Gegenteil war der Fall. Die Verhältnisse der Arbeiterschaft hatten sich gravierend verändert.
Ob man mit ihm ähnlich wie bei Jesus am Kreuz verfahren würde, daran verschwendete Georg im Augenblick keinen Gedanken. So präzise und genau er vorgearbeitet hatte, musste es gelingen. Denn er war Zeit seines bisherigen Lebens ein Perfektionist. Dabei war er ein Mensch, dem man es nie zugetraut hätte, so eine Tat zu vollbringen. Still und bescheiden, von der Statur her eher unscheinbar. Schmächtig und klein kam er daher. Aber auch in sich manchmal widersprüchlich, denn wenn er sich in Gesellschaft befand, fühlte er sich öfters wie der Hahn im Korb. Ja, er hatte Beziehungen zu anderen Frauen, sogar ein Kind. Aber Georg brauchte trotzdem keine Stetigkeit in seinem Leben. Immer war er wechselte er die Arbeitsstelle, wollte mehr selbständig etwas schaffen in seinem Beruf, hasste es, wenn man versuchte ihm hinzureden. Nur aus der eigenen Freiheit war er fähig, etwas Großes zu machen. Wenn er in seinem Beruf als Schreiner an Möbelstücken arbeitete, dann fühlte er sich als Künstler.
Er blickte wieder aus dem Fenster, konnte nur Konturen von Bäumen und Büschen erkennen, die in großer Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Ja, so frei wie sie wollte er sein und auch nach dem, was er getan hatte, bleiben.
Und wieder kehrten seine Gedanken zurück. H. belog sie von Anfang an, dachte Georg, auch wenn er ihnen versprach, dass keiner mehr arbeitslos sein würde, es müsse niemand mehr hungern. So sagten sie. Vor allem deutsche Bürger würden vom Nationalsozialismus profitieren. Deutsch, ja, ein aufrechter Deutscher müsse man sein. Deutschland würde man wieder groß machen. Alles unerträgliche Lügen! Er hasste diesen Abschaum und das schon länger. Als sie das erste Mal in der Öffentlichkeit auftauchten und ihre schrecklichen Parolen verbreiteten, hielt er sich nach den ersten Sätzen die Ohren zu. Vor allem das schrille und aggressive Geschrei ihres Anführers jagte dem jungen Mann Angst ein. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, denn er versuchte sich abzulenken und dachte dabei an seine Mutter. Sie nahm es einfach hin, gab keinen Kommentar dazu ab. Auch sie hatte den Schreihälsen nicht widersprechen wollen. Sie sagte einfach: „Es wird schon nicht so schlimm werden, Gott wird es in richtige Bahnen lenken.“ Immer, wenn sie Zweifel hatte oder nicht wusste, wie es weiterging, vertraute sie auf Gott, denn sie und auch Georgs Geschwister waren tiefreligiös. Für sie ein Halt in diesen schwierigen Zeiten. Sein Stiefvater dagegen suchte Trost und Schutz im Alkohol, bekam sowieso nichts mehr mit. War er einmal nüchtern, sagte er: „Sollen sie doch mal rankommen. Dann wird man schon sehen, ob es nur heiße Luft war, was sie versprochen haben.“
Seine politische Einstellung war nur sekundär für ihn. Am Ehesten konnte er sich noch als Sozialist bezeichnen. Obwohl, was war das schon – irgendeine Kategorie, wie es ja Mode war, sich einer ideologischen Richtung anzuschließen. Was er auf jeden Fall wusste, war, dass dieser Führer mit seiner Mörderbande garantiert nichts mit Sozialismus am Hut hatte, allenfalls war er ein Nationalist. Allüberall stellte er eine Unzufriedenheit unter seinen Arbeiterkollegen fest, keinerlei Einverständnis mit dem, was ihnen diese Regierung versprach. „Es ist eine ausgesprochene Wut, die man ihnen entgegenbringt“, dachte er, während er, ohne es zu wollen, gedanklich weggetreten, wieder hinausschaute in die weite nächtliche Landschaft.
Und, was noch schlimmer war, Georg dachte daran, so hatte er im Herbst 1938 festgestellt, dass in der Arbeiterschaft offensichtlich mit einem Krieg gerechnet wurde. Dieser Meinung hatte er sich angeschlossen. Hitler ist ein Synonym für Krieg.
Hoffentlich zahlt sich meine Vorarbeit im Bürgerbräukeller aus, hoffentlich erwischt es dort endlich die Nazi-Bande, dachte er. Drei Monate hatte er sich die Nächte um die Ohren geschlagen, sich am Ort des vermeintlichen Geschehens über Nacht einsperren lassen, nur, um akribisch Vorbereitungen für den bestimmten Tag zu treffen. Es werden bestimmt andere das Ruder übernehmen, wenn er H. und seine Schergen weggesprengt hatte. Andere, die vielleicht die Zeichen der Zeit erkennen würden und für dauerhafte Friedensverhandlungen sorgen würden. „Den Hitler sprenge ich in die Luft“, nahm er sich fest vor. Er darf nicht überleben. Georg erinnerte sich wieder. Als er mit einem seiner wenigen Freunde in Königsbronn in der Gastwirtschaft saß, übertrugen sie im Radio eine der Hetzreden des selbsternannten Führers. Spätestens nach zwei Sätzen stand er auf und verließ wortlos den Ort. Genauso ärgerte er sich über diesen Unsinn, dass man die Hakenkreuzfahne grüßen sollte. Nichts weiter als einen Fetisch bedeutete es für ihn. Einmal drehte er sich einfach um und sagte dazu: „Leck mich doch am Arsch.“ Er musste jetzt im Nachhinein selbst darüber lachen, obwohl er damals eigentlich nur wütend war. War er deswegen gleich ein Rebell, fragte er sich. Er wusste nicht, was es an Hitler war, was ihn störte, er wusste nur, dass es ihm innerlich alles zusammenzog. War es Angst? War es das ungewisse Grauen, das im Verborgenen darauf wartete, ein ganzes Land ins Verderben zu schicken? Er hörte von der Machtübernahme dieses Menschen, konnte es zwar nicht im Fernsehen so bequem wie heute verfolgen. Dennoch reichte seine Vorstellungskraft aus, um zu sehen, wie sich dieser Kerl von seinen Schergen feiern ließ. Wie er später bei flotter Marschmusik die Parade seiner Soldaten abnahm, die an ihm mit dem Hitlergruß vorbeidefilierten. Niemals würde er ihm diese Ehrerbietung leisten, niemals würde er für ihn in den Krieg ziehen. Er war keiner, der sich für ein sinnloses Unterfangen verheizen ließ.
Und jetzt kam ihm auch wiederum jener eigentliche Grund für sein Handeln in den Sinn. Für Georg bedeutete der Krieg etwas Unheilvolles, was das Leben jedes Einzelnen sehr tief berührte und vor allem gravierend veränderte.
Deshalb der Versuch eines Attentats, damit Deutschland wieder zur Ruhe käme, unter vernünftigen Politikern, keine Schreihälse mehr. Dennoch kam es anders, nur wusste Georg zunächst nichts davon.
Jetzt im vermeintlich sicheren Zugabteil wurde er dennoch leicht sentimental und musste an seine Familie denken. Wie es ihnen wohl ging? Der Vater war ihm egal geworden, aber seine Mutter. Was würde sie wohl jetzt von ihm denken, wenn sie wüsste, was er vorgehabt hatte. Schon damals hatte sie ihm geschrieben, dass der Vater immer mehr saufe und dass er einen Acker nach dem anderen verkaufe. Damit wolle er seine Schulden bezahlen, die vom Holzhandel und seiner Alkoholsucht herrühre. Der Vater hätte Holz zu hoch ersteigert und es mit Verlust wieder weiterverkauft. Er soll dabei angeblich sogar unter Alkoholeinfluss gestanden haben. Sein Vater sei einfach weiter uneinsichtig, schrieb ihm die Mutter. Einmal nach sieben Jahren war Georg nach Hause zurückgekehrt, weil ihn seine Mutter dazu gedrängt hatte, er sei ihre einzige Hoffnung gewesen. Indes, es war erfolglos. Auch Georg konnte sich nicht mehr durchsetzen und ging wieder in die Fremde.
Hier im Zug kam ihm auch wieder die Androhung Hitlers gegen die Tschechoslowakei in den Sinn, sie mit Krieg zu überziehen. Nicht nur Hitler stieß in dieses Horn, auch diese Hetzkampagnen der Presse ekelten ihn an. Immer ging es gegen das Nachbarland. Georg war sich sicher, dass die Ausradierung Hitlers nur einer von mehreren Schritten war, um die Verhältnisse der Arbeiterschaft zu verbessern und dadurch einen Krieg zu vermeiden. Seine Gedanken kreisten, wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißt. Dann werden seine Überlegungen unterbrochen, ein Bediensteter der Eisenbahn kommt herein, macht die wenigen Fahrgäste darauf aufmerksam, dass man sich Konstanz mit Riesenschritten nähere. Eine Fahrkarten-Kontrolle folgt. Dann wünscht er eine gute Weiterreise.
Wenn Georg so über sich nachdachte, dann war er eigentlich kein Kommunist, auch wenn das andere vielleicht so sahen. Er wählte zwar die KPD, das war es aber auch schon. Nur in seinem Innersten bildete sich langsam der Entschluss, auf den Terror dieser Nazis mit Gewalt zu antworten. Es schien für ihn eine wirksame Alternative zu sein.
Jetzt fuhr der Zug wieder etwas langsamer, ein Zeichen, dass man in wenigen Minuten im Bahnhof seines Zieles einfahren würde.
Als er ausstieg, atmete er die kühle Abendluft ein. Dann ging er zu Fuß los in Richtung Schweiz. Er ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein Vorhaben gescheitert war. Da hörte er eine Stimme hinter ihm, die ihm zurief, er solle stehenbleiben. Ein Zöllner hatte ihn entdeckt.
Erst fünf Jahre später hatte man ihn hingerichtet, kurz vor der Kapitulation der Nazis.
Er war schockiert, konnte nicht glauben, wie leicht das alles in seinem Land gegangen war. Da kam einer mit seinen Anhängern und erzählte ihnen etwas von „Arbeit für alle“ und dass er Deutschland wieder zur Größe verhelfen wolle, „Alles für Deutschland“ verkündete er wie ein Heilsprediger. Wahrscheinlich hielt sich dieser gottlose Mensch für einen Messias.
Auch Jesus hatte Anhänger, aber ganz im Gegensatz zu diesem H. predigte er Liebe unter den Menschen, glaubte an das Gute in ihnen. Für seine Ideale ist er am Kreuz gestorben.
Noch einmal ließ er die Gründe für seine Tat Revue passieren. Noch vor einigen Jahren verdiente er in der Uhrenfabrik in Konstanz durchschnittlich 50 Reichsmark in der Woche. Die Abgaben hielten sich mit 5 Reichsmark in Grenzen. Darunter fielen Steuern, Krankenkasse, Arbeitslosenunterstützung und Invalidenmarken. Und jetzt? Jetzt lagen sie bereits bei insgesamt 25 Reichsmark wöchentlich, eine satte Steigerung. Was ihn daran ärgerte, waren die gesunkenen Löhne. Arbeit für alle, hatte dieses Regime versprochen, aber man hatte das Volk belogen und ihnen nicht gesagt, dass man weniger verdiente. Eine nationale Revolution hatte man propagiert, das Gegenteil war der Fall. Die Verhältnisse der Arbeiterschaft hatten sich gravierend verändert.
Ob man mit ihm ähnlich wie bei Jesus am Kreuz verfahren würde, daran verschwendete Georg im Augenblick keinen Gedanken. So präzise und genau er vorgearbeitet hatte, musste es gelingen. Denn er war Zeit seines bisherigen Lebens ein Perfektionist. Dabei war er ein Mensch, dem man es nie zugetraut hätte, so eine Tat zu vollbringen. Still und bescheiden, von der Statur her eher unscheinbar. Schmächtig und klein kam er daher. Aber auch in sich manchmal widersprüchlich, denn wenn er sich in Gesellschaft befand, fühlte er sich öfters wie der Hahn im Korb. Ja, er hatte Beziehungen zu anderen Frauen, sogar ein Kind. Aber Georg brauchte trotzdem keine Stetigkeit in seinem Leben. Immer war er wechselte er die Arbeitsstelle, wollte mehr selbständig etwas schaffen in seinem Beruf, hasste es, wenn man versuchte ihm hinzureden. Nur aus der eigenen Freiheit war er fähig, etwas Großes zu machen. Wenn er in seinem Beruf als Schreiner an Möbelstücken arbeitete, dann fühlte er sich als Künstler.
Er blickte wieder aus dem Fenster, konnte nur Konturen von Bäumen und Büschen erkennen, die in großer Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Ja, so frei wie sie wollte er sein und auch nach dem, was er getan hatte, bleiben.
Und wieder kehrten seine Gedanken zurück. H. belog sie von Anfang an, dachte Georg, auch wenn er ihnen versprach, dass keiner mehr arbeitslos sein würde, es müsse niemand mehr hungern. So sagten sie. Vor allem deutsche Bürger würden vom Nationalsozialismus profitieren. Deutsch, ja, ein aufrechter Deutscher müsse man sein. Deutschland würde man wieder groß machen. Alles unerträgliche Lügen! Er hasste diesen Abschaum und das schon länger. Als sie das erste Mal in der Öffentlichkeit auftauchten und ihre schrecklichen Parolen verbreiteten, hielt er sich nach den ersten Sätzen die Ohren zu. Vor allem das schrille und aggressive Geschrei ihres Anführers jagte dem jungen Mann Angst ein. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf, denn er versuchte sich abzulenken und dachte dabei an seine Mutter. Sie nahm es einfach hin, gab keinen Kommentar dazu ab. Auch sie hatte den Schreihälsen nicht widersprechen wollen. Sie sagte einfach: „Es wird schon nicht so schlimm werden, Gott wird es in richtige Bahnen lenken.“ Immer, wenn sie Zweifel hatte oder nicht wusste, wie es weiterging, vertraute sie auf Gott, denn sie und auch Georgs Geschwister waren tiefreligiös. Für sie ein Halt in diesen schwierigen Zeiten. Sein Stiefvater dagegen suchte Trost und Schutz im Alkohol, bekam sowieso nichts mehr mit. War er einmal nüchtern, sagte er: „Sollen sie doch mal rankommen. Dann wird man schon sehen, ob es nur heiße Luft war, was sie versprochen haben.“
Seine politische Einstellung war nur sekundär für ihn. Am Ehesten konnte er sich noch als Sozialist bezeichnen. Obwohl, was war das schon – irgendeine Kategorie, wie es ja Mode war, sich einer ideologischen Richtung anzuschließen. Was er auf jeden Fall wusste, war, dass dieser Führer mit seiner Mörderbande garantiert nichts mit Sozialismus am Hut hatte, allenfalls war er ein Nationalist. Allüberall stellte er eine Unzufriedenheit unter seinen Arbeiterkollegen fest, keinerlei Einverständnis mit dem, was ihnen diese Regierung versprach. „Es ist eine ausgesprochene Wut, die man ihnen entgegenbringt“, dachte er, während er, ohne es zu wollen, gedanklich weggetreten, wieder hinausschaute in die weite nächtliche Landschaft.
Und, was noch schlimmer war, Georg dachte daran, so hatte er im Herbst 1938 festgestellt, dass in der Arbeiterschaft offensichtlich mit einem Krieg gerechnet wurde. Dieser Meinung hatte er sich angeschlossen. Hitler ist ein Synonym für Krieg.
Hoffentlich zahlt sich meine Vorarbeit im Bürgerbräukeller aus, hoffentlich erwischt es dort endlich die Nazi-Bande, dachte er. Drei Monate hatte er sich die Nächte um die Ohren geschlagen, sich am Ort des vermeintlichen Geschehens über Nacht einsperren lassen, nur, um akribisch Vorbereitungen für den bestimmten Tag zu treffen. Es werden bestimmt andere das Ruder übernehmen, wenn er H. und seine Schergen weggesprengt hatte. Andere, die vielleicht die Zeichen der Zeit erkennen würden und für dauerhafte Friedensverhandlungen sorgen würden. „Den Hitler sprenge ich in die Luft“, nahm er sich fest vor. Er darf nicht überleben. Georg erinnerte sich wieder. Als er mit einem seiner wenigen Freunde in Königsbronn in der Gastwirtschaft saß, übertrugen sie im Radio eine der Hetzreden des selbsternannten Führers. Spätestens nach zwei Sätzen stand er auf und verließ wortlos den Ort. Genauso ärgerte er sich über diesen Unsinn, dass man die Hakenkreuzfahne grüßen sollte. Nichts weiter als einen Fetisch bedeutete es für ihn. Einmal drehte er sich einfach um und sagte dazu: „Leck mich doch am Arsch.“ Er musste jetzt im Nachhinein selbst darüber lachen, obwohl er damals eigentlich nur wütend war. War er deswegen gleich ein Rebell, fragte er sich. Er wusste nicht, was es an Hitler war, was ihn störte, er wusste nur, dass es ihm innerlich alles zusammenzog. War es Angst? War es das ungewisse Grauen, das im Verborgenen darauf wartete, ein ganzes Land ins Verderben zu schicken? Er hörte von der Machtübernahme dieses Menschen, konnte es zwar nicht im Fernsehen so bequem wie heute verfolgen. Dennoch reichte seine Vorstellungskraft aus, um zu sehen, wie sich dieser Kerl von seinen Schergen feiern ließ. Wie er später bei flotter Marschmusik die Parade seiner Soldaten abnahm, die an ihm mit dem Hitlergruß vorbeidefilierten. Niemals würde er ihm diese Ehrerbietung leisten, niemals würde er für ihn in den Krieg ziehen. Er war keiner, der sich für ein sinnloses Unterfangen verheizen ließ.
Und jetzt kam ihm auch wiederum jener eigentliche Grund für sein Handeln in den Sinn. Für Georg bedeutete der Krieg etwas Unheilvolles, was das Leben jedes Einzelnen sehr tief berührte und vor allem gravierend veränderte.
Deshalb der Versuch eines Attentats, damit Deutschland wieder zur Ruhe käme, unter vernünftigen Politikern, keine Schreihälse mehr. Dennoch kam es anders, nur wusste Georg zunächst nichts davon.
Jetzt im vermeintlich sicheren Zugabteil wurde er dennoch leicht sentimental und musste an seine Familie denken. Wie es ihnen wohl ging? Der Vater war ihm egal geworden, aber seine Mutter. Was würde sie wohl jetzt von ihm denken, wenn sie wüsste, was er vorgehabt hatte. Schon damals hatte sie ihm geschrieben, dass der Vater immer mehr saufe und dass er einen Acker nach dem anderen verkaufe. Damit wolle er seine Schulden bezahlen, die vom Holzhandel und seiner Alkoholsucht herrühre. Der Vater hätte Holz zu hoch ersteigert und es mit Verlust wieder weiterverkauft. Er soll dabei angeblich sogar unter Alkoholeinfluss gestanden haben. Sein Vater sei einfach weiter uneinsichtig, schrieb ihm die Mutter. Einmal nach sieben Jahren war Georg nach Hause zurückgekehrt, weil ihn seine Mutter dazu gedrängt hatte, er sei ihre einzige Hoffnung gewesen. Indes, es war erfolglos. Auch Georg konnte sich nicht mehr durchsetzen und ging wieder in die Fremde.
Hier im Zug kam ihm auch wieder die Androhung Hitlers gegen die Tschechoslowakei in den Sinn, sie mit Krieg zu überziehen. Nicht nur Hitler stieß in dieses Horn, auch diese Hetzkampagnen der Presse ekelten ihn an. Immer ging es gegen das Nachbarland. Georg war sich sicher, dass die Ausradierung Hitlers nur einer von mehreren Schritten war, um die Verhältnisse der Arbeiterschaft zu verbessern und dadurch einen Krieg zu vermeiden. Seine Gedanken kreisten, wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißt. Dann werden seine Überlegungen unterbrochen, ein Bediensteter der Eisenbahn kommt herein, macht die wenigen Fahrgäste darauf aufmerksam, dass man sich Konstanz mit Riesenschritten nähere. Eine Fahrkarten-Kontrolle folgt. Dann wünscht er eine gute Weiterreise.
Wenn Georg so über sich nachdachte, dann war er eigentlich kein Kommunist, auch wenn das andere vielleicht so sahen. Er wählte zwar die KPD, das war es aber auch schon. Nur in seinem Innersten bildete sich langsam der Entschluss, auf den Terror dieser Nazis mit Gewalt zu antworten. Es schien für ihn eine wirksame Alternative zu sein.
Jetzt fuhr der Zug wieder etwas langsamer, ein Zeichen, dass man in wenigen Minuten im Bahnhof seines Zieles einfahren würde.
Als er ausstieg, atmete er die kühle Abendluft ein. Dann ging er zu Fuß los in Richtung Schweiz. Er ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein Vorhaben gescheitert war. Da hörte er eine Stimme hinter ihm, die ihm zurief, er solle stehenbleiben. Ein Zöllner hatte ihn entdeckt.
Erst fünf Jahre später hatte man ihn hingerichtet, kurz vor der Kapitulation der Nazis.